Alastair Reynolds: Unendlichkeit

Revelation Space (2000). Science-Fiction-Roman. 2006 in deutsch im Wilhelm Heyne Verlag München erschienen (Heyne Band 52186). Übersetzung von Irene Holicki. Taschenbuch, 768 Seiten.

 

Mitte des 26. Jahrhunderts hat sich die Menschheit mit relativistischen Raumschiffen in die näher gelegenen Sonnen­systeme ausgebreitet und Kolonien gegründet. In Chasm City auf dem Planeten Yellowstone im Espilon-Eridani-Sys­tem lebt die ehemalige Soldatin und Berufskillerin Ana Khouri, die ihre Brötchen damit verdient, lebensmüde Unsterb­liche auf deren eigenen Auftrag hin zu jagen und zu töten. Eines Tages wird Khouri von einer geheimnisvollen Frau, die sich selbst „Mademoiselle“ nennt, für einen besonderen Auftrag angeheuert: Khouri soll aus Gründen, die ihr nicht er­klärt werden, Dan Sylveste ermorden, den berühmtesten Wissenschaftler Yellowstones, der allerdings schon vor meh­reren Jahren in das benachbarte Delta-Pavonis-System gezogen ist, um dort auf dem Planeten Resurgam archäologi­schen Forschungen nachzugehen. Um dorthin zu gelangen, heuert Khouri auf dem mehrere Kilometer langen Raum­schiff Sehnsucht nach Unendlichkeit als Waffenoffizierin an. Die Mannschaft des Schiffs will aus einem anderen Grund nach Resurgam: Ihr im Kälteschlaf befindlicher und mit nanotechnologischen Implantaten aufgerüsteter Captain ist seit Jahren von der „Schmelzseuche“ befallen, einem Computervirus, der üble Wucherungen hervorruft, und nur Dan Sylveste scheint über das Wissen und die Fähigkeiten zu verfügen, den Captain zu kurieren.

 

Auf Resurgam hat Dan Sylveste derweil Ruinen und Artefakte der Amarantin freigelegt, einer vogelähnlichen Spezies, die vor 900.000 Jahren durch einen gewaltigen Energieausbruch von Delta Pavonis ausgelöscht wurde. Die Amarantin hatten damals technologisch an der Schwelle zur Raumfahrt gestanden. War der Strahlungsausbruch womöglich nicht natürlichen Ursprungs, sondern von einem noch höher entwickelten, Jahrmillionen alten Volk ausge­löst worden, um den Aufbruch der Amarantin ins All zu vereiteln? Sylveste findet auf einem steinernen Obelisk Hin­weise dafür, dass der Strahlungsausbruch etwas mit Hades, einem um Delta Pavonis kreisenden Neutronenstern, und dessen Begleitpla­neten Cerberus zu tun hat. Als schließlich die Sehnsucht nach Unendlichkeit im Orbit um Resurgam eintrifft und die Kolonie mit Waffengewalt zwingt, Dan Sylveste an das Schiff auszuliefern, ergreift dieser die Chance, mit der Sehn­sucht nach Hades und Cerberus zu gelangen, um das Rätsel um den Untergang der Amarantin aufzuklä­ren . . .

 

Weltraumdrama zwischen Cyberpunk und Techno-Mystik

 

Unendlichkeit ist der Debütroman des Walisers Alastair Reynolds (geb. 1966), der nach einem Studium der Astrophysik mehrere Jahre lang für die europäische Raumfahrtorganisation ESA gearbeitet hat. Reynoldsʼ Leidenschaft hatte dane­ben jedoch schon immer dem Schreiben von Science-Fiction gegolten, und Unendlichkeit vorausgegangen waren lange Jahre, in denen Reynolds neben seiner Karriere als Physiker beharrlich das Ziel verfolgte, sich mit Kurzgeschich­ten, die in Genrezeitschriften wie der britischen Interzone erschienen, als Science-Fiction-Autor durchzusetzen. Der lang ersehnte Buchvertrag bei einem renommierten Verlag belohnte schließlich die Bemühungen. Un­endlichkeit ern­tete von Seiten der Kritiker viel Lob und wurde auch an den Ladentischen der Buchhändler ein großer Erfolg.

 

Ein Jahr später veröffentlichte Reynolds den Roman Chasm City (2001), der in demselben Universum wie Unendlichkeit spielt, und wurde für dieses Werk prompt mit dem British Science Fiction Award geehrt. Seitdem ist Alastair Reynolds aus der Top-Riege der Science-Fiction-Bestseller nicht mehr wegzudenken und hat sich als meisterhafter Autor von weit in Raum und Zeit ausgreifenden Space Operas etabliert. Sein Revelation Space-Zyklus umfasst inzwischen sechs Romane: Auf Unendlichkeit und Chasm City folgten Die Arche (Redemption Ark, 2002), Offenbarung (Absolution Gap, 2003), Aurora (The Perfect, 2007) und Elysium Fire (2018). Hinzu kommen 13 Novellen und Kurzgeschich­ten. Darüber hi­naus hat Reynolds auch eigenständige Werke wie beispielsweise Himmelsturz (2005) geschrieben, die nicht im Revela­tion Space-Universum spielen.

 

Reynoldsʼ Erstlingswerk ist eine sehr unterhaltsame, spannende und vielseitige Mischung aus Space Opera und Hard-SF, die auf clevere Weise verschiedene Versatzstücke des Genres nutzt, gleichzeitig aber auch mit einer Vielzahl origi­neller Ideen beeindruckt. Es springen zwar durchaus eine Menge Remineszenzen an verschiedene Genreklassiker ins Auge: So erinnert das flirrende, sozial geschichtete und hart anmutende Leben im Schmelztiegel von Chasm City an Ridley Scotts Cyberpunk-Los-Angeles aus Bladerunner (1982), der tiefgefrorene und sporadisch konsultierte Captain des Raumschiffs Sehnsucht nach Unendlichkeit lässt an den tiefgefrorenen Captain aus John Carpenters Dark Star (1974) denken, die düsteren, verrotteten und teilweise knöcheltief unter Wasser stehenden Korridore des Raumschiffs evozieren den Dark-and-gritty-Look der Nostromo aus Ridley Scotts Alien (1979), und die für Absprünge über Planeten geeigneten Super-Raum­anzüge haben entsprechende Vorbilder in Robert A. Heinleins Sternenkrieger (1959). Die soge­nannten „Musterschieber“, eine Spezies von bewusstseinserweiternden Ozeanwesen, verweisen überdeutlich auf Sta­nislaw Lems denkenden Ozeanplaneten Solaris (1961). Doch all diese ehrenden Genre-Anleihen werden zumeist sehr geschickt und sinnvoll in das Universum eingepasst, das Reynolds in seinem Roman ent­wirft.

 

Dieses Universum, das 26. Jahrhundert der in den interstellaren Raum aufgebrochenen Menschheit, ist eine ganz er­staunliche und vielgestaltige Welt, und hier, in ihrer Komposition, offenbart sich denn auch Reynoldsʼ sprühender Ein­fallsreichtum. Technologisch, vor allem nano- und biotechnologisch, ist die Entwicklung extrem weit vorangeschritten, sodass selbst bizarrste Transformationen des technologisch aufgerüsteten Menschen zum ganz normalen Alltag gehö­ren – bis hin zur vollständigen Digitalisierung des Ichs auf künstlichen Datenträgern. Völlig fremd wirken diese Men­schen der Zukunft auf den Leser, wobei die grellen Cyberpunk-Moden, mit denen sich die Charaktere kleiden, frisieren und tätowieren, die Distanz noch erheblich vergößern. Allerdings wirkt dies sehr glaubwürdig: Die Men­schen des 26. Jahrhunderts werden uns wahrscheinlich wirklich nicht mehr sehr ähnlich sein, und wir hätten, könnten wir ihnen be­gegnen, mit Sicherheit große Probleme, sie selbst und ihre Lebensrealität zu begreifen.

 

In Reynoldsʼ 26. Jahrhundert sind nicht nur technologisch erweiterte Menschen das Normale, diese Menschen müssen sich auch mit neuen Zivilisationskrankheiten wie der „Schmelzseuche“, einem Cybervirus, herumschlagen, der die Na­nobots im Körper umprogrammiert und zu üblen Wucherungen anreizt. Die Schmelzseuche hat offenbar auf allen von Menschen bewohnten Planeten und Raumschiffen eine schwere Krise heraufbeschworen: Chasm City ist ein halb ver­fallenes Moloch, in dem selbst die einstigen High-Tech-Hochhäuser Geschwüre und Wucherungen gebildet haben, da ihre Selbstreparatur-Systeme Opfer der Seuche wurden; große Bereiche des gigantischen und Jahrhunderte alten Raumschiffs Sehnsucht nach Unendlichkeit sind ebenfalls befallen, werden nicht mehr genutzt und sind dementspre­chend heruntergekommen; und auf dem Planeten Skyʼs Edge wüten seit Jahrhunderten schlimme Bürgerkriege. Ethisch ist die Menschheit offensichtlich keinen Schritt vorangekommen, und gesellschaftlich scheint nach wie vor ein mitleidloser, wirtschaftsliberaler Kapitalismus zu regieren. Es ist eine recht düstere, dystopische Welt, die Reynolds ausmalt.

 

Interessant sind auch die übrigen Details des Revelation Space-Universums. Anders als in den meisten anderen Space Operas gibt es für die mit Fast-Lichtgeschwindigkeit fliegenden Raumschiffe keine bequemen Abkürzungen durch einen Hyperraum, sodass die Menschheit sich bisher nur auf die nächstgelegenen Sonnensysteme ausbreiten konnte und dafür jahrzehntelange Reisen in Kauf nehmen musste. In den Leistungen der höher entwickelten außerirdischen Völker – der „Schleierweber“ und insbesondere der „Unterdrücker“, die einst die ganze Galaxis beherrschten – deutet sich gleichwohl an, dass die Hyperraumfahrt von den Menschen bislang nur noch nicht gemeistert wurde. Manche Ideen von Reynolds wirken allerdings recht unglaubwürdig. Da gibt es zum Beispiel die superintelligenten „Syntheti­ker“, Menschen, die sich ihre Gehirne nanotechnologisch extrem hochgerüstet haben, sodass sie eine mentale Stufen­leiter höher zu steigen vermochten – hin zu einer Art „Transrationalismus“ (vgl. S. 125 f.). Die Synthetiker hatten der­einst den Interstellar-Antrieb entwickelt, aber da nur sie ihn auch verstehen, ist das Wissen über diese Technologie ihr ex­klusiver Schatz. Doch ist ein technologisches System der simplen Beschleunigung von Masse auf Fast-Lichtge­schwin­digkeit wirklich so viel komplizierter als die extrem komplexen Metamorphosen, zu denen die offenbar univer­sell verbreitete und beherrschte Nanotechnologie fähig ist? Ilia Volyova beispielsweise gelingt es gegen Ende des Buchs mühelos, die selbstreparierenden Systeme eines vier Kilometer langen Raumschiffs umzuprogrammieren und auf die­sem Wege das Schiff zu einem völlig neuen, sich selbst umschaffenden Artefakt werden zu lassen. Das ist dann doch zuviel des Fantastischen.

 

Überhaupt erhält hier wie auch in den späteren Romanen von Alastair Reynolds das unglückliche, momentan leider sehr modische Mittel der allvermögenden Nanotechnologie ein hohes Gewicht. Mit ihr wird praktisch jedes technische Problem im Handumdrehen gelöst, und sie wird so ein für den Autor allzu bequemer deus ex machina. Es mag konse­quent sein, in Nanobots die technologische Zauberformel von morgen zu sehen. Erzähltechnisch halte ich diesen Kniff dennoch für heikel, wirkt doch diese Technologie allzu sehr wie Fantasy und strapaziert die Glaubwürdigkeit allzu arg. Gewiss: Dem berühmten dritten Clarkeschen Gesetz zufolge sollte uns jede extrem hochentwickelte, von uns noch unverstandene Technologie von morgen als pure Magie erscheinen. Doch sind damit bereits alle Ad-hoc-Wunder, die der Leser zu schlucken hat, hinlänglich entschuldigt? Anders verhält es sich mit den Supertechnologien der Aliens, die den menschlichen immerhin um Jahrmillionen voraus sein sollen; dass sie wie reine Zauberei wirken, ist ohne Weiteres einleuchtend.

 

Ein gewichtiger Mangel des Romans liegt in der Zeichnung der Figuren. Die Charaktere mögen aufgrund der zeitlichen Distanz fremdartig und bizarr erscheinen, doch weitaus problematischer ist, dass sie ausnahmslos als unsympathische, rücksichtslos verschlagene und völlig gefühlskalte Egomanen dargestellt werden. Jeder von ihnen ist in der Lage, ohne mit der Wimper zu zucken andere Menschen umzubringen und anschließend noch lakonische Sprüche darüber zu rei­ßen – berührt oder gar erschüttert werden sie von ihren Mordtaten nicht. Zu einem derart verrohten Personal entsteht kaum Nähe. Auch handeln die Figuren oft unlogisch und sprunghaft, sodass kein einziger Charakter wirklich stimmig erscheint. Ilia Yolyova beispielsweise stochert zunächst in einer blutig ausgemalten Operation in Khouris Schädel herum, um dort „Gehorsams-Implantate“ einzupflanzen; als Khouri später davon erfährt, hat sie damit überhaupt kein Problem, lacht nur darüber, und beide Frauen werden trotzdem enge Freundinnen.

 

Stimmiger werden die Figuren erst, als sie gegen Ende des Romans damit aufhören, sich gegenseitig zu belauern und umzubringen, und stattdessen zusammenhalten, um gemeinsam das wissenschaftliche Rätsel zu lösen, das ihnen das Geheimnis von Cerberus und Hades aufgibt und für das sie in echtem Forschergeist entflammt sind. Hier zeigt sich dann auch, dass Reynolds all die Mord- und Totschlaggeschichten wahrscheinlich gar nicht nötig gehabt hätte, um seinem Roman Spannung zu vermitteln.

 

Es erfordert zunächst einige Geduld, in den Roman hineinzufinden. Anfangs wird in drei Handlungssträngen parallel erzählt, ohne dass erkennbar wird, wie diese Stränge zusammenhängen, und die Handlung kommt auf den ersten 150 Seiten nur schleppend in Gang. Den gesamten Roman hindurch erzählt Reynolds in vielen, oft abrupten Sprüngen, die ein bisweilen etwas zu hektisches Stakkato erzeugen. Die Vielfältigkeit, mit der Reynolds die Kulisse seines faszinie­renden Universums ausmalt, sowie die vielen interessanten Rätsel, die er anreißt – wie z. B. die Artefakte der Amaran­tin, die Dan Sylveste auf Resurgam freilegt –, halten den Leser allerdings bei der Stange.

 

Im weiteren Verlauf der Handlung wird ein ungeheuerliches Bild von der galaktischen Geschichte enthüllt: Vor Jahrmil­lionen hatten sich die Zivilisationen im galaktischen „Morgenkrieg“ gegenseitig ausgerottet, und die aus diesem Krieg siegreich hervorgegangenen „Unterdrücker“ sorgten mit überall postierten gigantischen Vernichtungsmaschinen da­für, dass nirgendwo in der Galaxis neue Zivilisationen heranreiften. Möglicherweise ist die Existenz der Menschheit nur dem Umstand zu verdanken, dass diese Millionen Jahre alten Maschinen nicht mehr zuverlässig funktionierten. Es ist ein cleverer Kniff von Alastair Reynolds, dass er mit dem „Morgenkrieg“ eine fiktive Antwort auf das berühmte „Fermi-Paradox“ liefert, auf die verwunderte Frage also, warum die Erde bisher noch nie von Außerirdischen besucht wurde, obwohl die Galaxis doch so groß und so alt ist und es deshalb in ihr von hochentwickelten Zivilisationen nur so wim­meln müsste.

 

Spannender noch als der „Morgenkrieg“ ist, dass der Roman immer wieder über den „normalen“ Kosmos ins Transzen­dentale hinausgreift, und hier entfaltet Reynolds denn auch seine originellsten und anregendsten Spekulationen. In den fraktalen Raumzeit-Strudeln beispielsweise, die die sogenannten kosmischen „Schleier“ der Schleierweber darstel­len und die von den Menschen auch „Raum der Erkenntnis“ genannt werden, erlebt Dan Sylveste für kurze Momente eine Bewusstseinserweiterung, die von einer „Verbindung zwischen den Quantenprozessen des Bewusstseins und den Mechanismen der Quantengravitation“ ermöglicht wird; im Schleier wird ein „schwaches Band zwischen Bewusstsein und Raumzeit massiv verstärkt“ (S. 155). Anders ausgedrückt: Reynolds legt hier eine prinzipiell naturwissenschaftlich begründbare, spekulative Vereinheitlichung von Energie und Geist, von physischer und psychischer Realität zugrunde. Alles ist Geist: eine Vorstellung, die den mannigfaltigen religiösen Vorstellungen von der Allgegenwart Gottes recht nahe kommt. Später erlebt Dan eine ähnliche Bewusstseinserweiterung auf Hades, einem Neutronenstern, der zu einem gigantischen Computer umfunktioniert wurde und in dessen Schwerkraftfeld aufgrund extremer quantenme­chanischer Bedingungen Verbindungen zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft möglich sind. Sylveste dringt in die „Matrix“ dieses denkenden Neutronensterns ein, er verschmilzt mit schier uferlosem Wissen, wovon er nur tastend, kaum verstehend, kostet – ähnlich wie das Ahnen höherer, begrifflich nicht faßbarer kosmischer Sphären beim Hören einer Symphonie (S. 739).

 

Mit Unendlichkeit ist Alastair Reynolds ein fesselndes und sehr unterhaltsames Debüt gelungen. Der Roman mag hier und da Unstimmigkeiten aufweisen – vor allem stören die unglaubwürdigen und zu gewalttätigen Charakterisierun­gen der Figuren –, dafür beeindruckt er aber durch viele gute Einfälle, eine stets wendungsreiche Handlung und ein wundervoll vielgestaltig und plastisch ausgemaltes, fremdartig anmutendes High-Tech-Universum, das eine interes­sante Bühne für die Nachfolgeromane bereitet. Die „Offenbarungen“, die Dan Sylveste erfährt, eröffnen darüber hinaus sogar anregende philosophische Perspektiven – etwas, was in Space Operas keineswegs selbstverständlich ist.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 12. Juli 2016

aktualisiert am 20. Mai 2019