Alexei Tolstoi: Aëlita

Buchcover zu Alexei Tolstoi, Aelita

Аэлита (1922/23). Science-Fiction-Roman. In Russisch erstveröffentlicht in drei Tei­len im Moskauer Literaturmagazin Красная новь (Krasnaja nov’) zwischen Novem­ber/Dezember 1922 und März/April 1923. Die erste Buchausgabe Аэлита. Закат Марса (Aëlita – Der Untergang des Mars) erschien im Verlag GIZ, Moskau/Petro­grad 1923. Die deutsche Erstausgabe erschien 1924 als gebundenes Buch in der Allgemeinen Verlagsanstalt (München), in einer Übersetzung von Alexander Elias­berg. Hier vorliegend ist die leinengebundene Ausgabe vom Aufbau Verlag Berlin und Weimar (1982, im Omnibus mit Tolstois Roman Geheimnisvolle Strahlen), in einer Übersetzung von Hertha von Schulz und mit einem Nachwort von Nyota Thun. 164 Seiten.

 

Im Petrograd der Zwanzigerjahre arbeitet der Ingenieur Mstislaw Sergejewitsch Los an einem fantastischen, von der Sowjetunion finanzierten Fluggerät: eine eiförmige Rakete von acht Metern Durchmesser, angetrieben von „Ultralyd­dit“, einem von Los neu entwickelten Supertreibstoff. Mit der Rakete will Los zum Mars fliegen, weil von dort seit eini­gen Jahren unverständliche Funksignale aufgefangen werden. Ein Reisegefährte ist nicht leicht zu finden – Los sucht per Annonce, die er in einer Straße an eine Wand heftet. Erst einen Tag vor dem Abflug meldet sich der zupackende Alexej Iwanowitsch Gussew, ehemaliger Soldat und Berufsrevolutionär, und bietet sich als Mitreisender an. Gemein­sam brechen Los und Gussew auf und landen nach nur zehn Stunden Flugzeit sanft auf dem Mars.

 

Kaum angekommen, stoßen Los und Gussew auf menschenähnliche Marsbewohner, die mit einem propellergetriebe­nen Luftschiff herbeikommen und die Besucher von der Erde gefangennehmen. Die Marsianer bringen die Menschen in ihre Hauptstadt Soazera und präsentieren sie ihrem Herrscher Tuskub. Dieser lässt Los und Gussew in seinen idylli­schen Landsitz vor den Toren der Stadt überführen und gibt die Erdlinge dort in die Obhut seiner Tochter Aëlita. Die geheimnisvolle Schöne unterrichtet die Erdlinge in marsianischer Sprache und Geschichte.

 

Los und Gussew erfahren, dass die marsianische Kultur bereits 20.000 Jahre alt ist und ihre herrschende Klasse von Erdenmenschen abstammt, die einst mit Raketen von Atlantis zum Mars ausgewandert sind. Längst aber ist die Mars­kultur im Niedergang begriffen. Los und Aëlita verlieben sich ineinander. Aëlita bricht damit ein Tabu, denn nach der herschenden, uralten Lehre der reinen Vernunft bedeutet die Liebe ein Rückfall in längst überwundene Barbarei. Als sich in Soazera die Ereignisse zuspitzen, der Umsturz und ein blutiger Vernichtungsschlag Tuskubs gegen die proleta­rische Bevölkerung droht, setzt sich Gussew kurzerhand an die Spitze eines Revolutionskampfes, um Tuskub und den herrschenden Rat der Ingenieure hinwegzufegen . . .

 

Ein russischer Science-Fiction-Klassiker

 

Der russische Schriftsteller Alexei Tolstoi (1882–1945) ist der Nachwelt vor allem in dreierlei Hinsicht in Erinnerung ge­blieben. Zum einen gilt er als „Stalins Hofdichter“, der in den Dreißiger- und Vierzigerjahren mit Werken wie der Novel­le Brot (1937) bedenkenlos Stalin verherrlichte und dem Regime die Propagandaliteratur lieferte, die es wünschte, wodurch er nach dem Tod von Maxim Gorki (1868–1936) zum Vorsitzenden des sowjetischen Schriftstellerverbandes aufstieg. Zum zweiten schuf er mit „Burattino“ eine märchenhafte Figur nach dem Vorbild Pinocchios, die noch immer von Millionen russischen Kindern geliebt wird. Und schließlich schrieb er 1922 mit Aëlita einen Science-Fiction-Roman, der zwei Jahre später in der Sowjetunion von Jakow Protasanow (1881–1945) als literarische Vorlage für einen auf­wendig ausgestatteten Stummfilm diente. Der Film weicht inhaltlich in vielen Punkten erheblich vom Ro­man ab. Nichtsdestotrotz ist es vor allem der Film, von Filmhistorikern als Meilenstein des Science-Fiction-Kinos und Vorläufer von Fritz Langs Metropolis (1927) geschätzt, der dafür sorgte, dass Tolstois Roman populär blieb und bis heute zu den meistgelesenen fantastischen Romanen der Sowjetliteratur zählt. Abgesehen von Protasanows Kinoklas­siker entstand in Ungarn mit Aelita: fantasztikus torténet a Marson (Aelita: Eine fantastische Geschichte auf dem Mars, 1980) noch eine von András Rajnai (1934–2004) inszenierte, 51 Minuten kurze, farbige TV-Verfilmung des Erzählstoffes, die sich erheblich enger an die literarische Quelle anlehnt, jedoch so gut wie keine weitere Beachtung gefunden hat.

 

Aëlita, ein glänzendes Juwel von einem fantastischen Werk, ist der erste von zwei Science-Fiction-Romanen, die Tol­stoi schrieb. Der zweite, Geheimnisvolle Strahlen (1925/26), enthält einige Science-Fiction-Elemente wie eine Laser­strahlenwaffe und einen mad scientist, der danach strebt, die Welt in ein faschistisches Dystopia zu verwandeln, ist ansonsten aber im nüchternen Stil eines Kriminal- oder Agentenromans gefasst.

Alexei Tolstoi (1882–1945)
Alexei Tolstoi (1882–1945)

Der optimistische Versuch, die Science-Fiction als neue Ausdrucksform auszupro­bieren und zu literarisch anspruchsvollen Weihen zu ver­helfen, spricht für Tolstois Experimentierfreude. Nicht wenige Kritiker hatten dem Autor damals die Hinwen­dung zum wissenschaftlich-fantastischen Genre angekreidet – sie sahen darin ein Zugeständnis an einen anspruchslosen Lesergeschmack. Doch auch inhaltlich barg das Experiment einige Fallstricke. Denn in der Darstellung von Naturwissenschaft und Technologie, der science in seiner fiction, erweist sich der genrefremde Tolstoi als nicht besonders trittfest. Tolstoi, immerhin studierter Mathematiker, leistet sich bei der Erklärung der physikalischen Grundlagen seiner Erzählung einige Absurdi­täten. Die Erklärung über die unglaublich kurze Flugzeit zum Mars von lediglich zehn Stunden, die erreicht wird, indem das Raumschiff im All mühelos bis zur Fast-Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, der fehlerhafte Exkurs über die Auswirkungen der Zeitdilatation (unter anderem soll sie aus der Sicht der zurückbleibenden Erde für eine Beschleunigung des Herzschlages der Raumfahrer führen, obwohl das ge­naue Gegenteil der Fall ist; vgl. S. 39), die Technik und Flugmanöver der eiförmigen Rakete – all das ist beherzt geschildert und wirkt grenzenlos naiv. Allerdings war Tolstoi, Jahrzehnte vor dem Raum­fahrtzeitalter, auch viel stärker auf die eigene Vorstellungskraft und Fantasie angewiesen als heutige Autoren. Dem Lesevergnügen tun die wissenschaftlichen Holprigkeiten des Romans aber keinen Abbruch, im Gegenteil: Sie verleihen dem Werk einen rührenden, antiquierten Charme.

 

Wirklich beeindruckend ist Tolstois Ausdruckskraft. Tolstoi erzählt in einer sehr poetischen, an manchen Stellen hem­mungslos schwülstigen, meistens aber wundervollen Sprache. Durch trefflich ausgeschmückte Bilder und Beschreibun­gen gelingen ihm stimmungsvolle Szenen. Die fantastische Reise zum Mars und Los’ und Gussews Odyssee auf dem roten Planeten wirken wie eine staunenerweckende Traumgeschichte. Der Mars, seine Landschaft, seine Städte und seine Zivilisation, all das wird plastisch und spannend erzählt und weckt im Leser die Entdeckerfreude.

 

In vielen Merkmalen werden die Vorbilder vorangegangener Marsromane spürbar, die seit den 1870er Jahren en vogue waren und von verschiedenen Autoren in großer Zahl erschienen waren. Ein grundlegender Einfluss ist sicherlich dem russischen utopischen Roman Der rote Planet (Krasnaja Swesda, 1908) von Alexander A. Bogdanow (1873–1928) zuzu­schreiben, der die Reise eines russischen Revolutionärs zum Mars schildert, auf dem er eine kommunistische Idealge­sellschaft vorfindet. Als eine weitere wichtige Inspirationsquelle werden sehr häufig die John-Carter-Romane von Edgar Rice Burroughs (1875–1950) angesehen, deren erster Roman Die Prinzessin vom Mars 1912 erschien (in deutsch erstmals 1925). Allerdings ist nicht bewiesen, dass Tolstoi Burroughs’ John-Carter-Romane auch wirklich gekannt hat. In die russische Sprache wurden diese erst ab 1923 übersetzt (vgl. Matthias Schwartz zu „Aelita“ auf der Webseite Deko­der.org, dort Fußnote 4; nach der bibliografischen Webseite Laboratorija Fantastiki erschien die erste russische Über­setzung von Die Prinzessin vom Mars erst 1924). Es ist zwar suggestiv, dass Tolstoi wie Burroughs einen gewissen Ge­fallen daran hat, seine Marsianer mit einer marsianischen Sprache und marsianischen Vokabeln auszustatten. Der Mars heißt bei Tolstois Marsianern „Tuma“, die Erde „Talzetl“, die Sonne „Soazr“, die Hauptstadt „Soazera“, der Mensch „Schócho“. Aber die Freude an exotischen marsianischen Namen und Begriffen ist nicht nur Burroughs und Tolstoi eigen, sondern findet sich auch in zahlreichen anderen Marsromanen, beispielsweise auch in Kurd Laßwitz’ Auf zwei Planeten (1897), und stellt somit eine recht allgemeine Tradition im Subgenre des Marsromans dar. Schließlich wird bis­weilen auch ein Einfluss des Theaterstücks R.U.R. (1921) von Karel Čapek (1890–1938) vermutet, aus dem insbesondere das Motiv des Arbeiteraufstands herrühren könnte. Doch auch hier sind Zweifel angebracht: Brauchte Alexei Tolstoi wirklich eine literarische Inspiration für das Revolutionsmotiv, wo er doch selbst die Oktoberrevolution miterlebt hatte und sie ganz offensichtlich in Aëlita auch thematisieren wollte?

 

Was Aëlita über seine vielen möglichen Vorbilder erhebt, ist seine literarische Güte. Tolstoi, der kunstfertige Dichter bildungsbürgerlicher Tradition, knüpft ein enges Geflecht von literarischen Verweisen, die die Zeitgeschichte, philoso­phische Ideen und verschiedene Mythen und Märchen einbeziehen und so die Bedeutungsvielfalt seiner Erzählung steigern. Aëlita bietet auch heute noch einen hohen Lesegenuss, sofern man sich auf den damals üblichen, ruhigeren Erzählfluss einlässt. Zu Recht gilt der Roman als ein herausragender Klassiker der Science-Fiction-Literatur.

 

Aëlita – ein Propagandaroman?

 

Die russische Literatur der Zwanzigerjahre stand ganz im Zeichen der Oktoberrevolution von 1917 und der sozialisti­schen Umgestaltung der Gesellschaft in der Sowjetunion. Ein unbedarfter Leser könnte daher dazu neigen, die russi­schen Werke jener Dekade pauschal als plakative Propagandawerke abzutun. Doch ein solches Vorurteil wäre kurz­sichtig und unangemessen. Das gilt auch für Aëlita, dessen politische Haltung durchaus nicht so eindeutig ist, wie es oberflächlich scheint. Für den Roman ist zudem die besondere Entstehungssituation zu berücksichtigen, denn Tolstoi schrieb ihn zu einer Zeit, da er versuchte, im bolschewistischen Russland wieder Fuß zu fassen.

 

Alexei Tolstoi, Sproß eines Offiziers (der ein entfernter Verwandter des berühmten Schriftstellers Lew Tolstoi war) und Nutznießer eines stattlichen Erbes, das ihm ein wohlhabendes Leben in St. Petersburg ermöglicht hatte, war zunächst ein entschiedener Gegner der Ok­toberrevolution von 1917 gewesen. Im Russischen Bürger­krieg hatte er sich der Propa­ganda­abteilung der konterrevolutionären Weißen Armee angeschlossen und war schließlich, nach der Niederlage der Wei­ßen, 1919 ins Exil nach Paris gegangen. Seit 1921 lebte er in Berlin, wo er von April bis November 1922 Aëlita schrieb. Gleichzeitig begann er damit, sich von den gescheiterten, im Exil lebenden Konterrevolutionären loszusagen und sich öffentlich zur Oktoberrevolution und zum neuen sowjetischen Regime in der Heimat zu bekennen. Der Gesinnungs­wandel und die tatkräftige Unterstützung durch Maxim Gorki ermöglichten Tolstoi 1923 die ersehnte Rückkehr nach Russland.

 

In Aëlita erprobte der Autor erstmals den literarischen Umgang mit den neuen Gewissheiten der proletarischen Revo­lution und marxistisch-leninistischen Ideologie – im Experimentierfeld eines utopisch-fantastischen Romans. Jenes Genre war in den Zwanzigerjahren in der jungen Sowjetunion außerordentlich populär, bevor ihm der stalinistische Terror der Dreißiger- und Vierzigerjahre den Garaus machte. Erst nach Stalins Tod 1953 konnten in der Sowjetunion wieder utopisch-fantastische Romane erscheinen, die sich mit der zukünftigen Entwicklung der sowjetischen Gesell­schaft beschäftigten. Wer nun allerdings in Aëlita eine allegorische Dichtung erwartet, die ungebrochen die bolsche­wistische Revolution feiert, der irrt – auch wenn diese Lesart in der kritischen Sekundärliteratur, insbesondere im Wes­ten, lange weit verbreitet war. So schrieben z. B. die Literaturwissenschaftler Helga Abret und Lucian Boia in ihrem Buch Das Jahrhundert der Marsianer (München 1984) über Aëlita:

 

Tolstojs Roman zeichnet sich durch eine gewisse Typisierung der Helden aus, die in Zusammenhang mit der übermittelten poli­tischen Botschaft steht: Tuskup ist der Vertreter der herrschenden Klasse, den es zu beseitigen gilt. Gor vertritt das noch unreife, zögernde Marsproletariat. Los’ und Aëlita sind bürgerliche Symphatisanten, denen das private Glück über das Gemeinwohl geht. Nur Gusev ist als wirklich „positiver Held“ angelegt, nämlich als der uneigennützige, mitreißende Revolutionär. ( . . . ) Es sieht so aus, als wolle Alexej Tolstoj in einer Zeit sozialer und politischer Krisen durch seinen Helden eine Lösung vorschlagen, die unge­fähr so lautet: „Proletarier aller Länder – und des Universums – vereinigt euch! Unter der Führung der Sowjetunion.“ Diese Lösung projiziert er auf den Mars. (S. 242)

 

Ähnlich schrieb 2002 der Politikwissenschaftler Richard Saage (geb. 1941) in seinem Buch Utopische Profile: Widersprü­che und Synthesen des 20. Jahrhunderts (2., korrigierte Auflage, Münster 2006):

 

Erst die Synthese beider [d. h. der Figuren Los und Gussew], d. h. die Zulassung individualistischer Elemente der bürgerlichen Zivilisation bei gleichzeitiger Hegemonie des revolutionären Willens des Proletariats, so ließe sich Tolstois Aëlita interpretieren, kann den historischen Fortschritt sichern. (S. 288 f.)

 

Saage sieht in Tolstois Roman eine „positive Entwicklungsperspektive des Sozialismus“ (ebda.), die dort aufgrund des Scheiterns der Marsrevolution zwar noch nicht entfaltet, aber prinzipiell angelegt ist.

Tolstoi, Aelita, Deutsche Ausgabe des Verlags für fremdsprachige Literatur, Moskau 1961
Deutsche Ausgabe des Verlags für fremdsprachige Literatur, Moskau 1961

Ist Tolstois „Lösung“ aber wirklich so banal auf den kämpferischen Aufruf zur uni­versellen Revolution reduzierbar? Ist Gussew wirklich der einzige positive Held, der alle anderen Figuren des Romans fragwürdig erscheinen lässt? Warum aber ist der Roman dann nach Aëlita benannt, der Marsprinzessin, die nach Abret und Boia nur die Rolle einer elitären Tochter innehat, die mit dem Umsturz nichts zu tun haben will und stattdessen lieber mit ihrem tatenlosen, bürgerlichen Verehrer Los anbändelt? Weshalb beschäftigt sich der Roman über weite Strecken mit dieser Liebesbeziehung? Tolstois Marsrevolution ist zweifellos auf die Oktoberrevolution bezogen. Und gewiss lädt seine Marsrevolution dazu ein, sie als utopische Bot­schaft zu interpretieren. Das war von Tolstoi wohl auch intendiert gewesen, der seinen Roman bewusst auch als literarisches „Empfehlungsschreiben“ an die sow­jetische Heimat anlegte. Dass diese Empfehlung immer noch funktioniert, beweist die Interpretation von Abret und Boia, die nur diejenigen Elemente des Romans in den Blick nimmt, die auf die erwartete ideologische Aussage passen, und alle an­deren Elemente ausblendet. Bei genauerem Hinsehen drängen sich jedoch Zweifel auf, ob damit der Kern des Romans erfasst wird. Ja, selbst die gern hineingelesene sozialistische Utopie wird fragwürdig.

 

Eine fast gleichbedeutende, häufig vertretene Propaganda-Deutung von Aëlita bezieht die Handlung des Romans auf die leninistische Idee von der „exportierten Re­volution“, die den Umsturz systematisch in andere Länder tragen sollte: Zwei Sowjetrussen, der eine der Intelligenz zugehörig, der andere Berufsrevolutionär, fliegen zum Mars und finden eine ungerechte, hierarchische Gesellschaftsstruktur vor, die sich als morsch und überlebt herausstellt. Gussew, der einfache Mann der Tat, übernimmt daraufhin entschlossen die Führung der Massen und die Planung und Ausführung des Umsturzes.

 

Auch wenn Tolstoi in der Tat eine exportierte Revolution schildert, ist damit allein noch nichts über deren Signifikanz ausgesagt. Hier sind dieselben Einwände zu erheben wie gegen das Deutungsschema der universellen Revolution. In der Anlage der Geschichte und in den Figuren finden sich zu viele Widerstände, die zu einer schlichten Propagierung der exportierten Revolution nicht passen wollen. Schon der Ausgang der marsianischen Revolution wirft Fragen auf. Die von Gussew angeführte Revolution gerät zu einem blutigen Desaster, Tuskubs Truppen gewinnen die Oberhand, wodurch die von Tuskub geplante Auslöschung des marsianischen Proletariats und der Untergang der marsianischen Zivilisation besiegelt sind. Zudem lässt sich Gussew nicht nur wegen seines Misserfolgs, sondern auch aufgrund seiner sonderbaren Charakterisierung, die starke märchenhafte Züge trägt, nur vordergründig als literarische Verherrlichung des revolutionären Sowjetkämpfers auffassen. Los und Aëlita schließlich entsprechen erst recht keiner ideologischen Anforderung – sie taugen weder als Vorbilder für die neue, sozialistische Gesellschaft, noch werden sie eindeutig als Feindbilder der alten, überlebten Oberschichten hingestellt.

 

Bei genauerem Hinsehen erscheint Aëlita somit aus bolschewistisch-propagandistischer Perspektive suspekt. Das ist ausgesprochen bemerkenswert, da sich Tolstoi durchaus mit dem Roman zur Revolution bekennen wollte und er die Rückkehr in die nunmehr sowjetische Heimat und die Wiederaufnahme in den Kreis der heimischen Literaten anstreb­te. Für dieses Ziel beriet er sich während des Verfassens vielfach mit Maxim Gorki über sein Manuskript. Aber Tolstoi zählte eben nicht zur radikalen Avantgarde oder zu den glühenden Utopisten, die die Revolution und ihre Folgen in den leuchtendsten Farben ausmalten. Stattdessen erweist er sich in seinem Roman noch ganz als Literat traditioneller Schule. Es nimmt daher nicht Wunder, dass Aëlita bei seiner Erstveröffentli­chung in der Sowjetunion vehemente Kritik vonseiten der avantgardistischen Autoren entgegenschlug, die dem Ro­man seine ideologische Unentschlos­senheit und seinen Mystizismus vorhielten. Heute hingegen wird der Roman gerade aufgrund seiner Vieldeutigkeit und litera­rischen Ehrlichkeit geschätzt. So schrieb beispielsweise der renommierte Slawist Jurij Striedter (1926–2016) über Aëlita:

 

Alexei Tolstoi, der als Romancier in der Tradition des polyphonen, sozio-psychologischen, realistischen Romans wurzelte, kon­struierte sein marsianisches Werk in polyphoner Art und Weise, womit er ein Muster verschiedener Stimmen und Sichtweisen kreierte, die komplex genug sind, die kontroversen politischen und kulturellen Kontexte zu repräsentieren – und nicht nur ein utopisches Land hinter den Wolken. (“Three Postrevolutionary Russian Utopian Novels”. In: John Garrard [Hrsg.]: The Russian Novel from Pushkin to Pasternak, New Haven, 1983, S. 185)

 

Los

 

Los, der Ingenieur, wird im Roman als eigensinniger Einzelgänger eingeführt, der in die neue sozialistische Gemein­schaft kaum integriert ist. „Die Republik“ (S. 14) finanziert zwar seine Forschung, weitere Unterstützung, „Genossen“ im Wortsinne, hat er jedoch keine. Seine Marsrakete entwickelt er ganz allein. Los ist ein Repräsentant der alten, bil­dungsbürgerlichen Elite, die sich im neuen System noch fremd und entwurzelt fühlt. Sein Denken ist melancholisch und rückwärtsgewandt: Er trauert um seine verstorbene Ehefrau Katja, die er wie eine ferne, innere Heimat vermisst (S. 20–22). Katjas Tod lässt sich als Metapher auf die verlorene Glückseligkeit der vorrevolutionären Zeit auffassen, als das idealistische Denken des Bildungsbürgers um Fantasien von der vollendeten Liebe kreiste – und nicht um die Be­wegung der Massen, den revolutionären Umsturz und die Umverteilung aller Güter und Ämter. Sehr wahrscheinlich ist Los’ Sehnsucht zugleich ein Anklang von Tolstois eigener Sehnsucht nach der Heimat, in die er zurückzukehren hoffte.

Los will zum Mars, um der Erde zu entfliehen – er hofft, seine Trauer hinter sich lassen zu können. In der Nacht vor dem Start blickt Los zum Nachthimmel auf und sinniert:

 

Wie ein Diamant – in bald blutrotem, bald blauem Licht – schillerte der Mars hoch über dem schlafenden Petrograd ( . . . ). So werde ich einmal von dort, in der Nacht, auf meinen Heimatstern zwischen den anderen Sternen schauen. Dann werde ich an den Hügel denken und die Falken, das Grab, in dem Katja liegt. Und mein Kummer wird leicht sein . . .  (S. 21 f.)

 

Als auf dem Mars Aëlita den Ingenieur fragt, weshalb er die Erde verlassen hat, erwidert er:

 

„Die, die ich liebte, ist gestorben“, antwortete Los. „Ich hatte nicht die Kraft, meine Verzweiflung zu überwinden, das Leben war schrecklich für mich geworden. Ich bin ein Flüchtiger und ein Feigling.“ (S. 71)

 

Am Ziel der Reise angekommen, übernimmt Los keinen aktiven Anteil am Sturz des Regimes. Los’ Triebkräfte sind voll­kommen andere als die eines Revolutionärs. Sie sind sogar andere als die des stereotypen Wissenschaftlers oder auch des mad scientist. Los treibt keine Begeisterung für seinen Forschungsgegenstand oder seine Arbeit an, sondern die Sehnsucht nach innerer, seelischer Erfüllung, nach Glück. Von Aëlita danach gefragt, worin auf der Erde das Glück be­stehe, antwortet Los:

 

„Wahrscheinlich besteht das Glück bei uns darin, sich selbst zu vergessen. Glücklich ist derjenige, in dem die Fülle ist und die Eintracht und das Verlangen, für die zu leben, die ihm diese Fülle und Eintracht und die Freude geben. ( . . . ) Solch ein Glück kommt in der Liebe zu einer Frau.“ (S. 71)

 

Auf dem Mars scheint Los diesem Ziel nahezukommen – in der Erfüllung seines glühenden Verlangens nach der sireni­schen Aëlita, die seine Zuneigung nach einigem Zögern erwidert. Nur an ihr ist er auf dem Mars wirklich interessiert.

 

In der Figur des Los, des „Flüchtigen und Feiglings“, des sehnenden, bürgerlichen Melancholikers, hat sich Tolstoi offenkundig am stärksten identifiziert. Er macht aus Los weder einen Helden der alten noch der neuen Ordnung – und ist damit sich selbst gegenüber ehrlich geblieben. Einer antizipierten propagandistischen Doktrin hat Tolstoi mit seiner Hauptfigur jedenfalls nicht entsprochen. Es ließe sich wohl Los’ Mattheit, seine mangelnde Entschlusskraft und apoliti­sche Weltabgekehrtheit als moralische Verurteilung der alten Elite interpretieren, die auch Jahre nach der Oktoberre­volution nicht der neuen Ordnung angemessen dient. Ob diese mögliche Bedeutung von Tolstoi intendiert war, steht dahin. Für wahrscheinlich halte ich es nicht, da der Roman viel zu sehr mit Los’ Ringen um die Erfüllung in der Liebe zu Aëlita beschäftigt ist: Die Innerlichkeit der Hauptfigur ist so elementar, so präzise gefasst, dass es wenig glaubwürdig erscheint, dass Tolstoi sie rundweg diffamieren wollte.

 

Aëlita

 

Das Verhältnis zwischen Los und Aëlita hat starke Anklänge an den alten, besonders im 19. und frühen 20. Jahrhundert populären Topos der femme fatale. Seine klassisch-mythologische Entsprechung findet der Topos in der Sirene, die bei Homer den fahrenden Odysseus mit dem süßen Versprechen übermenschlicher Weisheit lockt und ihm zugleich eine tödliche Gefahr ist. In der christlich-abendländischen Tradition wurde das Bild der Sirene zunehmend erotisch aufge­laden und zugleich mit mythischen Meerjungfrauen oder Wassernymphen verknüpft. Die dämonische, übermenschli­che Sirene stand seitdem in erster Linie für das rettungslose Sich-Verlieren im erotischen Verlangen, die Bezwingung des Mannes durch das betörende Weib und seinen dadurch besiegelten Untergang. Daneben ist das Weisheitsver­sprechen als ein Zug der Sirenengestalt nie ganz geschwunden. Die Sirene wie ihre moderne Nachfahrin, die femme fatale, setzen somit seit jeher den verzückenden Kitzel und gleichzeitigen Fluch der männlichen Sehnsucht nach der vollendeten Lust im Weiblichen, der vollendeten Verschmelzung des Verblendeten mit dem begehrten Weib ins Bild.

Julia Solnzewa (1901–1989) als Aelita in Jakow Protasanows Stummfilm (1924)
Julia Solnzewa (1901–1989) als Aelita in Jakow Protasanows Stummfilm (1924)

Los ist von der ersten Begegnung an von der marsianischen Prinzessin fasziniert. Aëlita erscheint als geheimnisvolles, im Wortsinne „überirdisches“ weibliches Wesen. Los trifft sie in einem „himmelblauen Hain“, auf einer Treppe am Ufer eines idylli­schen Sees (S. 60 f.). Der Bezug auf den Mythos der betörenden Wassernymphe an einer heiligen, tief im Wald verborgenen Quelle ist unverkennbar. Aëlita wirkt auf Los „knabenhaft schlank in ihrer bläulichweißen Gestalt“. An anderer Stelle wird ihr Antlitz „kindlich zart“ genannt (S. 65). Mit diesen Merkmalen wird fraglos ihre Jung­fräulichkeit und Asexualität zum Ausdruck gebracht. Aëlitas Physis – ihr zerbrechli­cher Körperbau, die bläulichweiße Haut, ihre aschfarbenen Haare und Augen – un­terstreichen ihr überirdisches Wesen. Die Asche kennzeichnet sie überdies als Ange­hörige einer innerlich „ausgebrannten“, erkalteten und abgestorbenen Rasse. Diese Metaphorik wird explizit vom marsianischen Arbeiterführer Gor evoziert, wenn er über die marsianische Zivilisation sagt: „Wir sind alt. In uns ist Asche. Wir haben un­sere Stunde versäumt . . .“ (S. 134). Bei einem zweiten, nächtlichen Treffen am See wirkt Aëlita sogar dämonisch, wie der Tod selbst: in ein schwarzes Kapuzengewand gehüllt, die Augen nicht sichtbar, „nur die großen Schatten der Augenhöhlen“ (S. 70).

 

Aëlitas Merkmale, insbesondere die bläulichweiße Haut, symbolisieren aber auch ihre „Blutleere“, ihre anfängliche Un­fähigkeit zu lieben und sich dem Geschlechtstrieb hinzugeben. Das wird besonders deutlich, als Aëlita, von Los in see­lischen Aufruhr versetzt, an ihrem bisherigen Sein als rationales, asexuelles Wesen zu zweifeln beginnt:

 

Unruhe des Blutes, Verfinsterung der Vernunft, unnötige Rückkehr zu vor langer, langer Zeit Durchlebtem. Unruhe des Blutes – das ist die Rückkehr in die Höhlen, zu den Herden, zu den offenen Feuern, Frühlingswind, Unruhe in Keimen. Wesen für den Tod gebären, aufziehen, begraben und wieder – Unruhe, die Qualen einer Mutter. Eine unnötige blinde Verlängerung des Lebens. So überlegte Aëlita. (S. 84 f.)

 

Ein greiser Vertreter der Weisheit, ein „Meister“ (ein Philosoph oder Priester), bei dem Aëlita Rat sucht, ermahnt sie, die in Jahrtausenden erkämpfte vollendete Vernunft nicht leichtfertig für die Liebe zu verspielen:

 

„Worin besteht deine Unruhe? Aus den Tiefen deines Blutes erhebt sich ein uralter Rückstand: rotes Dukel; das ist der Drang zur Verlängerung des Lebens. Dein Blut ist in Aufruhr ( . . . ) Mögen die Gefühle noch so erhaben sein, mit denen er (Los) dich verwirrt – in dir erwacht das Weib, und du wirst untergehen. Nur die Kälte der Weisheit, Aëlita, nur die ruhige Betrachtung des unver­meidlichen Untergangs alles Lebenden – dieses von Fett und Lüsternheit durchtränkten Körpers –, nur das Warten auf die Stun­de, da dein bereits vollkommener, der Erfahrung des Lebens nicht mehr bedürfender Geist fortgeht über die Grenzen des Be­wusstseins, da er aufhört zu sein – nur das ist Glück. ( . . . )“ (S. 87)

 

Aëlita ist wie die Sirene der klassischen Mythologie ein anfangs ungebundenes, ungezähmtes Wesen, denn „sie ver­steht nicht zu lieben“, hat das Lieben „nie gekannt“ (S. 117). Die Liebe, insbesondere die körperliche Liebe, widerspricht der auf dem Mars herrschenden Ideologie von der höchsten, unverfälschten Vernunft. Los verliebt sich nach und nach in die reine und unnahbar scheinende Aëlita, bis er ihr völlig verfallen ist. In der flammenden Liebe zu Aëlita fühlt sich Los nach langer innerer Einsamkeit wieder lebendig, obgleich er ahnt, dass diese Liebe ihn zerstören wird. Dennoch sehnt er sich immer drängender nach der körperlichen Vereinigung mit der begehrten Marsianerin – und sei es, dass er sie dabei schwängerte. Liebe wird hier unmittelbar mit Leben geglichen. Los sinniert:

 

Wird das Ungewitter der Liebe vorübergehen? Nein, ich entrinne ihm nicht. ( . . . ) Das, was er in Aëlitas Gegenwart verspürte, war einzig die Aufnahme des Lebens in die eisige Einsamkeit seines Körpers. Das Leben kam zu ihm über den spiegelblanken Fußboden, unter den leuchtenden Fenstern. ( . . . ) Mochte geschehen, wonach ihm dürstete. Und das Leben würde in ihr, in Aëli­ta, erstehen. Sie würde erfüllt sein von dem Werden eines Wesens, von dem zuckenden Fleisch. Sein Schicksal hingegen war aufs neue die Sehnsucht, die Einsamkeit. – Noch nie hatte Los mit solcher Klarheit das hoffnungslose Dürsten nach Liebe verspürt, noch nie diesen Betrug der Liebe so begriffen, dieses furchtbare, unmerkliche Sich-verlieren-Müssen an die Frau: den Fluch des männlichen Wesens. (S. 111)

 

Auch Aëlita verliebt sich erst unmerklich, dann immer drängender, in Los. Sie erkennt in ihm einen „weißhaarigen Rie­sen“, der ihr in Kindheitsträumen als ein Versprechen erschienen war – er ist ihre kindliche, jetzt leibhaftig gewordene Vorstellung vom mannhaften, dominanten Prinzen. Nicht von ungefähr spricht sie von ihm wie von einer Märchen­gestalt – und projiziert dabei auf ihn eine Stärke, die ihm gar nicht eignet:

 

„Du bist der Riese aus den Träumen meiner Kindheit. Dein Gesicht ist wunderschön. Du bist stark, Sohn des Himmels. Du bist mannhaft und gut. Deine Arme sind von Eisen, deine Knie von Stein. Dein Blick ist tödlich. Von deinem Blick verspüren die Frauen eine Last unter dem Herzen.“ (S. 117)

 

Je stärker Aëlita Los liebt, desto mehr ergibt sie sich ihm. Vor ihn gekauert, weint sie, schaut zu ihm auf und fleht ihn an, dass er sie nicht verschmähen soll, weil sie aus Mangel an Erfahrung in der Liebe vielleicht langweilig für ihn sein könnte. Von da an steigert sich die erotische Spannung unaufhaltsam. Auf einer abgelegenen Felsenterasse im Gebir­ge, im Schein der Abendsonne und eines Lagerfeuers, singt Aëlita ihrem Geliebten ein uraltes, hitziges Lied (in dem explizit vom „Dunkel ihres Schoßes“ die Rede ist), mit dem sie sich nach uraltem Brauch mit einem Mann vermählt. Be­zeichnenderweise ist in dieser Szene Aëlitas Gesicht durch den Schein der Feuerkohlen „mit rötlicher Glut“ übergos­sen. Anschließend verlebt Aëlita mit Los eine glückselige Hochzeitsnacht in einer nahe gelegenen Höhlenwohnung (S. 121 f.).

 

Die Liebesbeziehung endet tragisch: Aëlita wird von ihrem Vater Tuskub aus Los’ Armen geraubt, Los und Gussew müssen im Revolutionschaos vom Mars fliehen, und zurückgekehrt auf die Erde hadert Los mit seiner unerfüllten Sehn­sucht nach seiner marsianischen Geliebten, von der er bis zum Schluss nicht erfährt, was aus ihr geworden ist.

 

Ein wesentlicher Aspekt Aëlitas ist, dass sie nicht allein als erotische Sehnsucht fungiert. Wie die Sirenen verheißt Aëli­ta dem Erdling Weisheit. Die Weisheit ist nüchtern und kühl und wird zu Anfang, da Aëlita noch nicht liebt, von der Marsianerin regelrecht verkörpert. So findet das erste förmliche Zusammentreffen von Los und Aëlita in einer prunk­vollen Bibliothek statt, in der Aëlita, umkränzt von einem Lichtschein, der auf vergoldete Buchrücken strahlt, wie eine Herrin des Wissens erscheint (S. 65). Sieben Tage lang unterrichtet Aëlita Los und Gussew in der Bibliothek in marsia­nischer Sprache und Kultur. Dieses Geschehen mutet wie ein märchenhaft sublimierter rite de passage an. Die Mär­chenzahl Sieben ist bereits ein deutlicher Fingerzeig, die Trance, in der Los und Gussew lernen, ein weiterer; Aëlita hat überdies die magische Gabe, eine seherische Kristallkugel in ihrer Handfläche erscheinen zu lassen, durch die sie die Worte von Los und Gussew problemlos versteht. Los erscheinen die sieben Tage des Lernens wie „eine lange Reihe im Wachen erlebter Traumbilder“ (S. 68). Das Lernen selbst geschieht traumwandlerisch, die „Worte drangen ohne jede Willensanstrengung in das Bewusstsein ein“ (S. 69). Los erlangt in der marsianischen Sprache eine marsianische Weis­heit, die ihn den Mars mit neuen Augen sehen lässt – die Namen der Dinge bedeuten zugleich Erkenntnis (S. 70).

 

Der Mars hat mit seinem atlantidischen Erbe und seiner daran anschließenden 20.000 Jahre währenden Geschichte eine hochstehende, den irdischen Geist übersteigende Weisheit entwickelt. So ringt einmal Los mit sich und seinem noch immer viel zu fleischlichem Selbst als Mensch, weil er nicht in der Lage ist, die marsianische Weisheit wirklich zu erfassen. Aëlita ist in diesem Zusammenhang wie die lockende Eva, die Los in den Apfel der Erkenntnis beißen ließ. Los ist zutiefst verwirrt:

 

Aëlita hatte recht: Er hatte viel zuviel erfahren in dieser Zeit, zu sehr hatte sich sein Bewusstsein geweitet. Durch seinen Körper floss noch heißes Blut, er war noch ganz erfüllt von den unruhigen Sporen des Lebens – er war ein Sohn der Erde. Aber sein Ver­stand war ihm um tausend Jahre vorausgeeilt; hier, auf diesem fremden Boden, hatte er erfahren, was er noch nicht zu wissen brauchte. Sein Verstand hatte sich aufgetan und klaffte nun als eine eisige Wüste. Was hatte er ihm eröffnet? Nichts als eine Wüste und hinter ihren Grenzen neue Geheimnisse! – Zwinge einen Vogel, der mit geschlossenen Augen im wärmenden Strahl der Sonne zart und verzückt sein Lied singt, auch nur einen winzigen Tropfen der menschlichen Weisheit zu verstehen, und der Vogel wird tot zur Erde fallen. (S. 111 f.)

 

Die marsianische Lehre von der Weisheit als Erfüllung des Seins ist bereits in Atlantis als Religion entstanden, wie Aëli­ta in ihrer zweiten Erzählung offenbart. Das Denken der Marsianer ist also bereits seit Jahrtausenden von den Katego­rien der Weisheit und Vernunft geprägt. In Aëlita tobt ein Widerstreit dieser tief in ihrem Denken eingewurzelten Lehre und der Liebe, die sich in ihr regt, die ein neues Leben, einen neuen, elementaren Lebenssinn verspricht.

 

Gussew

 

Im Gegensatz zu Los ist Gussew ein Mann der Tat. Auch seine Charakterisierung erscheint ambivalent und ist mit einer bolschewistischen propagandistischen Zielsetzung nicht vollends vereinbar. Gussew ist von schlichtem, rauen Gemüt. Er hat ein herzliches Wesen, ist mutig wie ein Bär und beweist praktische Schläue. Als ehemaliger Frontsoldat und spä­terer Berufsrevolutionär im In- und Ausland hat Gussew an zahlreichen Fronten gekämpft. Auch auf dem Mars weiß er sofort, wie die Massen zu gewinnen und zu organisieren sind; tatkräftig führt er gegen Ende des Romans den revolu­tionären Kampf an. Gussew könnte somit als positives Beispiel den neuen, sozialistischen Menschen repräsentieren, der zuversichtlich die Welt auf eine neue, glücklichere Kulturstufe emporhebt.

 

Doch bei genauerem Hinsehen zerfällt das Klischee der strahlenden Heldenfigur. Gussew ist kein glühender Idealist, der aus Überzeugung für die Revolution kämpft, sondern im tiefsten Grunde ein Getriebener seiner Kriegserfahrungen. Als Los ihn nach seinem Beruf fragt, antwortet Gussew:

 

„Seit meinem achtzehnten Jahr ist der Krieg mein Beruf – das ist alles, was ich kann. Ich war mehrfach verwundet. ( . . . ) Ja, diese sieben Jahre hatten es in sich! Von Rechts wegen hätte ich jetzt ein Regiment kommandieren müssen, aber ich habe so einen unverträglichen Charakter! Sind die Kriegshandlungen eingestellt, kann ich nicht stillsitzen – es zieht mich hinaus. In mir ist alles vergiftet. Ich lasse mir dann einen dienstlichen Auftrag geben oder laufe einfach so davon. ( . . . )“ (S. 19)

 

Womit Gussew fortfährt, wirft die Frage auf, ob ihm die Umsetzung der revolutionären Ziele, die Erschaffung einer kommunistischen Gesellschaft, wirklich am Herzen liegt:

 

„Vier Republiken habe ich gegründet – ich kann mich jetzt nicht mal mehr an diese Städte erinnern. Einmal habe ich an die drei­hundert Burschen zusammengebracht, und wir machten uns auf, Indien zu erobern, wollten uns dorthin durchschlagen. Doch wir verirrten uns in den Bergen, gerieten in einen Schneesturm, unter Lawinen, mussten die Pferde abschlachten. Nur wenige von uns kehrten zurück.“

 

Mit seinem fantastischen „Indienfeldzug“ wird Gussew zu einem modernen Alexander den Großen stilisiert, der im­merfort von dem Drang zu neuen Eroberungskriegen getrieben ist. Gussew erzählt im Folgenden, dass er in die Rote Armee eintrat und noch einige weitere Schlachten im Krieg gegen Polen geschlagen hatte. Er resümiert, dass es für ihn nichts mehr zu tun gebe, weil der Krieg vorbei sei – deshalb will Gussew mit Los zum Mars fliegen. Es ist für ihn ein neues, kühnes Abenteuer.

 

Als später auf dem Mars ein Volksaufstand ausbricht, weil Tuskub das Ende der Zivilisation verkündet, die Stadt Soa­zera zerstören und die Bevölkerung bis auf die „gesunden Teile“ auslöschen will (S. 104 ff.), ergreift Gussew wie elektri­siert die Gelegenheit, um sich an die Spitze der Revolution zu setzen. Er will sofort nach Soazera aufbrechen und ruft Los zu:

 

„Revolution, Msitslaw Sergejewitsch. Die ganze Stadt steht kopf. Ist das ein Ding! ( . . . ) Ich habe schon alles im Boot verstaut: Proviant, Granaten. Auch so eins von ihren kleinen Gewehren hab ich besorgt. Machen Sie sich rasch fertig, legen Sie das Buch hin, fliegen wir!“ (S. 110)

 

Gussews revolutionäres Dasein ist ganz auf die praktische Seite der Durchführung einer Revolution beschränkt. Er kämpft, weil er nichts anderes gelernt hat, und nur im Kampf ist er ganz er selbst. Gussew bekennt sich durchaus zur Sowjetunion. Doch sein Begriff von der sozialistischen Revolution bedeutet lediglich, eine ungerechte Herrschaft hinwegzufegen und sie durch eine andere, bessere zu ersetzen – für deren Zusammensetzung er dann nicht mehr zuständig ist. Auf dem Mars will er nach dem gelungenen Umsturz Los als „Marskommissar“ einsetzen – „eine einfache Sache“, wie er sagt (S. 110). Macht, Ämter und politische Inhalte interessieren ihn nicht.

 

Gussew ist grenzenlos optimistisch. Zweifel und Ängste sind ihm fremd, er steuert immer geradewegs auf sein Ziel zu, das ihm auch immer klar vor Augen steht. Der vollkommene Mangel an Zweifeln und Grübelei ist allerdings gleich­zeitig signifikant für den vollkommenen Mangel an Philosophie. Gussew lässt sich nicht durch metaphysisches Denken beeinträchtigen. Daher hat Gussew auch keine Ideologie, sei sie kommunistisch oder sonstwie geartet, wirklich den­kend verinnerlicht – er packt die Ideologie genauso fest und entschlossen an, glaubt naiv an sie und handelt nach ihr, wie er die praktischen Anforderungen seines Lebens meistert.

 

Aus Gussews Mangel an Philosophie erklärt sich auch sein schlichtes Verhältnis zu Frauen. Gussew ist unfähig, eine tiefe, einfühlsame Liebe zu einer Frau zu empfinden. Seine Ehefrau Mascha auf der Erde und das Mädchen Ichoschka auf dem Mars sind ihm nicht viel mehr als Dienstmägde und Bettgenossinnen, mit denen er recht grob umgeht und deren Wünsche und Nöte ihm egal sind. Dabei erscheint die Marsianerin Ichoschka als extremer Gegenpol zu Aëlita. Im Gegensatz zur aristokratischen Prinzessin verfügt das Dienstmädchen Ichoschka nicht über die geistige Verfeinerung, um ihr Fühlen und Denken zu hinterfragen und zu verstehen. Stattdessen verfällt sie Gussew vollkommen unreflektiert und daher rettungslos. Tolstoi schildert sie bald wie ein Haustier, wie eine Katze, die Gussew in spielerischer Zuwen­dung hinter dem Ohr krault! Mit Ichoschka präsentiert Tolsoi ein recht drastisches Beispiel dafür, wie die Liebe mit dem Menschen verfahren kann.

 

In der Figur des Gussew hat Tolstoi den Typus des einfachen, gesinnungsarmen Berufsrevolutionärs prägnant gefasst, ja, beinahe karikiert. Gussew wirkt wie ein trockener Kommentar auf das Personal, das den Umsturz in seiner eigenen Heimat ausführte. Seine Charakterisierung enthält gewichtige kritische Elemente, die Tolstoi allerdings nicht weiter bewertet. Gussews naiver Realismus mag manchem noch als die beste Form des Lebens erscheinen, bewahrt sie den Menschen doch noch am ehesten davor, seelisch tief verletzt zu werden. Von allen Figuren ist Gussew die einzige, die sich im Verlauf des Romans nie wandelt – er steht am Ende genauso unverzagt und optimistisch da wie zu Anfang. Tolstoi selbst scheint diesem Modell gegenüber jedoch skeptisch gewesen zu sein. Seinem eigenen Denken und Empfinden erschien es gewiss fremd, um nicht zu sagen: wie ein Märchen. Nyota Thun verweist denn auch in ihrem Nachwort zum Roman völlig zu Recht darauf, dass Gussew wie eine „Märchenfigur“ wirkt (S. 471).

 

So fällt es schwer, in Gussew eine allegorische Glorifizierung der „Helden der Oktoberrevolution“ zu sehen. Er war und wird zwar häufig so gedeutet. Wer will, kann in Gussew, dem Märchenhelden, sogar eine utopische Vision des kom­munistischen Menschen sehen. Der aufgeklärte Geist aber glaubt nicht mehr an Märchen – und so bleibt Gussews Fi­gur dem heimatlos gewordenen Bürgertum verschlossen.

 

Der „sterbende Mars“ und Atlantis

Percival Lowell (1855–1916)
Percival Lowell (1855–1916)

Der Mars, den Tolstoi in Aëlita präsentiert, entspricht den Vorstellungen vom roten Planeten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär wurden und von da an lange Zeit in der Science-Fiction fest verankert blieben. Demnach war der Mars eine „sterbende Welt“, die älter als die Erde ist, und beherbergte eine Zivilisation, die der Menschheit in ihrer technischen und geistigen Entwick­lung weit voraus ist. Seine erste Ausprägung erhielt dieser moderne Mythos be­reits seit den 1860er Jahren in den Veröffentlichungen des französischen Astro­nomen Camille Flammarion (1842–1925). Flammarions populärwissenschaftliche Bücher waren ihrerzeit Bestseller und machten seine Thesen über den Mars und die Marsianer überaus populär. Der einflussreichste Adept Flammarions sollte dann in den 1890er Jahren der amerikanische Astronom Percival Lowell (1855–1916) werden. Ab 1895 veröffentlichte Lowell Bücher über den Mars und die be­rühmten „Marskanäle“, die 1877 vom italienischen Astronom Giovanni Schiapa­relli (1835–1910) „entdeckt“ worden waren und deren Beobachtung und Be­schreibung Lowell sich intensiv widmete. Lowells romantisches Bild vom Mars fand durch die Bücher und Zeitungs- und Zeitschriftenartikel weite Verbreitung. Um die Jahrhundertwelle erlebte der „sterbende Mars“ als literarisches Thema eine wahre Hochkonjunktur, und es wurden zahlreiche Marsromane veröf­fentlicht (vgl. Helga Abret/Lucian Boia, Das Jahrhundert der Marsianer, München 1984).

 

Tolstois Marszivilisation entspricht Lowells Vorstellungen bis ins Detail. Die Marszivilisation ist uralt und hat ihre eins­tige Vitalität eingebüßt. Wüsten breiten sich über weite Gebiete des Mars aus, und Ruinen verfallener Städte überzie­hen das Land. Gigantische Marskanäle zeugen von den Versuchen der Marsianer, die fortschreitende Austrocknung und Verödung ihres Planeten aufzuhalten.

 

Die 20.000 Jahre marsianischer Geschichte, die Aëlita in zwei langen Berichten in getragenem, biblischem Tonfall schil­dert (S. 72–78 und 88–101), sind ausgeschmückt mit zahlreichen Mythen- und Märchenelementen, Namen und Ge­schehnissen, die zum Teil frei erfunden, zum Teil aus irdischen Mythologien und Märchenerzählungen geschöpft sind. Es bedürfte einer eigenen Abhandlung, hier den vielen Spuren nachzugehen. Der klarste Bezug stellt Atlantis dar. Die Atlantiden waren nach Aëlitas Erzählungen einst mit Raumschiffen von der Erde auf den Mars geflohen, als ihr eigenes Land im Meer versank. Der Untergang von Atlantis bildete den Atlantischen Ozean und trennte Amerika von Europa und Afrika. Auf dem Mars überzogen die Atlantiden die einheimische Kultur der „Aolen“ mit Krieg, machten sich selbst zur neuen Herrscherkaste und vermischten sich schließlich mit den Einheimischen.

 

Die entfernte Verwandtschaft der Marsianer mit den Erdenmenschen ist ein Topos, der bereits in früheren Marsroma­nen anzutreffen war. Neu hingegen war Tolstois Verknüpfung des Mars mit Atlantis. Dabei ließ sich Tolstoi vom mo­dernen Atlantismythos inspirieren, den der Amerikaner Ignatius Donnelly (1831–1901) geprägt hatte. Donnelly zufolge waren vor Jahrtausenden die Atlantiden nach Europa und Amerika geflohen, als ihr Kontinent inmitten des Atlantiks versank. Auf beiden Seiten des Atlantiks hätten die Atlantiden den primitiven Ureinwohnern als Kulturbringer das Schreiben, die Metallurgie und den Pyramidenbau beigebracht. Vor allem die Pyramiden und Stufentürme der frühen Hochkulturen Altamerikas, Ägyptens und Mesopotamiens wurden von Donnelly als Indiz einer voraufgegangenen, atlantidischen Superzivilisation gedeutet. Donnellys 1882 verfasste (und erst 1911 ins Deutsche übersetzte) Spekulation beflügelte die Fantasie zahlreicher Autoren, die den Atlantismythos fortschrieben, und ist bis heute populär.

Ignatius Donnelly (1831–1901)
Ignatius Donnelly (1831–1901)

Dass Tolstoi Donnellys Mythos aufgriff, wird in den Pyramiden von Atlantis, die Aë­lita in ihrem zweiten Bericht erwähnt, und in den entsprechenden Pyramiden und wuchtigen, schwarzen Steinbauten der Marszivilisation deutlich. Er zeigt sich auch im atlantidischen Sonnenkult, den Donnelly in seinem Atlantismythos erfand und der dort zum Ursprung des aztekischen und des ägyptischen Sonnengottes ge­macht wird (bei Platon wurde in Atlantis noch der Meeresgott Poseidon als höchs­ter Gott verehrt). Eine weitere Parallele sind Namen und Begriffe der atlantisch ge­prägten Marszivilisation, die teilweise aztekisch klingen: So nennen die Marsianer die Erde „Talzetl“ und die vor Jahrtausenden eingewanderten Atlantiden „Magazit­len“. Los und Gussew werden von den Marsianern wie neu eingetroffene Atlantiden angesehen – ihr Raumschiff erscheint ihnen nämlich den einstigen Schiffen der Ma­gazitlen sehr ähnlich. Dies erinnert an die (wahrscheinlich unwahre) Legende, nach der der Aztekenkönig Moctezuma II. das Erscheinen des spanischen Eroberers Her­nán Cortés mit seinen Truppen als die prophezeite Rückkehr des Gottes Quetzal­coatl gedeutet habe – für Donnelly eine religiös verbrämte Erinnerung an die eins­tige Ankunft der Atlantiden und ihres Gottes Atlan in Mittelamerika.

 

Der „sterbende Mars“ als Revolutionsdrama

 

Tolstoi nutzt den Topos vom „sterbenden Mars“ als Metapher. Die überlebte und dahindämmernde Marszivilisation steht unverkennbar für die untergehende bildungsbürgerliche Kultur, die schon innerlich morsch gewesen war, bevor die Revolution sie hinwegfegte. Als Dystopie ist sie eine uralte Kultur der Weisheit und Vernunft, die die Rationalität auf die Spitze getrieben und damit ihre euphorische Lebenskraft gänzlich erstickt hat. In kommunistischer Lesart steht die Marszivilisation für eine ausbeuterische, kapitalistische Kulturstufe, die sich durch ihre Erbarmungslosigkeit selbst degeneriert hat und abgelöst werden muss. Mit der marsianischen Revolution selbst schließlich eröffnet Tolstoi einen utopischen Ausblick, ohne ihn allerdings einzulösen, denn die Revolution scheitert am Ende des Romans.

 

Die politische Verfassung des Mars ist elitär und technokratisch. Gegenüber der weit fortgeschrittenen Technologie und Weisheit sind die Machtverhältnisse rückständig und erstarrt. An der Spitze des Staates steht mit Tuskub ein ab­soluter Herrscher. Seine Regierung ist der „Rat der Ingenieure“. Doch anders als z. B. in Herbert George Wells’ Utopia Things to Come (1936) hat die Herrschaft der Wissenschaft auf Tolstois Mars der Bevölkerung kein glückseliges, zufrie­denes Leben beschert – im Gegenteil. Es gibt eine reiche, prunkende Oberschicht und ein Heer von Arbeitern, das in unterirdischen Fabriken schuften und in trostlosen, monotonen Straßenzügen hausen muss. Eine Gesellschaft also, die überreif für den sozialistischen Umsturz ist. Als der marsianische Führer der Arbeiter, Ingenieur Gor, Tuskub herausfor­dert und Gerüchte in der Stadt Tuskubs Macht in Frage stellen, tritt Tuskub die Flucht nach vorn an (S. 104–110). In ei­ner rhetorisch ausgefeilten Rede vor dem Rat prangert er die zügellose Vergnügungssucht und Dekadenz der Massen an und macht sie für die wachsende „Anarchie“ verantwortlich:

 

Die Kraft, die die Ordnung der Welt zerstört, die Anarchie, geht von der Stadt aus. Die Ruhe und Gelassenheit der Seele, der natürliche Wille zum Leben, die Stärke der Gefühle werden hier in zweifelhaften Unterhaltungen und in nutzlosem Vergnügen verschwendet. ( . . . ) Die Ruhe und Gelassenheit der Seele verbrennt zu Asche. Solche verwüsteten Seelen haben nur einen Wunsch: die Begierde. Die Begierde nach dem Rausch.“ (S. 106)

 

Tuskub erklärt die Dekadenz und Anarchie als sichere Vorzeichen für den „Untergang der Welt“. Daher proklamiert er, dass die „gesunden Teile der städtischen Einwohnerschaft“ in ländliche Gebiete umgesiedelt und die Stadt als die Brutstätte der Verderbnis durch die eigenen Truppen ausgelöscht werden soll. Daraufhin bricht ein offener Aufstand der Bewohner Soazeras aus, die nicht kampflos ermordet werden wollen. Gussew eilt herbei und setzt sich selbst an die Spitze dieses Aufstands.

 

Ein Leser der Zwanzigerjahre war sich wohl bewusst, dass der Begriff „Anarchist“ im bürgerlichen Sprachgebrauch die sozialistischen Arbeiter und ihre Anführer diffamierte. Es erscheint, übertragen auf die irdischen Verhältnisse, als eine kühne Verdrehung, wenn Tuskub behauptet, dass die „zweifelhaften Unterhaltungen“ und „nutzlosen Vergnügen“ des modernen Großstadtlebens die anarchistischen Umsturzbestrebungen beförderten. Denn die sich ständig mehrenden Möglichkeiten der großstädtischen Massenunterhaltung wurden selbstverständlich auch und besonders intensiv von den besitzenden Schichten genossen. Zugleich wurde umgekehrt die Klage über die Dekadenz der Massen, ein zur Entstehungszeit von Aëlita überaus gängiges politisches Argument, von sozialistischen Kritikern der bürgerlichen Ord­nung vorgehalten: Die Massenunterhaltung wurde aus dieser Perspektive als „Opium fürs Volk“ gesehen, das die Be­reitschaft für den Umsturz eher zu hemmen schien.

 

Tuskubs fatalistische Zivilisationskritik lässt philosophische Thesen anklingen, die Oswald Spengler in seinem berühm­ten zweibändigen Werk Der Untergang des Abendlandes (1918/1922) für die „morphologische“, d. h. naturgesetzliche Entwicklung von Hochkulturen formuliert hatte. Nach Spengler war der Untergang einer jeden Hochkultur – und damit auch der Hochkultur des modernen Abendlandes – geschichtsteleologisch vorgezeichnet. Spenglers Werk war Anfang der Zwanzigerjahre sehr populär, und es ist bezeugt, dass auch Alexei Tolstoi sich von diesem vielbeachteten Buch in­spirieren ließ. Sinnfällig ist hierfür der ursprüngliche Untertitel des Romans „Der Untergang des Mars“. Nach den bruta­len Zerrüttungen des Ersten Weltkrieges blühte in Europa der Kulturpessimismus. Unter den Intellektuellen regte sich angesichts der krassen sozialen Gegensätze und der überhitzten Zerstreuungs- und Vergnügungssucht einer neu for­mierten, bürgerlichen Massenkultur Unbehagen, Zukunftsangst und Fatalismus. Viele glaubten, der von Oswald Spengler prophezeite „Untergang“ hätte bereits eingesetzt.

 

Tolstoi, der eine scharfe, polemische Sprache dafür entwickelte, die Dekadenz der reichen Bourgeoisie und bürgerli­chen Massenkultur seiner Zeit zu geißeln, entspricht also mit Tuskubs Zivilisationskritik in Aëlita und stärker noch in der Erzählerhaltung in Geheimnisvolle Strahlen dem Geist seiner Zeit. Dass die generalisierende Verurteilung der Mo­derne, die die Menschen angeblich „seelisch verwüstet“ und den Niedergang der alten Ordnung herbeigeführt habe, auch in der gleichzeitig entstehenden Rhetorik des Faschismus und Nationalsozialismus eine zentrale Rolle spielte und daher für heutige Leser einen üblen Beiklang hat, steht freilich auf einem anderen Blatt.

 

In der flammenden Rede, die der Arbeiterführer Gor Tuskub zur Antwort gibt, entlarvt Gor die Redeweise von der Be­drohung durch die Anarchie als vorgeschoben, um ein egoistisches Machtinteresse durchzusetzen. Die Verderbnis, von der Tuskub spricht, betrifft anerkanntermaßen alle, aber ursächlich ist die Herrschaft Tuskubs und der Ingenieure, die die Massen in trostlose Fabrikhöhlen einpfercht. Zugleich äußert Gor die Hoffnung, dass Tuskub durch die zwei Besucher von der Erde gestürzt werde:

 

„Er lügt! Er will die Stadt vernichten, um die Macht zu behalten. Er verurteilt uns zum Tode, um die Macht zu behalten. Er be­greift, dass er nur noch durch die Vernichtung von Millionen die Macht behalten kann. ( . . . ) Tuskub hat uns das Totenbett berei­tet, mag er sich selbst darauf legen. Wir wollen nicht sterben. Wir sind geboren, um zu leben. Wir wissen von der Gefahr, von der Degeneration des Mars. Aber wir kennen auch die Rettung: Uns wird die Erde retten, die Menschen von der Erde – eine frische, gesunde Rasse mit heißem Blut. ( . . . ) Du hast die Anarchie mit Absicht erfunden, und diese die Geister erschütternde Zerstörung der Stadt hast du dir eben erst ausgedacht. Du selber brauchst Blut, um dich satt zu trinken. Deine Absicht ist die Aufmerksam­keit aller abzulenken, damit du die beiden kühnen Wagehälse, unsere Retter, unauffällig beiseite bringen kannst. Ich weiß, dass du den Befehl bereits gegeben hast . . .  “ (S. 108)

 

Die Symphatie des Lesers ist hier eindeutig auf Seiten Gors, der Tuskubs wahre Beweggründe für den geplanten, un­geheuerlichen Massenmord beim Namen nennt. Später erweist sich jedoch Gors eigener, düsterer Befund über die Marsgesellschaft als nur zu wahr: Tuskub hat nicht vollends gelogen, die Gesellschaft ist tatsächlich degeneriert. Sie ist deshalb jedoch nicht, wie Tuskub behauptet, zum Umsturz bereit, sondern vielmehr in Lethargie und Pessimismus verfallen. Gor selbst findet nicht genügend Kraft, den Befreiungskampf zu führen, und gibt auf, sobald sich in der von Gussew geführten Schlacht das Blatt zu wenden beginnt.

 

Das Scheitern der Revolution

 

Warum scheitert in Aëlita die Revolution, wo sie doch in Russland glückte? Wie ist der desaströse Ausgang auf die exemplarisch-propagandistische Funktion bezogen, die für den Roman zumeist angenommen wird? Helga Abret und Lucian Boia deuten in ihrem Jahrhundert der Marsianer Tolstois Marsrevolution als ein negatives Exempel, das positiv anspornen soll:

 

Aus der Marsrevolution wird keine zweite Oktoberrevolution. Das Unternehmen konnte nicht genügend vorbereitet werden. Das Marsproletariat erweist sich als zuwenig klassenbewußt und kämpferisch, ihr Führer (Gor) als zu unschlüssig. Noch bevor es Gu­sev gelingt, nach Moskau zu telegrafieren und um Verstärkung zu bitten, ist der Aufstand bereits niedergeschlagen worden. ( . . . ) Die revolutionäre Mission endet in Aëlita mit einem vorläufigen Mißerfolg, aber ( . . . ) die „Missionare“ (werden) von keiner­lei Zweifeln heimgesucht. Gusev bleibt auch weiterhin von der Richtigkeit seiner Ideen überzeugt. (S. 241 f.)

 

Bei genauerem Hinsehen muss auch diese Auffassung relativiert werden. Das Marsproletariat erweist sich durchaus als kämpferisch, nachdem Gussew es mit einem feurigen Appell moralisch aufgerichtet hat (S. 127). Es gelingt Gussew, 40.000 Marsianer in Soazera zu bewaffnen; überdies erkämpft Gussews revolutionäres Fluggeschwader einen großen Sieg über die regierungstreuen Flugzeuge und erlangt die Lufthoheit über die Stadt (S. 129). Erst als sich herausstellt, dass Tuskub und der Rat der Ingenieure in die unterirdischen Höhlensysteme geflohen sind, die den gesamten Mars umspannen, gibt Gor den Kampf auf. Er erklärt Gussew, dass Tuskub im Höhlensystem unermessliche Ressourcen an Waffen bereithält und außerhalb der Stadt über zahlreiche loyale Truppen verfügt. Gussew will Gors Vorschlag, mit Tuskub zu verhandeln, nicht gelten lassen. Kurz darauf erfolgt der Gegenschlag Tuskubs mit frischen, regierungstreuen Kräften. Mit einem mächtigen Energiefeld wird Gussews Luftflotte vollständig zerstört, und Tuskubs Luftflottenver­bände und Soldaten können durch ihre Übermacht die Aufständischen niederringen. Gor äußert zwar am Ende des Aufstandes, bevor er an seiner Verwundung stirbt, resigniert: „Ach, wir haben die Stunde versäumt . . . Wir hätten das Leben ingrimmig und gebieterisch mit aller Macht lieben müssen . . .“ (S. 139).

 

Die Resignation richtet sich hier jedoch auf die langfristige Degeneration der Marszivilisation – die „Stunde“ wurde schon vor vielen Jahrtausenden versäumt, indem die Marsianer mit ihrer Lehre von der reinen Vernunft das Leben und die Leidenschaft verleugneten. Die direkte Ursache für das Scheitern der Revolution ist hierin nicht zu sehen. Die Revo­lution scheiterte an der handfesten militärischen Unterlegenheit der Aufständischen. Gleichwohl wirkt der missglückte Aufstand auf Gor wie ein schicksalhafter Fanal des schleichenden Untergangs. Die letzte Chance auf eine Rettung der Marsianer wurde mit dem Misserfolg vertan.

Tolstoi Aelita, Ausgabe von Goldmann 1960
Ausgabe von Goldmann, 1960

Wie ist das Scheitern der marsianischen Revolution also zu interpretieren? Meines Erachtens offenbart sich hier eine widersprüchliche Doppelbödigkeit. Weil Gussew allein durch seine zahlenmäßige Unterlegenheit den Kampf verliert, wird die Rich­tigkeit und vordergründige Bejahung seiner revolutionären Ziele nicht relativiert – soweit behalten Abret und Goia recht. Dass der Misserfolg der Revolution uner­bittlich das Aussterben der Marsianer besiegelt, münzt im Analogieschluss die sozialistische Revolution auf der Erde zur unverzichtbaren Forderung, soll die Menschheit überleben und nicht dasselbe Schicksal erleiden wie die marsianische Zivilisation. Zugleich aber eignet dem schicksalhaften Untergang der Marszivilisa­tion in einem blutigen Bürgerkrieg etwas zutiefst Tragisches. Die Melancholie Gors, der die „versäumte Stunde“ beweint, lässt sich auch als Melancholie Tolstois auf­fassen, der sich mit dem endgültigen Untergang der alten bürgerlichen Kultur ab­finden muss. Auch sie, die aufgeklärte bürgerliche Kultur, hatte schon länger zuvor „ihre Stunde versäumt“ und der stürmischen Begeisterung und Vitalität der kom­munistischen Revolution nichts mehr entgegenzusetzen. Dieser hintergründige Zug des „Untergang des Mars“ scheint mir der eigentliche Kern des Revolutions­kampfes in Tolstois Roman zu sein. Tolstoi präsentiert die Revolution nicht als ge­lingende Utopie – diese wäre für ihn vielleicht gar, wie die Zeichnung der Figur Gussews nahelegt, ein Märchen. Die Revolution markiert stattdessen das Ende des Alten und Überlebten. Das Ende ist notwendig, unabdingbar – und bleibt doch tragisch. Unterstützt wird diese Deutung durch das letzte Kapitel des Romans, das vor allem von dem Ge­fühl der Melancholie getragen ist.

 

Die „kalte Weisheit“ und die Liebe: Der innere Kampf um ein erfülltes Sein

 

Die über Jahrtausende gepflegte Lehre von der „Kälte der Weisheit“ (S. 87), die der greise „Meister“ gegenüber Aëlita verkündet, ist die Wurzel des Niedergangs der marsianischen Zivilisation. Sie wähnt sich siegreich in der Überwindung des Todes, indem sie nüchtern und leidenschaftslos alle Gefühlsregungen, vor allem die Liebe, aus dem Leben ver­bannt und die Notwendigkeit zu sterben akzeptiert hat. Die angstfreie Ergebenheit vor dem Tod ist ihr das höchste „Glück“, bedeutet ihr die Entfesselung des bereits vollendeten Geistes in eine transzendente Freiheit; letztlich ist sie die radikale Abkehr vom Leben selbst. Sie kennt kein Wollen, keinen Optimismus, keinen Idealismus, keine Zukunft – und erschafft damit bereits unter den Lebenden ein erkaltetes, erstarrtes Totenreich. Deshalb ist der Mars, im Speng­lerschen Sinne, unausweichlich dem Untergang geweiht. Bezogen auf die bürgerliche Kultur ließe sich hier eine kriti­sche Haltung Tolstois mutmaßen: Auch der bürgerlichen Kultur mangelte es zuletzt an einer leidenschaftlichen Bin­dung an das Leben, sie war zu sehr zu einer Bücherkultur geworden, einem Glasperlenspiel abgerückter Philosophien. Vielleicht.

 

Auf der individuellen Ebene, die in der prekären Liebesbeziehung von Los und Aëlita dargestellt wird, bedeutet der Gegensatz zwischen der „kalten Weisheit“ und der Liebe, die zugleich das Leben repräsentiert, etwas tiefer Empfun­denes. Worin liegt der Sinn und die Erfüllung, das Glück des menschlichen Seins? Der Widerstreit zwischen dem in­tellektuellen Bestreben, sich über die verletzliche und sterbliche Bedingtheit des Menschen erheben zu wollen, und der menschlichen Gefühle, dem Wunsch nach glücklicher Erfüllung in der Liebe und in der blinden erotischen Wollust, ist im Roman elementar.

 

Der Ausgang bleibt offen. Der Roman liefert keine eindeutigen Antworten, sondern lässt sich verschieden interpretie­ren. Aëlita bringt massive Zweifel an der Vorstellung zum Ausdruck, dass die fortwährende Rationalisierung des menschlichen Denkens und Handelns zu einem verfeinerten Sein führen könnte. Die reine Vernunft erscheint zynisch und fatalistisch, und dagegen regte sich in Tolstoi offensichtlich ein entschiedener Widerstand. Dass die aufgeklärte Rationalisierung der Gesellschaft nicht nur die unmittelbar vorrevolutionäre Welt entscheidend geformt hat, sondern nach dem kommunistischen geschichtsteleologischen Plan auch das materialistische Programm der Revolution domi­nieren sollte, ist dabei allerdings auch ein interessanter unterschwelliger Aspekt, der zwischen den Zeilen des Romans anzuklingen scheint.

 

Die Erfüllung in der Liebe scheint demgegenüber jedoch keine Alternative zu bieten. Das Versprechen eines erfüllten Seins in der Liebe oder gar im Eros ist trügerisch. Die Erfüllung ist flüchtig, und das Gefühlschaos der Liebe kann den Menschen nicht minder katastrophal beschädigen wie die Verleugnung der Liebe. Los’ anfängliche Trauer um seine verstorbene Frau und das Leid seiner unerfüllten Sehnsucht nach Aëlita am Ende bringen dies zum Ausdruck. In der Liebe drückt sich am stärksten die menschliche Bedingtheit, seine Begrenzung und Verletzlichkeit aus – gleichzeitig birgt sie die Chance, in ihr wirklich über sich selbst hinaus zu sein und die seelische Erfüllung zu erreichen, nach der der Mensch so sehr dürstet. Die Liebe ist in Aëlita vor allem anderen eine unerfüllte Sehnsucht – symbolisiert in der Haupt­figur, die dem Roman seinen Titel gegeben hat. Im Sehnen ist der Mensch ganz Mensch; in der Weisheit und Vernunft findet er dagegen keinen Ersatz.

 

Welcher Weg ist der richtige? Aëlita und Los finden am Ende keine Lösung, das äußere Geschehen geht über ihre per­sönliche Sehnsucht hinweg. So fällt dem Leser am Ende selbst die Aufgabe zu, sich diese Frage zu beantworten.

 

Ein Fazit

 

Meine Interpretation hat längst nicht alle Beobachtungen diskutiert, die sich in Aëlita noch machen lassen. Ein Beispiel für eine Fragestellung, die hier nur angerissen wurde, ist die auffällig notorische Präsenz der Farben Blau und Rot: So­wohl der Mars als auch „Talzetl“, die Erde, funkeln mal rot, mal blau; die Hautfarbe von Aëlita und den anderen Marsia­nern ist mal bläulich, mal rötlich. Blau steht für die Weisheit, für die Blutleere, schließlich auch für die Aristokratie (den „Blaublütigen“) und ihre überlebte Ordnung. Rot steht dagegen für die Liebe, das Leben, die Leidenschaft – und natür­lich auch für den Aufruhr, die Revolution, die Sowjetunion. Die Farbe Rot ließe sich schlussendlich auch als Symbol für die Hoffnung interpretieren: Hoffnung auf die Erfüllung in der Liebe – oder in der revolutionären Vollendung einer neuen, vitalen Gesellschaftsordnung, wie sie die Sowjetunion für sich bereits reklamierte.

 

Es ist das Kennzeichen der Kunst, dass sie zum ständigen erneuten Nachdenken anregt und man eigentlich nie ganz mit ihr „zuende“ kommen kann. Insofern ist Aëlita ein nachdenkenswertes Kunstwerk. Es lässt sich auf viele verschie­dene Weisen interpretieren – meine oben entwickelte Interpretation ist nur ein Versuch unter vielen.

 

Das Buch hat seine inneren Widersprüche, Ecken und Kanten – vor allem in der Interpretation der Marsgesellschaft, der Zivilisationskritik und der Revolutionsrhetorik tun sich Probleme auf, alles zu einem kohärenten Muster zusam­menzubringen. Wie das Scheitern der Revolution auf dem Mars auszudeuten ist, bleibt trotz meiner angebotenen Lösung kontrovers. Der Widerstreit zwischen der reinen Vernunft und der reinen Liebe erscheint zudem nicht sinnvoll mit dem Revolutionsdrama verknüpft zu sein – beide Themen stehen im Roman weitgehend parallel nebeneinander. Schließlich ist der Begriff der reinen Vernunft von Tolstoi kaum expliziert worden – die fortgeschrittene Weisheit der Marsianer bleibt vage. Ob man all diese Schwierigkeiten nun als künstlerische Mängel oder als Vorzüge sieht – als Leerstellen, die der Leser interpretativ selbst aufzufüllen hat –, sollte der Leser für sich entscheiden. Der Roman ist nicht perfekt. Aber er überragt das Meiste, was im Science-Fiction-Genre je geschrieben wurde, und bietet einen un­geahnten literarischen Genuss. Aus diesen Gründen ist er auch heute noch sehr lesenswert.

 

Ein Wort zu den deutschen Übersetzungen von Aëlita

 

Aëlita erschien 1924 erstmals in deutscher Sprache bei der Allgemeinen Verlagsanstalt München, in einer Übersetzung von Alexander Eliasberg (1878–1924). Im Aufbau Verlag Berlin/DDR erschien 1957 eine weitere Übersetzung von Hertha von Schulz. Von beiden Übersetzungen gibt es zahlreiche Ausgaben, die in den Verlagen Gebrüder Weiss (Berlin), Ull­stein (Berlin), Goldmann (München), Das neue Berlin (Berlin) und im Verlag für fremdsprachige Literatur (Moskau) er­schienen sind. 2016 gesellte sich eine dritte Übersetzung von Josef Meinold Opfermann hinzu, die der Europäische Literaturverlag (Berlin) veröffentlichte; seit 2017 ist diese auch im Tochterverlag Dearbooks (Berlin) erhältlich.

 

Ohne den russischen Originaltext lesen zu können, vermag ich nur die drei deutschen Übersetzungen miteinander zu vergleichen. Alles in allem sind alle drei sehr eng beieinander und flüssig lesbar. Welche am besten zu gefallen weiß, ist nach meinem Dafürhalten in erster Linie eine Frage des persönlichen Geschmacks. Insgesamt gefällt mir die Überset­zung von Alexander Eliasberg am besten; er formuliert oft poetischer, melodischer und einleuchtender als die beiden anderen. Das gilt jedoch nicht immer. So nennt Eliasberg (und auch Opfermann) beispielsweise ein gigantisches, ge­mauertes, rundes Wasserbecken, das mit den Marskanälen verbunden ist, unglücklich „Zirkus“ (Goldmann-Ausgabe 1960, S. 58), das Hertha von Schulz treffender mit „Zisterne“ (S. 56) überträgt.

 

Ansonsten aber scheint Hertha von Schulz’ Übersetzung am stärksten „geglättet“ zu sein. In der Szene, in der Los und Gus­sew das erste Mal Aëlita an einer Wasserstelle im „himmelblauen Hain“ erblicken, heißt es bei Eliasberg (und auch Opfermann): „Auf den Stu­fen der Treppe erschien eine eben dem Wasser entstiegene junge weibliche Gestalt“ (Gold­mann, S. 62, Hervorhebung von mir), und da der begleitende Marsianer sofort seine Augen mit dem Ärmel bedeckt und die beiden Erdlinge fort­zieht, ist es naheliegend, Aëlitas „bläulichweiße“ Gestalt hier bis auf die gelbe Kappe, die sie trägt, nackt zu denken. Bei Hertha von Schulz heißt es hingegen nur:  „Auf den Stufen zeigte sich unversehends eine junge Frau“. Dass Aëlita dem Wasser entstiegen ist, wird hier also unterschlagen. Ein anderes Beispiel ist die Szene, in der der amerikanische Reporter Skiles (oder Skyles) Los über sein Raumschiff ausfragt. In der Übertragung von Eliasberg (Goldmann, S. 12) heißt es:

 

„Auf wessen Kosten ist der Apparat erbaut?“ fragte Skiles.

„Das Baumaterial gab die Regierung. Zum Teil habe ich auch meine Ersparnisse dazu verbraucht.“

 

Demgegenüber betont von Schultz (S. 14) die noble Unterstützung durch die Sowjetunion. Los ist in einem hinzuge­fügten Satz erstaunt, dass Skyles überhaupt diese Frage stellt, und von eigenem Kapital ist nicht mehr die Rede:

 

„Mit welchen Mitteln ist der Apparat gebaut worden?“ fragte Skyles.

Los sah ihn einigermaßen erstaunt an. „Die Mittel hat die Republik gewährt.“

 

Ansonsten ist in Los’ Redeweisen bei von Schultz des Öfteren das Wort „Gott“ getilgt, und wenn die Arbeiter von Los bei Eliasberg davon sprechen, dass der Mars bald „uns Russen“ gehört (Goldmann, S. 14), heißt es bei von Schultz, er werde bald „sowjetisch“ sein (S. 16). Allerdings sind das kleinere Abwei­chungen, die meines Erachtens nicht übermäßig ins Gewicht fallen. Letzten Endes sind alle drei Übersetzungen gelun­gen und gut lesbar.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 24. November 2018