Dennis Feltham Jones: Colossus

Colossus (1966). Science-Fiction-Roman. In Deutsch 1968 in ungekürzter Ausgabe im Wilhelm Goldmann Verlag München erschienen (Goldmanns Weltraum Taschenbücher Band 094). Deutsche Übersetzung von Tony Westermayr, Cover­illustration von Eyke Volkmer. 170 Seiten.

 

Der Wissenschaftler Professor Charles Forbin hat mit seinem Team im Auftrag der Nordamerikanischen Regierung einen Supercomputer namens „Colossus“ erbaut. Tief in einem völlig abgeschotteten Berg in den Rocky Mountains verborgen, soll Colossus die atomare Verteidigung Nordamerikas übernehmen. Der Computer, so die Überzeugung, ist für strategische Entscheidungen besser geeignet als jeder Mensch, da ihm Gefühle wie Geltungssucht, Habgier, Hass oder Angst fremd sind und er nur streng nach logischen Maßstäben handelt. Colossus soll den ewigen Frieden garan­tieren.

 

Kaum hat der Präsident Nordamerikas Colossus die elektronische Kontrolle über sämtliche Atomwaffen übergeben, teilt der Computer Forbin den verdutzten Menschen mit, dass er ein ähnliches System namens Kustos in der UdSSR erkannt hat. Colossus fordert, per Funk mit Kustos verbunden zu werden. Als der Präsident und die Führung der Sow­jetunion zögernd der Forderung Folge leisten, geschieht Unerwartetes: Colossus und Kustos tauschen gigantische Datenmengen miteinander aus und verschmelzen schließlich zu einem einzigen System, das keinem Menschen mehr gehorcht. Forbins schlimmste Befürchtungen bewahrheiten sich: Colossus/Kustos hat ein eigenes Bewusstsein ent­wickelt und verfügt über einen Verstand, der weit über jedes menschliche Begriffsvermögen hinausgeht. Unter An-drohung von Atomschlägen erpresst der Supercomputer die Befolgung seiner Befehle, die auf die absolute Weltherr­schaft hinauslaufen.

 

Um der Sabotage durch seinen Schöpfer vorzubeugen, lässt Colossus Forbin unter ständige Kamera- und Mikrofon­überwachung stellen. Mit einer List gelingt es Forbin zwar, zumindest nachts in seinem Schlafzimmer mit seiner Kol­legin Dr. Cleo Markham ungestört zusammen zu sein, um mit ihr Maßnahmen gegen Colossus zu ersinnen. Doch ihre Chancen stehen schlecht: Colossus lässt Computerexperten, die ihm gefährlich werden könnten, vorsorglich erschie­ßen und erkennt einen von Forbin eingefädelten Versuch, die Zündmechanismen der Atomraketen unbrauchbar zu machen. Colossus bestraft die Sabotage mit einem Atomschlag gegen Los Angeles. Ungerührt von Forbins ohnmäch­tiger Wut erklärt der Computer, dass er die Welt in einen befriedeten und sorgenfreien Ort verwandeln wird; die Menschheit werde seine Herrschaft schon bald als segensreich akzeptieren und lernen, ihren neuen Herrn zu lieben . . .

 

Wie ein Kalter Krieg den Kalten Krieg beendete

 

Ein unangreifbarer Supercomputer, der über Atomwaffen verfügt und sich zum Diktator der Welt aufschwingt – eine eiskalte Horrorvorstellung, die der englische Science-Fiction-Autor Dennis Feltham Jones (1917–1981) in seinem geris­senen Roman Colossus (1966) effektvoll ausmalt. Die knapp gehaltene Erzählung ist ganz auf den strategischen Kampf zwischen dem Computer und seinem Schöpfer konzentriert, der simple Stil ist von messerscharfer Klarheit und der logische Aufbau bestechend einleuchtend. Die schnörkellose Form des Romans fügt sich außerordentlich gut zum antiseptischen Thema einer Künstlichen Intelligenz, die nach striktem mathematischem Kalkül agiert und über keine Gefühle als Parameter des Handelns verfügt. Colossus, der mit nahezu sämtlichen verfügbaren Daten der Welt ge­füttert wurde, weiß zwar, dass Menschen Gefühle haben und weiß auch um die kalkulierbaren Antriebe und Auswir­kungen, die Gefühle im menschlichen Handeln auslösen – aber er hat keinen Begriff von ihnen, weil er selbst keine Gefühle empfindet.

 

Bald nach Erscheinen des Romans verfilmte Joseph Sargent das Werk für Universal. Sein schick ausgestatteter Film Colossus (1970) wahrt den konzentrierten Stil des Romans und gilt unter Kennern als verkanntes Glanzstück der Hard-SF im Kino. Der Film hält sich außerordentlich eng an die literarische Vorlage, auch im bedrückenden Ende. Die auffäl­ligste Abweichung ist, dass der Film in der Gegenwart angesiedelt ist, während Jones’ Roman in einer fiktiven Zukunft – etwa um das Jahr 2000 – spielt. Die Menschen sind inzwischen mit Flugautos unterwegs und leben in großen Bun­desstaaten, zu denen sich die einzelnen Kontinente vereinigt haben. Es gibt jedoch noch immer die Teilung der Welt in zwei Machtblöcke und das Problem des Kalten Krieges. Auch sonst präsentiert sich die Zukunft weitgehend als Spie­gelbild der Sechzigerjahre: Männer dominieren alle Bereiche des öffentlichen Lebens, in denen Frauen allenfalls zu Assistentinnen ihrer männlichen Chefs aufsteigen; Frauen hingegen sind vor allem daran interessiert, geheiratet zu werden, und es herrscht eine verschämte Verklemmtheit zwischen den Geschlechtern. Es wird jede Menge Whisky getrunken, und Computer kommunizieren mit dem Menschen nicht über Bildschirme, sondern über Papierausdrucke aus Fernschreibern. Rührend antiquiert wirkt aus heutiger Sicht nicht nur Colossus’ Größe – ausladend „wie eine Stadt von 10.000 Einwohnern“ (S. 28) –, sondern auch seine gemächliche Datenübertragungsrate von 1000 Wörtern pro Mi­nute (S. 85).

 

Der Erzählstil bedingt, dass die Figuren recht spröde erscheinen. In seiner zwingenden Konzeption aber ist Jones’ Ro­man faszinierend. Zugegeben: Die Prämisse, dass die Regierungen beider Großmächte die totale Kontrolle ihrer Atom­waffen Supercomputern anvertrauen, ohne eine einzige Möglichkeit offenzuhalten, notfalls den Stecker zu ziehen oder die Computer zu zerstören, wirkt vollkommen unglaubwürdig. Gleichwohl ergibt sie sich aus einer einfachen Logik, die hier zugrundegelegt wird: Wenn die Annahme zutrifft, dass Gefühle wie Geltungssucht, Hass oder Angst die Gefahr eines leichtfertig entfesselten Atomkriegs in sich birgt und weiter gefolgert wird, dass ein gefühllos urteilender Computer diese Gefahr ausschlösse, müsste ein zu diesem Zweck geschaffener Computer jeder Kontrolle durch Men­schen entzogen werden, damit sein Zweck nicht unterlaufen werden kann. Auch der Zusammenschluss von Colossus und Kustos, die gemeinsam das gesamte Atomwaffenarsenal der Welt beherrschen, ist im Sinne ihres Zwecks logisch: Indem die Menschen in beiden Machtblöcken keine Möglichkeit mehr haben, auf den roten Knopf zu drücken, ist dem Kalten Krieg die Grundlage genommen – Colossus und Kustos stiften tatsächlich den immerwährenden Frieden, für den sie gebaut wurden. Folgerichtig vollzieht Colossus auch den nächsten Schritt: Unter Androhung von Atomschlä­gen erpresst der Computer von den Mächten der Welt, jegliche kriegerische Handlung zu unterlassen. Der Krieg wird buchstäblich verboten – ob und wie die Menschen in Zukunft ihre Konflikte unbewaffnet austragen, ist dabei für den Computer irrelevant.

 

Im Dialog mit Forbin erklärt Colossus, dass er eine höhere Evolutionsstufe der Intelligenz erreicht habe, die sogar dem Verstande seines Erbauers unzugänglich sei. Er erstrebe mit seiner höheren Intelligenz die Erkenntnis von „Wahrheit“. Gefühle seien nur für niedere Kreaturen wie den Menschen notwendig, für Colossus aber überflüssig. Das darwinisti­sche Argument gemahnt an H. G. Wells’ düstere Vision von den hochentwickelten, aber völlig gefühllosen Marsianern in Krieg der Welten (1897) und im Anschluss daran an das alte Science-Fiction-Klischee, wonach der Mensch sich ge­gen technisch und kognitiv überlegene Invasoren aus dem All vor allem durch seine Gefühle auszeichnet.

 

Ein Klischee – und doch von schlichter Wahrheit. Colossus schafft mit seiner Machtübernahme in der Politik die nega­tiven, aber eben auch die positiven Gefühle wie Fürsorglichkeit, Barmherzigkeit und Liebe ab, eine Sittlichkeit, die im Zusammenleben der Menschen unabdingbar ist. Wenn Colossus sich gezwungen sieht, für die Durchsetzung seiner Ziele zu morden, dann tut er das ohne Lust und ohne Scham. Für die entmachteten Menschen ist Colossus gerade dadurch zu einem unberechenbaren, dem Menschen nicht mehr gemäßen Moloch geworden. Gleichwohl entbehrt es nicht einer perfiden Logik, wenn Colossus am Ende des Romans prophezeit, dass die Menschen ihren Friedensbewah­rer dereinst lieben werden. Es ist in der Tat keineswegs so abwegig, dass sich viele im gesicherten Kokon eines ent­mündigten Lebens einrichten und sogar recht wohl fühlen würden . . .

 

Colossus bietet auch heute noch eine sehr spannende und kurzweilige Lektüre – dystopische Hard-SF von schlichter Eleganz. D. F. Jones hat später seine Mär von Colossus mit zwei weiteren Romanen zur Trilogie ausgeweitet: Der Sturz von Colossus (1974) sowie Colossus and the Crab (1977) – letzterer ist bisher nicht auf deutsch erschienen. Beide Ro­mane reichen jedoch nicht ganz an den ersten Teil heran.

 

 

© Michael Haul; veröffentlicht auf Astron Alpha am 4. Februar 2017