Die besten Stories von Stanley G. Weinbaum

Buchcover von "Die besten Stories von Stanley G. Weinbaum" (Playboy Science Fiction, Moewig Verlag 1980)

Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Best of Stanley G. Weinbaum (Ballantine Books 1974). Deutsche Ausgabe als Playboy Science Fiction Taschen­buch im Moewig Verlag (München 1980). Mit einem Vorwort von Isaac Asimov (1974). Deutsche Übersetzung von Leni Sobez. Taschenbuch, 368 Seiten.

 

Stanley G. Weinbaum (1902–1935) wird seit jeher als einer der wichtigsten Autoren der frühen Pulp-Science-Fiction ge­schätzt. Seine erste veröffentlichte Erzählung A Martian Odyssey, die im Juli 1934 im damals eher unbedeutenden, von Hugo Gerns­back herausgegebenen Magazin Wonder Stories erschien, schlug in der amerikanischen Science-Fiction-Szene ein wie eine Bombe. Die Erzählung wurde aus dem Stand als ein Geniestreich gefeiert und ihr Autor als der weltbeste lebende Science-Fiction-Autor gerühmt. Nicht nur bewies A Martian Odyssey einen „leichten, natürli­chen Schreibfluss und schriftstellerische Geschicklichkeit“, wie Isaac Asimov in seinem Vorwort zum vorliegenden Sammel­band feststellt, sondern sie wusste vor allem thematisch zu faszinieren: Hier wurden zum ersten Mal Aliens dargestellt, die nicht länger wie bisher in der Science-Fiction auf den Menschen als dessen Ideal, Retter, Feind oder hässlicher Spiegel bezogen waren, sondern die völlig unabhängig und aus völlig eigenem Herkommen heraus existier­ten – und dem Menschen daher auch vollkommen fremdartig und unverständlich erschienen. Nun, genau genommen hatte es auch schon vor Weinbaum Autoren gegeben, die völlig fremdartige, unverständliche Aliens geschildert hat­ten, so zum Beispiel J. H. Rosny Aîné, der in seinem Roman Les navigateurs de l’infini (1925) bizarre, dreibeinige Marsia­ner kreierte, oder Olaf Stapledon, der in seinem monumentalen Mythos The Last and First Men (1930) von Marsianern erzählte, die sogar nur aus Wölkchen bestehen, die sich zu einer ganzheitlichen Wesenheit zusammenschließen konn­ten. Doch diese beiden Autoren waren Europäer gewesen, und von der damaligen amerikanischen Autoren- und Le­serschaft der Pulps der Dreißigerjahre waren sie unbeachtet geblieben.

Stanley G. Weinbaum
Stanley G. Weinbaum (1902–1935)

Eine weitere Stärke Weinbaums war es, die astronomischen Begebenheiten seiner planetaren Schauplätze, die er stets aus unserem Sonnensystem auswählte, in die fiktive Erschaffung der Landschaften einzubeziehen, auch wenn er sich dabei natür­lich auf das astronomische Wissen der Dreißigerjahre stützte. So ist die Venus bei ihm beispielsweise noch immer zum Teil von einem schwülen, heißen Dschungel überwuchert, und auf dem Mars ist die Luft zwar sehr dünn und kühl, aber für Men­schen doch noch atembar.

 

Am 14. Dezember 1935 verstarb Stanley G. Weinbaum im Alter von nur 33 Jahren an Kehlkopfkrebs – nur anderthalb Jahre nach Veröffentlichung seiner ersten Erzäh­lung. Zu Lebzeiten veröffentlichte er zwölf Erzählungen und einen Roman (der nicht der Science-Fic­tion angehört); 15 weitere Erzählungen erschienen nach seinem Tod. Zu seinem Oeuvre zählen fernerhin noch eine Handvoll Gedichte. Von Weinbaums 27 Erzählun­gen sind in diesem Sammelband zehn enthalten (die US-Originalausgabe von 1974 enthielt noch zwei weitere), angeblich die besten Weinbaums, die einen guten Überblick über sein Schaffen bieten – und dem neugierigen, genrehistorisch interessierten Leser (wie beispiels­weise mir) die Frage beantworten können, ob die Lektüre Weinbaums über dieses historische Interesse hinaus dem Leser von heute noch etwas zu bieten vermag.

1.  Eine Mars-Odyssee

 

A Martian Odyssey (1934); 39 Seiten. Eine Mannschaft von vier Männern ist mit dem Raumschiff Ares auf dem Mars ge­landet – es ist die erste bemannte Marsexpedition. Als der Chemiker der Mission, Jarvis, mit einer Hilfsrakete einen Erkundungsflug antritt, fällt der Antrieb der Rakete aus, und sie stürzt hunderte Kilometer vom Landeplatz der Ares inmitten der Wüste Thyle ab. Jarvis, der nur leichte Blessuren davongetragen hat, entschließt sich, den langen Weg zur Ares zu Fuß zurückzulegen, statt darauf zu hoffen, von einer zweiten Erkundungsrakete entdeckt und geborgen zu werden. Auf seinem Weg durch die marsianische Wüste, in der nur wenige spärliche Pflanzen wachsen, stößt er zu­fälllig auf ein straußenähnliches Wesen mit einem langen, spitzen Rüssel und dünnen, knochigen Gliedma­ßen, das von einem schwarzen, scheußlichen Tentakelwesen angefallen wird. Jarvis verjagt das schwarze Biest mit ei­nem Schuss aus seiner Waffe, und das straußenartige Wesen freundet sich daraufhin mit Jarvis an. Beiden gelingt nur, eine sehr rudimentäre Kommunikation von wenigen Worten herzustellen. So erfährt Jarvis, dass das Wesen „Tweel“ heißt.

 

Auf seinem weiteren Weg weicht Tweel Jarvis nicht mehr von der Seite – und erstaunt Jarvis mit seiner eigentümli­chen Fortbewegung: Es kann gewaltige Sprünge hoch in die Luft machen und landet daraufhin stets auf seinem spit­zen Rüssel, der sich in den Sand boht. Die beiden Gefährten begegnen noch weiteren sonderbaren Kreaturen: einem aus Silikat bestehenden, Millionen Jahre alten Wesen, das sich in Pyramiden aus Ziegeln einmauert, die es selbst aus­scheidet; Teppiche aus Grashalmen, die auf Beinchen laufen; ein weiteres schwarzes Tentakelwesen, das mit Halluzi­nationen seine Opfer heranlockt; und schließlich emsig herumwuselnde Wesen von der Form kleiner Fässer oder Trom­meln, die Schubkarren mit Dreck vor sich herfahren und in riesigen „Dreckstädten“, ähnlich Ameisenhaufen, leben. Als Jarvis und Tweel in die „Dreckstadt“ eindringen und beide von den Fasswesen angegriffen werden, verteidigen sie sich gegenseitig tapfer – bis eine Hilfsrakete der Ares eintrifft und Jarvis direkt aus den Kampfhandlungen heraus retten kann. Tweel dagegen springt fluchtartig davon, und alle Versuche von Jarvis, ihn wiederzufinden, schlagen fehl.

 

Auf den Leser von heute wirkt Eine Mars-Odyssee wie ein fantasievolles Märchen voll überdrehter fantastischer Ideen. Der dürre Rahmen der Handlung dient nur dazu, die fantastische Odyssee des Helden Jarvis anzustoßen, die er sei­nen Mannschaftskameraden nachträglich wie eine Lagerfeuergeschichte zum Besten gibt. Die außerirdischen Kreatu­ren, die Weinbaum hier ersinnt, sind in der Tat überaus surreal, man möchte fast meinen dalíesk, indem verschiedenste unbelebte Dinge – Pyramiden, Fässer, Pauken – in die unmöglichsten und verrücktesten Lebensformen umgegossen werden. Das ist bildlich stark, aber auch grotesk und wohl auch schon 1934 wenig glaubwürdig. In gewisser Weise ist Weinbaum ein Vorläufer von Stanisław Lem, der sich ebenfalls darum bemühte, möglichst bizarre, andersartige und unverständliche Außerirdische zu kreieren. Der straußenähnliche Tweel hat es immerhin zu einiger Berühmtheit in der Science-Fiction gebracht. Kein Wunder, ist er ja auch ein sympathischer Charakter, der sich dem Menschen Jarvis zu­wendet. Zwar gelingt kaum eine vernünf­tige Unterhaltung zwischen beiden, aber man versteht sich immerhin nonver­bal, und Jarvis erklärt seinen Kameraden, dass Tweel auf Anhieb „sein Freund“ geworden sei. Letzten Endes ist Tweel eine weitere Version des aus Märchen und Fabeln bekannten „dankbaren Tieres“, das von einem menschlichen Retter aus einer misslichen Lage befreit wird und sich dafür erkenntlich zeigt.

 

Das schwarze telepathische Tentakelwesen, gegen das Jarvis und Tweel sich behaupten müssen, nimmt das blaue telepathische Tentakelwesen aus John W. Campbell Jr.s Das Ding (Who Goes There?, 1938) bereits vorweg – es ist wohl unwahrscheinlich, dass hier keine Entlehnung bzw. Inspiration stattgefunden hat. Interessant ist schließlich auch das antiquierte Bild vom Mars, auf dem der Mensch sich trotz dünner Luft und nächtlicher eisiger Temperaturen ohne Schutzanzüge und Atemgeräte aufhalten kann. Der Mars ist überwiegend von Wüsten überzogen, aber dennoch spär­lich bewachsen und belebt – entsprechend dem damals gängigen Klischee ist er eine alte, austrocknende, sterbende Welt. Auch gibt es hier immer noch das von Schiaparelli und Lowell etablierte marsianische Kanalsystem.

 

Eine Mars-Odyssee hat sich in Hinblick auf die Entwicklung des Genres, wie bereits dargelegt, Klassikerstatus erwor­ben. Literarisch ist die Erzählung dagegen eher schlicht und inhaltlich eine farbenfrohe, überdrehte Grille. Aber sie ist, nimmt man sie eher als Märchen denn als Science-Fiction, auch heute noch recht unterhaltsam, kurzweilig und wen­dungsreich. Gewiss nicht die „beste Science-Fiction-Kurzgeschichte aller Zeiten“, auch nicht die zweitbeste – aber zu den ungewöhnlicheren und besseren gehört sie allemal.

 

2.  Das Tal der Träume

 

Valley of Dreams (1934; 36 Seiten). Diese Geschichte ist eine direkte Fortsetzung von Eine Mars-Odyssee. Jarvis und sein Kamerad Leroy brechen mit einer Hilfsrakete vom Landeplatz der Ares auf, um wertvolle Filmaufnahmen aus dem Wrack der ersten, abgestürzten Hilfsrakete zu bergen – und um die Heimat von Tweel aufzuspüren, denn Jarvis will seinem marsianischen Freund unbedingt noch einmal begegnen. Während ihrer Expedition entdecken sie, dass das Leben auf dem Mars offenbar teils tierisch, teils pflanzlich ist – eine klare Trennung beider Formen hat es auf dem Mars nie gegeben. Später stoßen sie im Süden auf wassergefüllte marsianische Kanäle, gespeist von der südlichen Polkap­pe, und auf eine gigantische, monolithische Stadt, die an einem Kanalufer liegt, aber uralt und verlassen zu sein scheint. In einer Hüttensiedlung am Rande der Ruinenstadt treffen Jarvis und Leroy auf Artgenossen von Tweel und schließlich auf Tweel selbst, der sich überschwänglich über das Wiedersehen freut und mit Freuden bereit ist, den Menschen die Stadt zu zeigen.

 

In einem der riesigen Gebäude befindet sich eine uralte Bibliothek mit Wandmalereien, die deutlich machen, dass Tweels Vorfahren die Stadt gebaut haben müssen. Und nicht nur das: Offenbar hatten sie in der Spätsteinzeit auch die Erde besucht und waren in Ägypten als die Ibis-Gottheit Thoth angebetet worden. Jarvis meint sogar, Hinweise dafür zu sehen, dass die uralte Tweel-Gesellschaft eine perfekte Organisationsform entwickelt hat: die Anarchie. Er erklärt dazu:

 

Bei einer perfekten Rasse brauchst du keine Regierung; eine Regierung ist ein Bekenntnis der Schwäche, nicht wahr? Ein Be­kenntnis, daß ein Teil des Volkes nicht mit dem Rest Hand in Hand arbeiten will, und daß man Gesetze braucht, die diese Indi­viduen, die ein Psychologe anti-sozial nennt, zurückhalten. Gibt es keine anti-sozialen Personen – Verbrecher und so –, dann braucht man doch keine Gesetze oder Polizisten, nicht wahr? (S. 81)

 

Schließlich brechen Jarvis, Leroy und Tweel in ein nahegelegenes Tal auf, das Jarvis beim Überfliegen der Stadt ent­deckt hat, das sich jedoch als fatal erweist: Es ist bevölkert von Tausenden von „Traumbiestern“, jenen Tentakelwesen, die mit telepathischen Halluzinationen ihre Opfer wie Sirenen zu sich locken. Vor Jarvis’ Augen breitet sich eine Land­schaft all seiner geheimen Träume, Wünsche und Begehren aus – sowohl die angenehmsten als auch die verwerflich­sten. Wieder ist es Tweel, der ihn und Leroy rettet, indem er die Traumbiester attackiert. Mit Mühe und Not entkom­men alle drei dem Tal. Zum Dank schenkt Jarvis am Ende Tweel den wieder reparierten Atomantrieb der havarierten Hilfsrakete, um der Tweel-Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, sich wieder zu zivilisatorischer Höhe emporzu­schwingen und später vielleicht einmal mit der Erde in Handelskontakte zu treten.

 

Das Tal der Träume diente Weinbaum vor allem dazu, eine Reihe von Mysterien seines fremdartigen Mars, die seine Leser seit Eine Mars-Odyssee beschäftigten, zu lüften. So finden sich eine Menge interessanter Ideen in dieser Ge­schichte wie beispielsweise die halb tierisch, halb pflanzliche Art des marsianischen Lebens, Gedanken über die per­fekte Gesellschaftsordnung von übermorgen – die Anarchie, die radikale Freiheit in gleichzeitiger radikaler Verant­wortlichkeit – oder die „Gott-war-ein-Astronaut“-Idee, nach der die Götter der alten Ägypter in Wirklichkeit hochent­wickelte, außerirdische Kulturheroen gewesen waren. Längst sind all diese Ideen zu x-fach verwendeten Science-Fiction-Klischees geronnen. Hier wirken sie noch frisch und unverbraucht, und die Erzählung ist ähnlich kurzweilig wie Eine Mars-Odyssee.

3.  Die äußerste Stufe der Anpassung

 

The Ultimate Adaptive (1935; 35 Seiten). Der junge Arzt Dr. Daniel Scott kann seinen älteren Kollegen Dr. Bach dazu überreden, ein von ihm entwickeltes Serum an einem farblosen, unscheinbaren jungen Mädchen anzuwenden, das unheilbar an Tuberkulose erkrankt ist. Scott ging von der Annahme aus, dass jede Heilung eine Form von Anpassung darstellt, und extrahierte sein Serum zum Teil aus der extrem anpassungsfähigen Fruchtfliege. Bach und Scott spritzen dem todkranken Mädchen das Serum, das binnen weniger Tage gesund und vital wird. Doch schon bald müssen die beiden Mediziner erkennen, dass sie in Wirklichkeit ein Monster geschaffen haben, denn das Mädchen, Kyra Zelas, ist zu einem Wesen mutiert, das sich perfekt allen Situationen anpasst: Tritt es ins Sonnenlicht, werden seine Haare und die Haut dunkel, im Dunkeln nehmen die Haare und Haut hingegen einen hellen Ton an. Wenn es Geld braucht, er­schlägt es mitleidlos einen Passanten und beraubt ihn, und wenn es dann vor Gericht steht, betört es die männliche Gerichtsbarkeit, indem es plötzlich unwiderstehlich schön wird. Kyra macht keinen Hehl daraus, nach unbegrenzter Macht zu streben, denn damit wäre sie noch besser angepasst und überlebensfähig, und so reist sie nach Washington und beginnt, mit den Mächtigen anzubandeln, um ihren Einfluss zu mehren. Fieberhaft versuchen Scott und Bach, die monströse femme fatale zu stoppen . . .

 

Eine recht clevere Story, die die klassische femme fatale als Mutation und damit als einen Unfall der Evolution erklärt. Gewiss ist die Mär ein wenig überkandidelt – so ist Kyra Zelas, etwas übertrieben, praktisch unverwundbar, und die „Heilung“ ihrer extremen Anpassungsfähigkeit besteht am Ende lediglich in einem operativen Eingriff an ihrer Zirbel­drüse. Aber ein interessantes, fantastisches Gedankenspiel ist die Geschichte dennoch. 1957 verfilmte Kurt Neumann die Geschichte unter dem Titel She Devil. Zuvor war die Geschichte schon dreimal für das Fernsehen adaptiert worden (1949, 1952 und 1955). Sie ist bisher die einzige Erzählung Weinbaums, die es auf die Leinwand oder die TV-Bildschirme geschafft hat.

 

4.  Der Parasiten-Planet

 

Parasite Planet (1935; 42 Seiten). Ham Hammond ist ein Abenteurer und Händler, der im unwirtlichen, schwülheißen Dschungel der Venus Sporen der Xixtchil-Pflanze sammelt, die auf der Erde ein Vermögen einbringen, da sie sich dort zu einer Verjüngungsdroge verarbeiten lassen. Der Venusdschungel ist eine extrem unwirtliche Landschaft voller para­sitärer, gefährlicher Schimmelpilze und gefräßiger Kreaturen wie giftige, nach ihrer Beute ausschlagende Bäume oder protoplasmische, riesige Blobs – „Teigtöpfe“ genannt –, die über das Gelände rollen und alles auf ihrem Weg verzeh­ren. Als seine Hütte durch einen unterirdischen heißen Schlammausbruch im Boden versinkt, kann Hammond sich rechtzeitig retten und versucht sich zur hunderte Meilen entfernten Siedlung Erotia durchzuschlagen. Auf seinem Weg trifft er in der Einsamkeit des Dschungels überraschend auf die junge, mutige, aber auch kratzbürstige Biologin Pat Burlingame. Als auch ihre Hütte durch einen Teigtopf vernichtet wird, muss auch sie sich zur nächsten Siedlung durch­schlagen. Es dauert eine Weile, bis beide erkennen, dass ihre Überlebenschancen größer sind, wenn sie den Weg ge­meinsam zurücklegen und sich gegenseitig helfen.

 

Die Venus als schwüler, dampfender Dschungel – das war anno 1935 längst ein Science-Fiction-Klischee, abgeleitet aus einer wissenschaftlichen Theorie über die Venus, die zuerst 1918 vom schwedischen Chemiker Svanté August Arrhe­nius formuliert, aber schon bald darauf von Astronomen auch angezweifelt worden war. Bis in die Fünfzigerjahre hi­nein wurde dieses Klischee noch in der Science-Fiction verwendet; heute, da die wahren höllischen Bedingungen auf der Venus gut bekannt sind, spielt der Planet in der Science-Fiction so gut wie gar keine Rolle mehr. Stanley G. Wein­baum variiert die Venus insofern, als er eine originelle Ökologie für sie erfindet. So postuliert er, dass die Venus beim Umlauf um die Sonne dem Zentralgestirn stets dieselbe Seite zuwendet. Die Sonnenseite ist bei ihm eine glühend heiße, unbewohnte Wüste, die sonnenabgewandte Seite eine gigantische Eiswüste; nur ein schmaler Gürtel zwischen beiden Hemisphären bietet ausreichende Bedingungen für Leben, und nur dort hat sich der üppige, aber überaus gars­tige und für Menschen gefährliche Dschungel entwickelt.

 

Die Story selbst ist für Weinbaum nur ein Vehikel, um vor dem Leser diese fantastische Venuswelt auszubreiten. Sie ist ein klassisches Abenteuer mit klassischen, draufgängerischen Abenteurerfiguren, wobei das patente, selbstbewusste, kratzbürstige und am Ende aber doch bezaubernde Dreißigerjahre-damsel besonders hervorsticht. Alles in allem ist die Ge­schichte nur Durchschnitt.

 

5.  Pygmalions Brille

 

Pygmalion’s Spectacles (1935; 26 Seiten). Ein Mann namens Dan Burke verlässt in New York betrunken eine Party und trifft im Central Park auf einen koboldartigen, bärtigen kleinen Mann, der sich Professor Albert Ludwig nennt. Burke wird von dem Mann in ein erkenntnisphilosophisches Gespräch darüber verwickelt, was denn „Wirklichkeit“ genau sei und ob sie sich vom Traum unterscheiden lasse. Ludwig behauptet, er habe ein Gerät entwickelt, womit er eine Traumwelt so real wirken lassen könne, dass ihre Grenzlinie zur Realität völlig verwischt ist. In seinem Hotelzimmer demonstriert Ludwig seine Erfindung: Er setzt Burke ein Gerät ähnlich einer Gasmaske mit Brillengläsern und Mund­stück auf, in das er zuvor eine klare Flüssigkeit eingefüllt hat. In dieser Flüssigkeit ist fotochemisch eine zuvor von Ludwig gefilmte Geschichte enthalten, die per Elektrolyse zum Leben erweckt wird – mit Geruchs-, Ton- und anderen Sinneseindrücken.

 

Und in der Tat: Schon bald befindet sich Burke in einer paradiesartigen Märchenlandschaft und trifft dort an einem kla­ren Bach auf ein feenartiges, wunderschönes junges Mädchen, das sich Galatea nennt. Burke erlebt eine wundervolle Zeit mit ihr, und es dauert nicht lang, da sich beide ineinander verlieben. Galateas Großvater Leucon, bei dem sie lebt, warnt Burke, dass er Unheil heraufbeschwört, da er aus dem unwirklichen Schattenland der Realität stammt und daher unweigerlich wieder aus dem paradiesischen Land namens Paracosma verschwinden wird. Als Galatea Burke eröffnet, dass sie das Naturgesetz von Paracosma brechen und mit Burke eine Verbindung eingehen will, zerbricht die Illusion, und Burke findet sich in der Realität von Ludwigs Hotelzimmer wieder. Ludwig ist fort, und Burke geht bedrückt nach Hause. Erst ein halbes Jahr später trifft er Ludwig zufällig im Central Park wieder, und Ludwig verdeutlicht ihm, dass das ge­samte interaktive Erlebnis von Burke wirklich nichts anderes als ein tricktechnisch ausgefeilter Film gewesen sei, den Ludwig zuvor gedreht hat. Galatea indes in dem Film war von Ludwigs Nichte Tea gespielt worden. Dass sie nicht vollends unwirk­lich ist, tröstet Burke über den Verlust seines süßen Traumbildes hinweg.

 

Stanley G. Weinbaum spielt hier mit dem griechischen Mythos vom zyprischen Künstler Pygmalion, der sich in seine von ihm geschaffene Statue einer wunderschönen Frau verliebt – so sehr, dass er die Liebesgöttin Venus darum bittet, sie möge ihm die Statue beleben. Venus entspricht dem Wunsch. Im 18. Jahrhundert erhielt Pygmalions Statue den Namen Galatea, so wie hier Burkes Wunschbild eines schönen, aber illusorischen Mädchens heißt. Die Geschichte ist zum einen interessant als milde Kritik an der illusorischen Macht von Spielfilmen, die unerreichbare Wünsche nährt und in der sich Zuschauer sehnend verlieren können. Zum anderen ist sie natürlich auch eine bemerkenswerte Vor­wegnahme der heutzutage mit Nachdruck verfolgten Realisierung der virtual reality, die mittels VR-Brillen und sensi­tiven Ganzkörperanzügen eine interaktive, nahezu perfekte „Wirklichkeit“ vorgaukelt.

 

6.  Die Welten des Wenn

 

The Worlds of If (1935; 23 Seiten). Der verwöhnte Industriellensohn Dixon Wells hat ein Problem: Er kommt immer und überall zu spät. Als er im geschäftlichen Auftrag seines Vaters einen Raketenflug von New York nach Moskau nehmen soll, wird er durch ein zufälliges Zusammentreffen mit seinem ehemaligen Physik-Professor Haskel van Manderpootz aufgehalten – zu seinem Glück, denn die Rakete kollidiert später über dem Atlantik mit einem anderen Flugschiff und stürzt ab. Wells trifft sich mit seinem alten Professor, der ihm eröffnet, eine sensationelle Erfindung geschaffen zu ha­ben: einen „Subjunktivisor“, ein Gerät, das den Anwender in die außerhalb des Zeitstroms liegenden potenziellen „Welten des Wenn“ blicken lassen kann, die sich hätten realisieren können, wenn andere Umstände zu ihnen geführt hätten. Dixon erprobt das Gerät, sieht die alternative Welt und erfährt, dass es ganz gut gewesen war, dass er vor einigen Jahren mit seinen Ak­tien bankrott gegangen war: Anderenfalls hätte er eine unglückliche Ehe mit einer Frau geführt, die er damals verehrt und die ihn nach seinem Bankrott jedoch verschmäht hatte.

 

Wells’ Vater tadelt seinen Sohn wegen seiner ständigen Verspätungen und behauptet eines Tages, dass sogar die Ra­kete nicht abgestürzt wäre, wenn Dixon sie rechtzeitig erreicht hätte. Dieser Gedanke lässt Dixon Wells nicht mehr los. Er trifft sich ein zweites Mal mit Manderpootz, um erneut den Subjunktivisor zu benutzen und sieht, was gesche­hen wäre, hätte er noch die Rakete erreicht: Dixon hätte ein hübsches Mädchen namens Joanna Caldwell kennenge­lernt, beide hätten sich während des Fluges ineinander verliebt, doch dann – wäre die Rakete trotzdem abgestürzt, und beide hätten den Absturz nicht überlebt. Dixon ist wie betäubt von diesem „nicht erlebten Erlebnis“. Als ihn Man­derpootz später darauf hinweist, dass in der Realität eine gewisse Joanna Caldwell den Absturz überlebt hat, ist Wells zunächst außer sich vor Freude und nimmt Kontakt zu dem Mädchen auf. Doch hat die reale Joanna Dixon Wells nie kennengelernt und längst ihren Retter, einen jungen Offizier des Raketenschiffs, geheiratet. Wells ist wieder einmal zu spät gekommen.

 

Großartig! Die Welten des Wenn ist vielleicht die beste aller in diesem Band enthaltenen Storys. Sie liefert ein munte­res Vexierspiel mit den Möglichkeiten, die die Realität vermeintlich verpasst hat, und der hadernden Frage, „was wohl hätte sein können, wenn . . .“, die wahrscheinlich jeder Mensch sich in der einen oder anderen Situation schon einmal gestellt hat. Vor allem aber ist die Geschichte mit einem umwerfenden, lakonischen Humor geschrieben; sie fasst ihr Gedankenexperiment wirklich nur als ein träumerisches Spiel auf. Van Manderpootz wird dabei zur grotesken Karika­tur eines von seiner eigenen Bedeutung überzeugten Wissenschaftlers. Als Wells, nachdem er mittels des Subjunktivi­sors festgestellt hat, dass er durch das faktische Schicksal einer unglücklichen Ehe mit einer durchtriebenen Frau ent­ronnen ist, feststellt: „Von jetzt an werde ich nichts mehr bedauern!“, erwidert van Manderpootz:

 

„Das“, antwortete der Professor großartig, „ist van Manderpootz’ großer Beitrag zum menschlichen Glück. Von allen traurigen Worten von Zunge oder Feder ist das traurigste dies: ,Es hätte sein können!’ Mein Freund Dick, das gilt jetzt nicht mehr. Van Manderpootz hat gezeigt, daß es eigentlich heißen müßte: ,Es hätte schlimmer kommen können!’ (S. 206f.)

 

Diese schlichte Weisheit wird auch am Ende der Geschichte ihre Gültigkeit nicht verloren haben. „Die Welten des Wenn“ lassen den Helden nur sehen, dass alles zwar anders, aber deshalb keineswegs besser oder glücklicher hätte verlaufen können. Das mag als Quintessenz banal klingen, aber zum schmunzelnden Nachdenken verführt diese kleine Preziose nichtsdestotrotz.

 

7.  Der irre Mond

 

The Mad Moon (1935; 32 Seiten). Grant Calthorpe, früher ein erfolgreicher, in den Zeitungen gefeierter Sportler, ver­dient sich nunmehr sein Geld als Abenteurer, der auf dem Jupitermond Io Ferva-Blätter sammelt, die auf der Erde für die Herstellung wertvoller Alkaloide gebraucht werden. Io ist ein dicht überwucherter Mond mit einem heißen, unge­sunden Klima; er ist bevölkert von völlig verrückt anmutenden Spezies wie den sogenannten „Bengeln“, großköpfigen, knochigen Wesen, die sich scheinbar vollkommen unsinnig verhalten, und den „Schleichern“, einer dreiäugigen, klei­nen, rattenartigen Spezies, die allerdings intelligent ist, Dörfer baut und Feldwirtschaft betreibt. Menschen werden auf Io zudem von dem „weißen Fieber“ geplagt, das ihnen dann schlimme Halluzinationen bereitet. Eines Tages trifft Cal­thorpe mitten im Wald auf ein schönes junges Mädchen, das er sofort als Lee Neilan erkennt, der berühmten Tochter seines reichen Auftraggebers. Beide glauben zunächst voneinander, dass sie nur eine Halluzination darstellen, doch dann stellt sich heraus, dass Lee „echt“ ist und auf einem Flug zur Menschensiedlung am Südpol abgestürzt ist. Calthorpe kümmert sich um die fiebernde Lee, doch als ein Angriff der Schleicher auf Calthorpes Hütte beide dazu zwingt, hinauf ins Gebirge zu flüchten, wird es eng für das ungleiche Paar . . .

 

Der irre Mond ist kaum mehr als ein schaler Aufguss von Der Parasiten-Planet: Erneut wird eine extrem gefährliche Flora und Fauna auf einem exotischen Himmelskörper ausgemalt, der lediglich das Element totaler Verrücktheit hin­zugefügt wurde, und Calthorpe und Lee sind nichts mehr als eine Kopie von Ham Hammond und Pat Burlingame. Für meine Begriffe sind die verschiedenen Spezies auf Io bei Weitem zu verrückt, um auch nur annähernd glaubhaft zu wirken. Diese Geschichte ist definitiv die schwächste in diesem Sammelband.

 

8.  Der rettende Steinmann

 

Redemption Cairn (1935; 45 Seiten). Der Raumschiffpilot Jack Sands verliert seine Lizenz, als er im Jahre 2110 mit einem Forschungsschiff, mit dem er vom Jupitermond Europa zurückgekehrt ist, auf Long Island eine kapitale Bruchlandung hinlegt, bei der außer ihm und dem Kopiloten alle Insassen sterben und alle Forschungsergebnisse verbrennen. An­derthalb Jahre lässt er sich gehen, bis er unverhofft von seinem alten Freund, Kapitän Henshaw, besucht wird. Hen­shaw hat Sands eine erneuerte Lizenz verschafft und heuert ihn für eine erneute Expedition zum bisher fast uner­forschten Europa an. Die Mission hat für Sands zunächst nur einen Haken: Sein Kopilot ist Claire Avery, genannt „Der goldene Blitz“, eine tollkühne, von den Medien geliebte Raketen-Rennfliegerin. Tatsächlich erweist sich während des Fluges zum Europa, dass Avery kaum über Raketenflugkenntnisse verfügt, und Sands empfindet die junge Dame als reichlich hochnäsig.

 

Auf Europa angekommen, erkennt Sands jedoch bald, dass ihm nicht die Wahrheit über die Mission mitgeteilt wurde. Einer der Mitreisenden, Gogrol, ermordet bis auf Sands und Avery, die er noch als Piloten benötigt, die übrigen Besat­zungsmitglieder und macht sich auf die Suche nach einem „Steinmann“, einem Bruchsteinhügel, den der Leiter der ersten Europamission aufgebaut hatte, denn in ihm hofft Go­grol eine Kopie der kostbaren Forschungsergebnisse zu finden, die einst auf Long Island verbrannten. Diese verheißen nämlich die Entwicklung eines neuen, höchst schub­starken Raketenantriebs. Sands und Avery müssen einen Kampf auf Leben und Tod gegen Gogrol bestehen . . .

 

Ein weiteres Weinbaumsches Raumfahrtabenteuer auf einer exotischen Welt, dem Mond Europa, der als eine von lieb­lichen Tälern mit üppiger Vegetation, aber recht dünner Luft ausgemalt wird und der von fantastischen Wesen wie den sogenannten „Ballonvögeln“ bevölkert ist. Sands und Avery sind die üblichen, Weinbaumschen Dreißigerjahre-Aben­teuerhelden, während zusätzliche Spannung mit der Crime-Story um den Mörder Gogrol hinzugerührt wurde. Kurz­weilig, aber auch nicht sonderlich eindrucksvoll.

 

9.  Das Ideal

 

The Ideal (1935; 30 Seiten). In einer weiteren Erzählung um den exzentrischen Physiker Haskel van Manderpootz und den müßigen Millionärssohn Dixon Wells überzeugt Manderpootz seinen jungen Freund, dass er das Rätsel um den Bau des Universums entschlüsselt habe: Neben den Materie- und Energieteilchen gebe es nämlich auch Teilchen, aus denen Raum und Zeit selbst bestehen, die „Spationen“ und „Chrononen“. Schließlich postuliert Manderpootz auch die Existenz von sogenannten „Psychonen“, kleinste Teilchen, aus denen Gedanken in ihrer idealen, perfekten Form be­stehen. Manderpootz hat sogar ein Gerät gebaut, mit dem er Psychonen auf einem Spiegel sichtbar machen kann. Wells bietet sich als Versuchskaninchen an.

 

Beim Blick in das arbeitende Gerät konzentriert sich Wells auf seine ideale Vorstellung von einem Mädchen, und tat­sächlich erscheint auf dem Spiegel ein Mädchen, so wunderschön und vollkommen in Wells’ Augen, dass er dieses Bild kaum wieder vergessen kann. Manderpootz stellt fest, dass Wells’ ideales Mädchen verdächtig einer Medienschönheit aus Wells’ Kindertagen gleicht, auf die Wells damals offenbar geprägt wurde. Manderpootz war mit dieser Frau zufällig damals bekannt und kennt auch deren Tochter. Als Wells diese Tochter kennenlernt, ist er fasziniert von der jungen Frau, die seinem Ideal so nahe kommt wie keine andere. Beide freunden sich rasch miteinander an, aber als eines Ta­ges die junge Frau selbst einmal in das Manderpootzsche Gerät sieht und sich dabei um des Kicks Willen den idealen Horror vorstellt, wird sie dabei fast psychisch irr. Wells kann den Versuch noch rechtzeitig abbrechen, doch der Blick der jungen Frau in Wells’ Gesicht in diesem Moment führt dazu, dass sie Wells für immer mit dem Horror verbindet, den sie gesehen hat – sie ist für Wells verloren.

 

Die Geschichte ist mit demselben lakonischen Humor geschrieben wie Die Welten des Wenn, und die Karikatur des kauzigen von Manderpootz ist erneut köstlich. Wie er Wells in ihrem philosophischen Gespräch in wenigen Sätzen beweist, dass Himmel und Hölle dasselbe sind (S. 304f.), ist überaus frappierend und einleuchtend. Ansonsten ist die Geschichte jedoch etwas ziellos und verspricht mit ihrem starken Titel mehr, als sie schließlich einzulösen vermag, nicht zuletzt, weil es ihr auch an einer trefflichen Pointe mangelt.

 

10.  Die Lotusesser

 

The Lotus Eaters (1935; 40 Seiten). Ham Hammond und Pat Burlingame haben, nachdem sie sich durch den Venus­dschungel zur Siedlung Erotia durchgeschlagen haben, geheiratet (zur Vorgeschichte siehe oben Der Parasiten-Planet). Jetzt sind der Ingenieur und die Biologin statt in die Flitterwochen mit einem Raketenschiff zu einer staatlich finanzierten Expedition aufgebrochen, bei der sie die eisige, in ewiger Dunkelheit liegende Nachtseite der Venus erfor­schen sollen. Sie entdecken warmblütige, fremdartige Pflanzen und treffen auch erneut auf „dreiäugige Nachtbewoh­ner“, teuflische Kreaturen, die das Licht meiden und denen Ham und Pat bereits in den dunklen Schluchten des Gebir­ges nahe der Tag-und-Nacht-Grenze beinahe zum Opfer gefallen wären. Schließlich stoßen sie auf seltsame, binsen­korbähnliche Kreaturen, die sich als hochintelligente, bewegliche Pflanzen entpuppen. Die Wesen, deren Geister kol­lektiv miteinander verbunden zu sein scheinen und die Ham und Pat „Oscar“ taufen, sind sehr aufnahmefähig, erlernen in kürzester Zeit das Englisch der beiden Besucher und beantworten bereitwillig deren Fragen. Ham und Pat erkennen jedoch bald, dass die Intelligenz von Oscar nur eine träumerische Qualität hat, denn die Pflanzen kennen keinerlei Wil­len und Initiative und vegetieren nur wunsch- und emotionslos vor sich hin. Sie sind passiv wie Lotusesser, wie Pat bemerkt. Dieselbe Passivität überträgt sich fatalerweise auf Ham und Pat, als beide die Sporen von Oscar einatmen, und nur mit letzter Not kann Ham gegen diese Teilnahmslosigkeit ankämpfen und Pat und sich selbst vor den mörderi­schen dreiäugigen Nachtbewohnern in die Sicherheit der Rakete retten.

 

Die Lotusesser ist eine interessante Erzählung, die über das Wesen und die Zweckhaftigkeit von Intelligenz philoso­phiert. Zunächst führen Ham und Pat darüber ein kluges Gespräch, und Pat bezweifelt, dass Intelligenz ein so heraus­ragendes evolutionäres Mittel des Überlebens darstellt, wie sich der Mensch das nur zu gern einbildet. Später stellt die überaus seltsame und originell ausgeformte pflanzliche Lebensform von Oscar die Begrifflichkeit von Intelligenz und ihre instrumentelle Funktion fundamental in Frage. Das ist durchaus clever und anregend, auch wenn Weinbaum hier zum Teil mit plakativen Vereinfachungen operiert, die ein weiteres Hinterfragen herausfordern. So schließt Pat beispielsweise aus der Analyse von Oscars Verhalten, dass der fundamentale Unterschied zwischen Pflanzen und Tie­ren darin besteht, dass Tiere einen Willen haben und Pflanzen nicht – womit das komplizierte Problem der begriffli­chen Differenzierung von Willen und Instinkt völlig ausgeklammert wird. Und auch Oscars Erlernen des Englischen kann sich kaum wie hier geschildert vollziehen. Um beispielsweise auf die Frage: „Kannst du lügen?“, die Oscar gestellt wird, zu antworten, bedarf es eines klaren Begriffs von „lügen“, der nicht durch das bezeichnende Wort vermittelt wird. Doch von diesen logischen Schwächen abgesehen macht Die Lotusesser eine sehr originelle und intelligente Figur und zählt mit zu den besten Erzählungen dieser Anthologie.

 

 

© Michael Haul; veröffentlicht auf Astron Alpha am 31. Mai 2017