Poul Anderson: Das Avatar

Buchcover des Romans "Das Avatar" (1978) von Poul Anderson in der Ausgabe vom Bastei-Lübbe-Verlag 1981

The Avatar (1978). Science-Fiction-Roman. Die deutsche Ausgabe erschien 1981 im Bastei-Lübbe-Verlag (Bergisch-Gladbach). Übersetzung von Harro Christensen. Taschenbuch, 503 Seiten.

 

In nicht allzu ferner Zukunft haben die Menschen am anderen Ende der Erdumlaufbahn, verborgen hinter der Sonne, einen schmalen, mehrere Kilometer langen Zylinder entdeckt, der aus superdichter Materie besteht und mit einem Viertel der Lichtgeschwindigkeit um seine Längsachse rotiert. Der Artefakt ist eine Schöpfung der „Anderen“. Der Zy­linder, den die Menschen bald Tipler- oder einfach T-Maschine nennen, ist ein Sternentor, durch das Sprünge zu ande­ren Orten in der Raumzeit der Galaxis möglich sind. Die Anderen haben in der gesamten Galaxis unzählige Sternentore installiert. Die Kurse, auf denen man zwischen den verschiedenen Toren springen kann, sind jedoch bis auf eine einzige Ausnahme unbekannt.

 

Der eine, offen stehende Weg durch das Tor führt zu einem nahegelegenen Sonnensystem, das die Menschheit be­reits seit einigen Jahrzehnten kolonisiert hat. Auf der Erde jedoch ist ein politischer Zirkel von Verschwörern ent­stan­den, der verhindern will, dass sich die Menschheit noch weiter ins All ausbreitet. Ihrer Meinung nach soll sich die Menschheit vielmehr auf die Lösung der immensen hausgemachten Probleme auf der Erde konzentrieren.

 

Als der Raumfahrtunternehmer Dan Brodersen mit einem eigenen Raumschiff die Pläne der Verschwörer durchkreuzen will, führt dies zu seiner Verfolgung, seiner Flucht und am Ende zum Sprung durch das Sternentor aufs Geratewohl. Damit beginnt eine fantastische Odyssee, Sprung um Sprung, Sternentor um Sternentor, kreuz und quer durch die Raumzeit der Galaxis, auf der die Geflüchteten eine Vielzahl faszinierender Planeten und Sterne kennenlernen. Die ein­zige Hoffnung von Brodersen und seiner Mannschaft aber ist, die Erbauer der Sternentore zu finden, um sie darum zu bitten, ihnen den Rückweg zur Erde mitzuteilen.

 

Durchwachsene Mischung aus Space und Soap

 

Poul Anderson (1926–2001) zählt zu den erfolgreichsten und produktivsten amerikanischen Science-Fiction-Autoren aller Zeiten. Sein hauptsächliches Genre war die Space Opera, er hat daneben aber auch Fantasyromane geschrieben. Zuletzt war sein Name 2009 in den Blickpunkt einer breiteren Öffentlichkeit gerückt, als die Behauptung verbreitet wurde, dass James Cameron für seinen Science-Fiction-Blockbuster Avatar angeblich bei Poul Andersons Kurzge­schichte Call Me Joe abgekupfert habe, die 1957 im Astounding erschienen ist. Da ich die Kurzgeschichte nicht kenne, kann ich dazu nichts sagen. Ein kurioser Zufall ist es allerdings schon, dass Anderson 1978 auch einen Roman mit dem Titel The Avatar geschrieben hat. In diesem Roman erscheint sogar ein Planet namens Pandora (!), der einst von huma­noiden Aliens mit blauer Haut (!) bewohnt wurde (S. 363–383). Gewiss nur Zufall, denn darüber hinaus haben die Hand­lung und die Elemente dieses Romans mit James Camerons Film nichts zu tun. Dieser Fall zeigt deutlich, dass man in der Genreliteratur mit dem Vorwurf, irgendwer habe von irgendwem abgeschrieben, vorsichtig umgehen sollte – denn welches Erzählmotiv oder Erzähldetail hat es tatsächlich noch nie in der Science-Fiction gegeben, welcher Autor ist mit seinen Ideen wirklich durchweg originär?

 

Vor über 30 Jahren habe ich Das Avatar das erste Mal gelesen, und damals hatte mich der Roman ungemein fasziniert. Nachdem ich jetzt das Buch zum zweiten Mal gelesen habe, muss ich leider zu einem durchwachsenen Fazit kommen. Wirklich empfehlen kann ich das Buch leider nicht.

 

Der Roman handelt von klassischen Space-Opera-Themen: Es geht um den Aufbruch der Menschheit ins All und den Erstkontakt mit einer hochentwickelten, fast gottgleichen interstellaren Rasse, den „Anderen“. Wie die meisten Space Operas ist Das Avatar eine positive Utopie: Der Roman feiert die Neugier und den Wissensdurst des ins All vorsto­ßen­den Menschen, illustriert dabei die Faszination für die Schönheit des Weltraums, der Sterne und fremder Planeten, und erzählt von nahezu allmächtigen, wohlgesonnenen Außerirdischen, in deren Schoß sich die Menschheit geborgen fühlen darf.

 

All das klingt interessant und spannend, und das ist es meistenteils auch – zumindest sobald Brodersens Odyssee durch unsere Galaxis begonnen hat. Manche der fremden Welten, die das Raumschiff besucht, werden sehr schön und wundervoll geschildert. Besonders fesselnd ist der Besuch auf Pandora geschrieben, einer erdähnlichen, belebten Welt unter einer alten, sterbenden Sonne. Andere Welten dagegen sind zu sehr von theoretischer Spekulation geprägt und eher von langweiliger Abstraktheit, so etwa die Absurdität einer intelligenten Rasse auf einem Neutronenstern (!). Die verzweifelte Suche der Besatzung nach einem Weg zur Erde zurück hält den Leser bei der Stange.

 

Leider beginnt die Odyssee durchs All aber erst in der Mitte des Buches. Die gesamte erste Hälfte erzählt dagegen lang­atmig die uninteressante Verschwörung auf der Erde und Dan Brodersens Versuch, diese zu durchkreuzen. Pro­ble­ma­tisch sind auch die zum Teil unsympathischen Figuren. Sie atmen auf Schritt und Tritt die Siebzigerjahre und stellen eine eigenartige Mischung aus freiheitlichem Denken und Verklemmtheit dar. So regiert die „freie Liebe“: Jede mit je­dem und umgekehrt. Ständig und immerzu wird geknutscht und gevögelt – und in den Pausen dazwischen geraucht oder Whisky getrunken. Die Krone gewinnt in diesem fröhlichen Reigen eindeutig die weibliche Hauptfigur Caitlin. Sie ist – na, wie wohl? Richtig geraten: Sie ist eine umwerfend aussehende Sexbombe, schlank, mit tollen Brüsten und überhaupt so aufregend, dass alle ihr zu Füßen liegen. Das ist zur Freude aller männlichen Passagiere weiter kein Pro­blem, da Caitlin auch mit allen ins Bett geht. Ihr Herz aber gehört? Richtig: natürlich dem stereotyp gezeichneten Sil­berrücken der Truppe, dem Haudegen Brodersen, der seine Vorrechte auch weidlich auslebt. Brodersen ist zwar schon fünfzig, stämmig, hat eine Wampe und wird auch sonst nicht besonders sexy dargestellt. Warum Caitlin nur ihn liebt, weiß der Teufel – schlüssig geschildert wird’s nicht.

 

Monogame Beziehungen sollen in dieser Zukunft wohl der rückständigen Vergangenheit angehören. Verklemmt wirkt das Ganze trotzdem, weil die Figuren sich ständig gegenseitig erklären müssen, warum sie nun miteinander schlafen und dass das ja völlig in Ordnung sei so. Captain Brodersen hat gleichzeitig eine angeblich von ihm zärtlich geliebte, aber nicht annähernd so attraktive Ehefrau, die zuhause geblieben ist, um die zwei Kinder zu hüten. Selbstredend, dass sein Eheweib freiwillig monogam bleibt, weil ihr Herz ganz allein ihrem Göttergatten gehört – während Broder­sen die Puppen tanzen lässt. Wie praktisch! Genau so stellten sich chauvinistische Science-Fiction-Autoren in den Sechziger- und Siebzigerjahren die „freie Liebe“ vor! Auf mich wirkt das verlogen bis zum Erbrechen.

 

Hinzu tritt das ewige Psychologisieren. Bei der Zigarette danach werden Probleme gewälzt, dass man sich in einer zweitklassigen Soap Opera wähnt. Caitlin geht einem dabei am meisten auf den Zeiger mit ihrer stets gleichblei­ben­den Güte, ihrem ewigen Verständnis und ihrer ständigen Hilfe bei den Probleme der anderen Schiffsgenossen. Sie wirkt wie eine Hure mit goldenem Herzen und bietet jedem ihren mütterlichen Busen, um sich auszuweinen.

 

Alles in allem: Die Space Opera ist recht nett gelungen, die Soap Opera nervtötend und überflüssig, der Verschwö­rungs­krimi zu Beginn unglaubwürdig und langweilig. Durchwachsen – und mitnichten Poul Andersons „Meisterwerk“, wie die gewohnt vollmundige Werbung auf dem Buchdeckel verspricht.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 5. Februar 2016