Alastair Reynolds: Chasm City

Buchcover des Romans "Chasm City" (2001) von Alastair Reynolds; Wilhelm Heyne Verlag

Chasm City (2001). Science-Fiction-Roman. Die deutsche Ausgabe erschien 2007 im Wilhelm Heyne Verlag, München (Heyne Band 52221). Übersetzung von Irene Holicki. Umschlagbild von Chris Moore. Taschenbuch, 832 Seiten.

 

Im 26. Jahrhundert hat sich die Menschheit mit relativistischen Raumschiffen bis in die der Sonne näher gelegenen Sternsysteme ausgebreitet und dort mehrere Planeten kolonisiert. Auf dem Dschungelplaneten Sky’s Edge, der sich im 11,4 Lichtjahre entfernten Doppelsternsystem 61 Cygni befindet, tobt seit der Kolonisierung vor 200 Jahren ein perma­nenter Bürgerkrieg. Der ehemalige Soldat und Scharfschütze Tanner Mirabel steht seit Längerem als Sicherheitsexper­te in den Diensten des skrupellosen Waffenschmugglers Cahuella. Als Tanners Chef von Söldnern des Aristokraten Rei­vich aus Rache ermordet wird, da zuvor Reivichs Familie mit Waffen, die Cahuella verkauft hatte, ausgelöscht worden war, macht sich Tanner auf, Reivich zu liquidieren. Reivich will sich mit dem bald aus dem Orbit abreisenden Raum­schiff Orvieto nach Yellowstone absetzen, einem kolonisierten Planeten im Epsilon-Eridani-System, auf dem Reivich sehr gute Beziehungen hat. Tanner will ebenfalls die Orvieto erreichen – und entgeht dabei nur knapp einem Atom­bomben-Attentat auf den Weltraumfahrstuhl von Sky’s Edge.

 

Jahrzehnte später erwacht Tanner in einer um Yellowstone kreisenden Raumstation des „Eisbettler-Ordens“. Der Orden betreut Reisende, die den Kälteschlaf während eines interstellaren Fluges nur schlecht überstanden haben. Tanner hat anfangs Probleme, sich an seine Identität zu erinnern. Außerdem plagen ihn ungewöhnlich plastische Träume, in denen er immer wieder Episoden aus dem Leben von Sky Haussmann erlebt, dem Gründer der ersten Kolonien auf Sky’s Edge. Haussmann hatte vor langer Zeit der Besatzung des Raumschiffs Santiago angehört, das im 22. Jahrhundert ge­meinsam mit vier weiteren Schiffen vom Merkur zum 61-Cygni-System aufgebrochen war. Die Mission dieser Schiffe, die mit nur 8 % der Lichtgeschwindigkeit flogen und für ihre Reise 150 Jahre brauchten, war die Gründung der aller­ersten Kolonien außerhalb des Sonnensystems. Mit listenreichen und verschlagenen Mitteln, wobei er auch vor Mor­den und Folterungen nicht zurückschreckte, war es Haussmann im Laufe der Jahre gelungen, zum Captain der Santia­go aufzusteigen und die übrigen Schiffe der Flotte abzuhängen, um als erster Sky’s Edge zu erreichen und den Plane­ten für sich in Besitz zu nehmen. Als später die anderen Schiffe eintrafen, ließen sich auch ihre Besatzungen auf Sky’s Edge nieder, und es kam zum erbitterten Krieg zwischen den Parteien, der seitdem kein Ende mehr gefunden hatte.

 

Tanner Mirabel kann sich keinen Reim auf diese Visionen machen. Er weiß nur, dass er um jeden Preis Reivich zur Stre­cke bringen will. Er verlässt die Raumstation des Eisbettler-Ordens und reist nach Chasm City, der größten Metropole auf Yellowstone, wo er Reivich vermutet. Einst war die überkuppelte Stadt am Rande eines kilometertief herabrei­chenden Abgrundes ein strahlendes, technologisch extrem hochstehendes Utopia. Doch vor sieben Jahren wurden sämtliche nanotechnologischen Systeme von Chasm City von der sogenannten „Schmelzseuche“ befallen, einem Com­putervirus unbekannter Herkunft. Das betraf auch die automatischen Reparatursysteme der kilometerhohen Wolken­kratzer, sodass diese bizarre Wucherungen ausbildeten und in den oberen Etagen zum sogenannten „Baldachin“ zu­sammenwuchsen. Seit der Katastrophe herrscht de facto Anarchie in der Stadt; während die reichen, durch künstliche Implantate unsterblich gewordenen Aristokraten im Baldachin leben, fristen im „Mulch“, in den Slums am Boden der Stadt, die Menschen ein ärmliches und gefährliches Dasein.

 

Auf seiner Jagd nach Reivich begegnet Tanner mehreren Menschen sowohl aus dem Mulch als auch aus dem Balda­chin. Mehrfach gerät er in lebensbedrohliche Situationen und weiß nie, wem er restlos vertrauen kann. Doch auch das Vertrauen in seine eigene Identität gerät mehr und mehr ins Wanken, als Tanner nicht nur Träume und Visionen aus dem Leben von Sky Haussmann erlebt, sondern er sich auch an Situationen aus dem Leben seines ehemaligen Chefs Cahuella erinnern kann . . .

 

Düstere, clever verschachtelte Science-Fiction Noir vom Feinsten

 

Chasm City ist nach Unendlichkeit (2000) der zweite Roman aus Alastair Reynolds üppigem Revelation Space-Zyklus. Bis heute hat der britische Autor insgesamt sechs Romane und 13 Kurzgeschichten in diesem Zyklus veröffentlicht und sich mit diesen Werken als ein wahrer Meister im Verfassen fulminanter, weit in Zeit und Raum ausgreifender Space Operas ausgewiesen. Als bisher einziger von Reynolds Romanen hat Chasm City mit dem von der British Science Fiction Association verliehenen BSFA einen renommierten Science-Fiction-Preis gewonnen – und das völlig zu Recht.

 

Während die verschachtelten Erzählstränge in Unendlichkeit noch überwiegend im Weltall spielten, ist die Haupt­handlung von Chasm City, dem Titel gemäß, in einer Großstadt auf einem fernen Planeten angesiedelt. Alastair Rey­nolds bietet hier Science-Fiction Noir in Reinkultur: Die einst glänzende, fast märchenhafte Metropolis von Übermor­gen, die durch eine technologische Katastrophe zu einem düsteren, ständig regenverhangenen Moloch verkommen ist, in dem die barbarischen Verhältnisse, die unterschwellig schon vorher die Gesellschaft regiert hatten, nun offen zutage treten, erinnert überdeutlich an das trostlose Los Angeles der postmodernen Zukunft in Ridley Scotts Blade Runner (1982) – jenem Film, der zur klassischen Folie aller nachfolgenden Science-Fiction Noir wurde. Ein klassischer Noir-Held ist auch Reynolds’ Hauptfigur Tanner Mirabel: ein pragmatisch-nüchterner Killer, der abgesehen von einer archaischen, ja, nahezu hündischen Treue zu seinem (scheinbar) längst verstorbenen Herren keinerlei Ideale kennt. Selbst in der Form folgt Reynolds den Noir-Vorbildern, indem er Tanner seine Geschichte aus der Ich-Perspektive er­zählen lässt.

 

Dass es in der postmodernen Science Fiction Noir, die das Genre nunmehr seit fast vier Jahrzehnten dominiert oder zumindest massiv beeinflusst, nicht mehr um die Utopie einer glänzenden Zukunft oder das große Abenteuer geht, sondern vor allem um das Problem der zukünftigen Identität des Menschen, seiner Infiltration durch Maschinen und Gentechnik, ist schon oft festgestellt worden – beispielsweise in Georg Seeßlens Essay „Future? What Future?“, der sich mit der Science Fiction Noir im Film beschäftigt (vgl. Sascha Mamczak/Wolfgang Jeschke, Hrsg.: Das Science Fiction Jahr 2006, S. 233–250, dort insbesondere S. 242). Das Thema der ständig von ihrer Auflösung und Transforma­tion bedrohten Identität ist auch in Chasm City von zentraler Bedeutung und wird immer wieder durchgespielt – und das nicht nur in den mit technologischen Implantaten cyborgisierten „Ultras“, die ihre Körper ganz dem Leben auf gi­gantischen relativistischen Raumschiffen angepasst haben, oder den „Unsterblichen“, die mittels Nanobots und Gen­technik ihre Lebenszeit bis in die unendliche Langeweile verlängern und denen eine konsumentengerechte High-Tech-Chirurgie die Körper mit skurrilsten Hautzeichnungen und Proportionen modisch aufpeppt. Es manifestiert sich vor allem in Tanner Mirabel selbst, der erst gegen Ende des Romans feststellt, dass sein Bewusstsein ein verwirrtes Kon­glomerat mehrerer Bewusstseine ist, die seinem Gehirn „aufgespielt“ wurden. Der Leser errät es hingegen schon sehr früh: Tanner Mirabel ist in Wirklichkeit Sky Haussmann, der sich für mehrere Jahrhunderte auf Sky’s Edge einfrieren ließ – und sich später die Identität Cahuella schuf. Als Cahuella dann von Sky’s Edge fliehen wollte, hatte er seine Identität mit dem abgeschöpften Bewusstsein seines Untergebenen Tanner als Tarnung überlagern lassen.

 

In Chasm City gelingt es Alastair Reynolds meisterhaft, die drei Erzählstränge seines fast ausufernden Romans zu ver­schachteln und am Ende zusammenzuführen. Die drei Stränge – Tanners Erlebnisse in der Gegenwart, Tanners Erleb­nisse in der Vergangenheit auf Sky’s Edge und Tanners Träume und Visionen von Sky Haussmanns Erlebnissen an Bord der Santiago – werden parallel erzählt, aber anders als noch im ersten Roman Unendlichkeit verliert der Leser nie die Orientierung und gewinnt sehr rasch ein Gefühl dafür, wie die drei Stränge aufeinander bezogen sind.

 

In der Erzählung der Geschicke der Santiago und ihrer Schwesterschiffe auf ihrer jahrzehntelangen Reise durch das interstellare All bietet Alastair Reynolds eine faszinierende Space Opera, in der es allerdings genauso düster zugeht wie in Chasm City, denn Sky Haussmann, die Hauptfigur dieser Erzählung, ist alles andere als ein aufrechter Held: Mit skrupellosen Mitteln von Lügen und Intrigen bis hin zu Mord und Folterungen schummelt er sich bis an die Führungs­spitze der Santiago. Damit ist auch schon ein gewichtiges Manko des Romans bezeichnet, das auch schon Unendlich­keit kennzeichnete: Ein wirklich symphatisches Personal, mit dem sich der Leser lustvoll identifizieren könnte, gibt es hier nicht. Ganz im Gegenteil sind alle Hauptfiguren verschlagen, mörderisch und teilweise sogar sadistisch. Dass sich am Ende herausstellt, dass die Hauptfigur, die sich vermeintlich für Tanner Mirabel hält, in Wirklichkeit Sky Hauss­mann/Cahuella ist, unterstreicht die unsymphatische Persönlichkeitsstruktur des „Helden“ nur noch. Nun mag das dem Muster der düsteren, desillusionierten und gewalttätigen Science-Fiction Noir der Postmoderne entsprechen; Rey­nolds folgt hier wohl nicht nur seiner schriftstellerischen Vorliebe, sondern auch einer gewissen Genrelogik. Dem Gus­to eines womöglich idealistischeren Lesers (wie ich beispielsweise einer bin) schmeckt ein derart verrohtes Personal allerdings nicht ausnahmslos.

 

Zumal es in dieser Verrohung – und das ist das noch schwerwiegendere Problem – auch in Vielem nicht sehr glaub­würdig wird. Ist es beispielsweise plausibel, dass die erste interstellare Kolonisationsflotte der Menschheit mit derart amoralischen, machtgierigen und kaltblütig mordenden Personen besetzt wird? Und dass sich diese Personen auf den verschiedenen Schiffen einen tödlichen Wettlauf zu ihrem Ziel liefern, der am Ende ohnehin nichts erbringt, ja, nach allem nüchternen Ermessen nichts bringen kann? Charakterlich werden die Figuren nicht sehr vertieft und werden dem Leser auch nicht wirklich schlüssig – in ihren Motiven und Überzeugungen sind sie oft widersprüchlich. Fast scheint es, dass Reynolds hier das Problem der unsicher werdenden Identitäten selbst entgleitet.

 

Über Reivich beispielsweise, der im Showdown des Romans als weiser, alter Mann dargestellt wird, stellt Zebra, die femme fatale Tanners, nach dessen Tod fest: „Er war kein schlechter Mensch [ . . . ] Er wollte sicherlich niemandem schaden außer dem Mann, der seine Familie ausgerottet hatte“ (S. 822). Soll der Leser das etwa auch glauben, obwohl er weiß, dass Reivich am Beginn des Romans die Vernichtung des Weltraumfahrstuhls von Sky’s Edge mit Abertausen­den von Toten ins Werk gesetzt hat – und das nur, um einen einzelnen Passagier des Fahrstuhls, Tanner, zu ermorden? Und Tanner selbst: Wie aus einem derart durchtriebenen und mörderischen Charakter, der er immer war, ob als Sky/Cahuella oder als Tanner, am Ende des Romans plötzlich ein geläuterter, rechtschaffener Mann werden konnte, bleibt dem Leser schleierhaft.

 

Von den fragwürdigen Figuren abgesehen, entfaltet Alastair Reynolds in Chasm City eine beeindruckende Fülle von Cyberpunk- und Space-Opera-Ideen, dass es eine helle Freude ist; ich habe mich über die ganzen 832 Seiten nicht ein­mal gelangweilt oder das Gefühl gehabt, dass irgendwelche zähflüssigen Längen das Lesevergnügen trüben würden. Reynolds schildert überaus bunt, plastisch und vorstellbar die verfallene Großstadt und dessen Einwohner, diesen bi­zarren Garten der dystopischen Seltsamkeiten; dasselbe gilt für alle anderen Schauplätze wie die schwüle Dschungel­welt Sky’s Edge, die kilometerlangen interstellaren Raumschiffe oder die verschiedenen Raumstationen und Raum­häfen. Hochinteressant ist auch die außerirdische, höchst fremdartig wirkende Spezies der „Maden“, die seit Jahrmil­lionen auf organisch-amorphen Raumschiffen durch die Galaxis vagabundieren. Lediglich die „Gondeln“, mit denen sich die Bewohner des „Baldachin“ von Chasm City an Kabeln durch die Lüfte schwingen, wirken etwas ulkig. Und dass die berüchtigte „Schmelzseuche“ innerhalb von nur sieben Jahren (!) die utopische Großstadt von Chasm City in einen trostlosen Moloch verwandelt haben soll, wirkt absurd, vor allem in gesellschaftlicher Hinsicht; mindestens ein paar Jahrzehnte hätte Reynolds für diesen tiefgreifenden Niedergang wohl ansetzen müssen.

 

Die Stärken des Romans wiegen jedoch die Kritik an Einzelheiten und den widersprüchlichen, wenig symphatischen Figuren bei Weitem auf. Chasm City ist ein überaus spannendes, spektakuläres und komplexes Science-Fiction-Werk mit einem starken Plot, ein düster-fatalistisches Cyberpunk-Abenteuer, das vor cleveren Ideen nur so strotzt, und ein hinterhältig-gewalttätiger Noir-Thriller – und das von einem Autor, der es wirklich versteht zu schreiben und seine Szenarien anschaulich zu schildern. Ein Science-Fiction-Lesevergnügen ersten Ranges.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 21. Mai 2019