Liu Cixin: Der dunkle Wald

Buchcover zu dem Roman "Der dunkle Wald" (The Dark Forrest, Heian Senlin, 2008) von Liu Cixin

Heian Senlin (2008). Science-Fiction-Roman. Deutsche Erstausgabe 2018 im Wil­helm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung aus dem Chinesischen von Karin Betz. Mit Erläuterungen zu Schreibweise und Aus­sprache des Chinesischen und Anmerkungen zum Romantext. Umschlagillustra­tion von Stephan Martinière. Taschenbuch, 816 Seiten.

 

Nachdem die Welt erfahren hat, dass in 450 Jahren eine technologisch haushoch überlegene außerirdische Invasions­flotte vom Alpha Centauri im Sonnensystem eintreffen wird, sitzt der Schock in der Menschheit tief. Viele verzweifeln angesichts der bevorstehenden Vernichtung der menschlichen Spezies durch die sogenannten „Trisolarier“ und geben sich einer defätistischen Haltung hin, während die Staatengemeinschaft beherzt versucht, die Verteidigung der Erde gegen den technologisch übermächtigen Feind zu organisieren. Es wird ein „Planetenverteidigungsrat“ und ein „Ober­kommando der Weltraumflotte“ gegründet, um den langfristigen Aufbau einer Streitmacht von interplanetaren Raum­schiffen in die Wege zu leiten. Für die Wissenschaftler und Ingenieure ist das keine leichte Aufgabe: Die technologi­schen Schwierigkeiten sind immens, und die Arbeit wird durch die allgegenwärtigen „Sophonen“ – von den Trisola­riern auf die Erde geschickte, mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Protonen – zusätzlich erschwert, denn die So­phonen sind in der Lage, die Grundlagenforschung in Teilchenbeschleunigern zu manipulieren und so jegliche Fort­schritte der Physik auf dem wichtigen Gebiet der Quantenmechanik zu blockieren.

 

Parallel zu den Bemühungen um den Aufbau einer Weltraumstreitmacht ruft die UNO ein weiteres ungewöhnliches Verteidigungsprojekt ins Leben: die „Operation Wandschauer“. Da die Sophonen die gesamte schriftliche und verbale Kommunikation auf der Erde überwachen, sie allerdings unfähig sind, die Gedanken eines Menschen zu lesen, werden vier Persönlichkeiten als „Wandschauer“ ausgewählt, die meditativ eine Strategie gegen die außerirdischen Feinde er­sinnen und diese dann auch umsetzen sollen, ohne sich mit irgendwem darüber in irgendeiner Form auszutauschen. Dafür werden den Wandschauern alle Ressourcen zur Verfügung gestellt, die sie für die Umsetzung ihrer Strategien erbitten.

 

Zu seiner völligen Überraschung wird Luo Ji, ein junger chinesischer Astronom und Soziologe, zu einem der vier Wand­schauer ernannt. Während die anderen drei Wandschauer wissenschaftliche Koryphäen sind oder einst einflussreiche Politiker waren, ist Luo Ji der Meinung, dass ihn nichts Besonderes auszeichnet: Als Wissenschaftler hat er bisher kaum etwas Nennenswertes geleistet, und das Schicksal der Menschheit in der Zukunft ist ihm im Grunde genommen völlig egal. Luo Ji erbittet für sich ein luxuriöses Haus an einem idyllischen See in friedlicher Natur, das ihm auch gegeben wird, doch statt dort seiner Aufgabe als Wandschauer nachzukommen, will er tatsächlich nur ein sorgenfrei­es Leben genießen. Als ihm der Polizeikommissar und als Personenschützer zugeteilte Shi Qiang allerdings auch noch die von Luo erbetene perfekte Frau zum perfekten Lebensglück organisiert – eine junge, wunderschöne Kunstmalerin namens Zhuang Yan – und Luo Ji mit ihr nach einiger Zeit eine Familie gründet, ändert sich Luo Jis Einstellung. Er beginnt, über die Axiome einer künftigen „Kosmosoziologie“ nachzudenken und eine Theorie zu entwickeln, mit der sich das Verhal­ten außerirdischer Spezies besser verstehen ließe.

 

Diese Idee empfinden die Trisolarier offenbar als bedrohlich, denn sie versuchen, Luo Ji mit einem gene­tisch auf ihn zu­geschnittenen Grippevirus zu töten. Als Luo Ji sich infiziert, ist er gezwungen, sich einfrieren zu lassen. Mehr als 200 Jahre später wird Luo Ji wieder aufgetaut; die fortgeschrittene Medizin ist inzwischen in der Lage, seine Viruserkran­kung zu heilen. Die Welt des 23. Jahrhunderts ist zwar einerseits von der globalen Umweltzerstörung des 21. Jahrhun­derts gezeichnet, andererseits aber auch voller technologischer Wunder. Insbesondere die Weltraumflotte ist mit über 2000 schwer be­waffneten Raumschiffen Wirklichkeit geworden – weshalb die Menschheit inzwischen fest davon überzeugt ist, die Trisolarier in der kommenden Entscheidungsschlacht vernichtend schlagen zu können. Ein fataler Irrtum, wie sich bald herausstellt . . .

 

Die Trisolaris-Saga startet in die Zukunft durch!

 

Der dunkle Wald ist die Fortsetzung von Liu Cixins fulminantem Science-Fiction-Roman San Ti (2006), der 2015 als ers­tes chinesisches Werk mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde und 2017 erstmals in Deutsch unter dem Titel Die drei Sonnen erschienen ist, und bildet den Mittelteil einer Trilogie, die mit dem für April 2019 angekündigten Band Jen­seits der Zeit ihren Abschluss findet. Der vorliegende zweite Band kann erfreulicherweise das Spannungsniveau, den Einfallsreichtum und den Unterhaltungswert des ersten Bandes halten – und das, obwohl dieser zweite Band gute 200 Seiten länger ist als der Vorgänger.

 

Liu Cixin spinnt seine paranoide und an sich reichlich unglaubwürdige Alien-Invasionsgeschichte ähnlich ungewöhn­lich und abgedreht weiter, wie er sie begonnen hat. Der dunkle Wald ist in drei Teile unterteilt, von denen die ersten beiden Teile „Die Wandschauer“ und „Der Fluch“ zeitlich eng zusammengehören – beide spielen in einer nur wenige Jahre entfernten Zukunft – und meines Erachtens eigentlich eine Einheit darstellen. Der dritte Teil „Der dunkle Wald“ (ab S. 475) überspringt dann fast 200 Jahre und versetzt den Leser in ein fantastisches 23. Jahrhundert. Ermöglicht wird dieser Sprung durch das probate Mittel des Kälteschlafs, das die Menschheit in Lius Zukunftsvision schon bald meis­tern werden (wie wahrscheinlich diese literarische Prognose ist, wäre freilich einige Diskussion wert). Fast alle seine Hauptfiguren kann Liu auf diese Weise in die ferne Zukunft des dritten Romanteils „mitnehmen“, was dem Zusammen­halt des Romanganzen natürlich zugutekommt.

 

Es ist durchaus beeindruckend, wie elegant und nahezu bruchlos es Liu gelingt, den Bogen seiner Erzählung über mehr als 200 Jahre zu spannen, und wie er seine aus dem Kälteschlaf wiedererweckten Protagonisten in die schöne neue Welt des 23. Jahrhunderts einfügt. Im dritten Teil lässt Liu seinen technologischen Science-Fiction-Fantasien freien Lauf, woran er spürbar seine Freude hat, und der bis dahin erdgebundene Roman mausert sich überraschenderweise zu einer waschechten Space Opera, deren Schauplätze im äußeren Sonnensystem liegen. In den ersten beiden Teilen resultiert der Antrieb des Geschehens vor allem aus der originellen Idee der „Wandschauer“; welche Pläne diese völlig verschlossen grübelnden Strategen aushecken, wird dem Leser lange vorenthalten, sodass die Neugier auf die Auflö­sung die Spannung hochhält. Im dritten Teil aber darf der Leser eine beeindruckend und einfallsreich ausgestaltete Zukunft bestaunen, während er natürlich nicht annimmt, dass die Rolle des aus dem Kälteschlaf wiedererweckten Luo Ji als der einzige Wandschauer, der bis dahin noch immer nicht seinen Plan offenbart hat, schon obsolet sei. Genau das glauben nämlich alle anderen Menschen im 23. Jahrhundert, weil sie ganz auf die Schlagkraft ihrer prächtigen Streit­kräfte im Weltraum vertrauen.

 

Das 23. Jahrhundert malt Liu Cixin ziemlich fantasievoll aus. Eine weltumspannende ökologische, ökonomische und politische Krise im 21. Jahrhundert, die später „das Tiefe Tal“ genannt wurde (vgl. S. 566 ff.), führte zu einem verheeren­den Umbruch der Zivilisation. Da wegen der drohenden Vernichtung durch die Trisolarier der Umweltschutz nicht mehr als wichtig erachtet wurde, führte die Umweltverschmutzung und der Klimawandel zur Versteppung und Ver­wüstung der Erde, und Ernteausfälle und Hungerkatastrophen reduzierten die Weltbevölkerung auf 3,6 Milliarden Menschen.

 

Dennoch – und erstaunlicherweise – schritt die technologische Entwicklung zügig voran. Während auf der weitge­hend wüstenhaften Erdoberfläche nur noch wenige Menschen in alter Art und Weise in ärmlichen Dörfern und den Überresten der alten Städte leben, hat sich das Gros der Menschheit in gigantischen High-Tech-Metropolen tief unter der Erdoberfläche zurückgezogen. Dort gibt es eine perfekte soziale Absicherung, sodass niemand mehr arbeiten muss, der es nicht will, und die Technologie hat die Menschen derart in weiche Watte gepackt, dass die kerngesunden und makellos aussehenden Menschen der Zukunft alle zuversichtlich und sorgenfrei in die Zukunft blicken – nicht zu­letzt auch deshalb, weil die persönliche Freiheit das Credo der Zeit ist und soziale Fesseln wie Ehe und Familie abge­schafft worden sind. Die digitale High-Tech ist bis ins kleinste i-Tüpfelchen personalisiert: Jede Wand, jeder Tisch und jede Oberfläche auf Konsümgütern wie beispielsweise Zigarettenschachteln ist gleichzeitig ein holografisches Display, das den Bürger mit einem ständigen Werbe-Overkill versorgt. Die Kleidung der Bürger – dies ein besonders origineller Einfall – besteht ebenfalls aus Displays und produziert ständig Bilder, die mit der momentanen Stimmung des Klei­dungsträgers korrespondieren. Auch die von Fusionsreaktoren angetriebenen interplanetaren Riesenschiffe der Welt­raumflotte sind einfallsreich fabuliert: So haben sämtliche Räume an Bord die Gestalt von glatten, weißen Sphären, sodass sich die Menschen darin nach jeder Bewegungsrichtung des Schiffs ausrichten können, und auch hier bestehen sämtliche Wände aus digital vernetzten Holo-Displays, sodass es keine klassische Kommandobrücke mehr gibt – das Schiff lässt sich von jedem beliebigen Raum aus steuern.

 

Politisch gibt es auf der Erde drei tonangebende „Internationale“ – einen nordamerikanischen, einen europäischen und einen asiatischen Staatenbund –, während die größte politische und militärische Macht im Sonnensystem drei jeweils mit diesen Staatenbünden assoziierte, schwer bewaffnete Weltraumflotten innehaben, die allerdings in enger gegen­seitiger Abstimmung unter einem „Oberkommando der Weltraumflotte“ gemeinsam agieren. Dennoch ist in Der dunk­le Wald wie schon in Die drei Sonnen ein ziemlich deutlicher chinesischer Nationalchauvinismus und eine selbstbe­wusst erträumte Weltdominanz Chinas spürbar. Gewiss ist es nur zu verständlich, dass bei Cixin Chinesen die Protago­nisten sind und Chinesen am Ende die Welt retten – so ist beispielsweise das Oberkommando der Weltraumflotte klar chinesisch dominiert. Auch ist Lius Idee einer neuen lingua franca des 23. Jahrhunderts, die eine Mischung aus Chine­sisch und Englisch darstellt, keineswegs ein abwegiger Gedanke. Die Prognose einer weltweiten chinesi­schen Domi­nanz ist dem Genrefreund spätestens seit Ridley Scotts Science-Fiction-Filmklassiker Der Blade Runner (1982) vertraut.

 

Bedenklich wird Lius chinesische Perspektive allerdings dann, wenn sie das autoritäre politische System der Volksre­publik China, das von Liu offenbar als unerschütterlich gedacht wird, zu affirmieren scheint. So ist eine von Lius Haupt­figuren, Zhang Beihai, ein „Politkommissar“, der im Dienste des „Parteikomitees“ (S. 330) für die politische Indoktrina­tion der Soldaten der Weltraumstreitkräfte zuständig ist – wohlgemerkt aller Streitkräfte, nicht nur der asiatischen. Die UNO und der „Planetare Verteidigungsrat“ billigt und unterstützt diese Indoktrinationsarbeit, die die Kampfmoral der Truppen stärken und ihren Defätismus zurückdrängen soll. Zhang Beihai ist selbst das Musterbeispiel dessen, was er bei allen anderen Soldaten erreichen will: durch und durch erfüllt von seiner Gesinnung und von strammer Unbeirr­barkeit in der Erfüllung dessen, was er als seine soldatische Pflicht ansieht. Zum Erreichen seiner Ziele, die er stets mit dieser Pflicht gleichsetzt, ermordet er sogar eigenmächtig seine Vorgesetzten, wenn diese seines Erachtens den fal­schen Weg einschlagen. Und all sein Handeln findet im Roman stets seine Rechtfertigung, ja, Zhang ist ganz eindeutig ein von Liu positiv gesehener Held, und auch wir Leser sollen diese in Wirklichkeit äußerst zwielichtige Figur positiv wahrnehmen (ganz ähnlich werden Ye Wenjies kaltblütige Morde in Die drei Sonnen in seltsamer moralischer Stumpf­heit gerechtfertigt, und auch dort wird Ye als positive Heldenfigur gezeichnet). Gegen Ende des Romans wird Zhang an Bord des Raumschiffs Natürliche Selektion gar zu einer regelrechten Vaterfigur, die von der Mannschaft kultisch verehrt wird, und spätestens wenn Zhang im Gegenzug die Mannschaft mit „Genossen“ anredet, reibt sich der geneig­te westliche Leser die Augen – feiert doch das kommunistische Ideal des 20. Jahrhunderts hier tatsächlich seine fröh­liche Wiederauferstehung. Auch Bill Hines, englischer Hirnforscher und einer der Wandschauer, spricht vor Chang Wei­si, dem Kommandeur der Weltraumstreitkräfte, wie selbstverständlich von den Politkommissaren in der Armee, als seien diese eine sinnvolle Einrichtung, und will ihre Indoktrinationsarbeit mit einer von ihm neu entwickelten Gehirn­wäsche, dem „mentalen Siegel“, unterstützen (vgl. S. 240). All das riecht gehörig nach der literarischen Sanktionierung eines chinesischen autoritären Führungsstils, der in Lius erträumter Zukunft offenbar weltweite Akzeptanz gefunden hat.

 

Sprachlich ist Der dunkle Wald wie schon der Vorgängerroman eher schlichte Kost; wenn Liu die glühende Liebe Luo Jis zu dessen Traumfrau Zhuang Yan, dem „Engel, der aus seinem Traum entstiegen war“, auszumalen versucht, gera­ten seine Formulierungen sogar arg schwülstig, wie beispielsweise auf S. 251: „Sanfte Glückswellen durchzogen sein Herz und kräuselten sich wie auf der Oberfläche eines glitzernden Sees . . .“ Romantik zählt offen­sichtlich nicht zu Liu Cixins literarischen Stärken. Aber immerhin sorgt der ansonsten einfache sprachliche Stil für flotte Les­barkeit.

 

Nach wie vor bleibt meines Erachtens die grundlegende Prämisse von Lius Trisolaris-Saga, nach der die technologisch haushoch überlegenen Trisolarier im Vorfeld ihrer Invasion darauf angewiesen wären, die technologische Entwicklung auf der Erde zu hemmen, völlig unglaubwürdig. Dass die Romantrilogie trotz dieser absurden Grundvoraussetzung kurzweilig und spannend ist und darüber hinaus nachdenkenswerte Momente liefert, spricht eindeutig für sie. Das größte Problem indes, das ich mit Der dunkle Wald habe, ich allerdings dasselbe, welches ich schon in meiner Rezen­sion zu Die drei Sonnen kritisiert habe: der durchgängig betonte, abgebrühte Fatalismus – in zeitgenössischer Science-Fiction offensichtlich schwer en vogue –, der bisweilen in selbstgefälligen Zynismus umschlägt. Gewiss muss die Er­wartung einer feindlichen Invasion durch überlegene Aliens zur fatalistischen Erkenntnis führen, dass die Menschheit einen Krieg gegen diese Aliens niemals gewinnen könnte. Die Invasion dann aber auch noch als ein völlig normales, beinahe schon naturgesetzliches und daher entschuldbares Geschehen zu rechtfertigen, wie es Luo Ji mit seiner an den Haaren herbeigezogenen „Kosmosoziologie“ tut, und moralische Kategorien dabei als unerhebliche, naive Kinde­reien herabzuwürdigen, ist des Zynismus dann doch zuviel.

 

So zeigt der Wandschauer Luo Ji nüchternes Verständnis für die Aliens, weil sie ja nichts anderes täten als ihre Spezies retten zu wollen, womit sie also auch nicht, wie er seine als naives Dummchen hingestellte große Liebe Zhuang Yan belehrt, als „böse“ gekennzeichnet werden dürften (vgl. S. 258). Das kommt wohlgemerkt aus dem Munde desselben Protagonisten, der ein paar Seiten zuvor sagt, dass ihm das Überleben der eigenen Spezies „scheißegal“ sei (S. 181). „Gut“ und „böse“ sind perspektivische Moralkategorien, die Luo Ji hier nonchalant einfach ausmustert – ohne Effekt freilich, denn aus der Perspektive der Menschheit handelt eine außerirdische Spezies, die uns als „Ungeziefer“ kom­plett ausradieren will, selbstverständlich „böse“ (oder „negativ“ oder „dem unsrigen Überleben abträglich“ oder wie immer man dies sonst benennen möchte). An dieser Bewertung – die im übrigen im Einklang mit dem ersten Axiom von Luo Jis „Kosmosoziologie“ steht, demzufolge Überleben das oberste Gebot jeder Zivilisation ist – werden wohl nur jene Leser rütteln wollen, denen die Ausrottung der eigenen Spezies ebenso wurscht ist wie Luo Ji. Und Liu Cixin ver­steigt sich noch weiter: Er lässt Luo Ji allen Ernstes behaupten, dass „der humanistische Geist der Renaissance“ der Menschheit zum Verhängnis geworden sei – offenbar weil aus ihm heraus die Vorstellung gutmütiger, uns sittlich fördernder Aliens entstehen konnte, die hinwiederum die abgestrahlten Radiobotschaften ins All motiviert hat (S. 274). Kann also doch nur das chinesische hierarchisch-autokratische Denken die Menschheit retten?

 

Statt humanistischer oder vielleicht besser weisheitlicher Höhen, die es noch zu erklimmen gilt, und eines moralisch geforderten Miteinanders, das das Leben achtet und wertschätzt, postuliert Luo Jis „Kosmosoziologie“ lediglich ein darwinistisches, nie enden wollendes Gemetzel unter den galaktischen Zivilisationen: Sie alle sind im „dunklen Wald“, den die Galaxis darstellt, leise und behutsam auf der Pirsch, und wenn man sich doch einmal verschreckt begegnet, überlebt jene Spezies, die zuerst schießt. Primitiver, ja, im wahrsten Sinne des Wortes steinzeitlicher kann man sich die „galaktische Gemeinschaft“ kaum ausmalen – das Ende aller geistigen Evolution ist in einem ewigen Morden und Tot­schlagen markiert –, obwohl dieses Szenario natürlich die größeren literarischen Knalleffekte ermöglicht und hier bei­leibe auch nicht zum ersten Mal verwendet wird. Ein recht ähnliches Bild zeichnete beispielsweise Alastair Rey­nolds in seinem Revelation Space-Zyklus, in dem nach dem Jahrmillionen zurückliegenden galaktischen „Morgenkrieg“ die Spe­zies der „Unterdrücker“ dafür sorgte, dass möglichst keine neuen intelligenten Spezies mehr in der Galaxis heranwuch­sen. Es ist kein Wunder, dass ein derart fatalistisch-düsteres Weltbild dann auch zu einer so rabenschwarzen Behaup­tung wie jener von Luo Ji führt, dass die größte Wertschätzung für eine Zivilisation ihre Vernichtung sei: „Nur von einer Zivilisation, die man wirklich respektiert, kann man sich bedroht fühlen“ (S. 276).

 

Am Rande sei bemerkt, dass Luo Jis kosmosoziologisches Modell auch keine zwingende Erklärung für das berühmte Fermi-Paradox liefert, wie Luo behauptet (vgl. S. 745). Denn wenn sich alle Zivilisationen der Galaxis tatsächlich bereits seit Jahrmillionen oder gar Jahrmilliarden in einem ewigen darwinistischen Kampf befänden, hätte die Erde schon viel früher als ein potenzieller zukünftiger Teilnehmer in diesem Kampf entdeckt werden müssen – beispielsweise durch solch quantentechnologische Wunderwerke wie die Sophonen –, und die Erde wäre daraufhin vernichtet worden. Luos Theorie, die freilich auf unbewiesenen Annahmen fußt, führt also genau besehen zu der Schlussfolgerung, dass es uns eigentlich gar nicht (mehr) geben dürfte.

 

Erst ganz am Ende des Romans gibt Liu Cixin einen positiven Ausblick: Ein durch ein Sophon kommunizierender Triso­larier unterhält sich mit Luo Ji und sinniert mit ihm darüber, dass die Liebe möglicherweise der Schlüssel für die Lösung des Konflikts darstellen und den „dunklen Wald“ der Galaxis erhellen könnte. „Vielleicht keimt die Liebe auch an ande­ren Stellen des Universums“, erklärt der Außerirdische. „Wir sollten dafür sorgen, dass sie wächst und gedeiht“ (S. 785). Hier scheint sich eine neue Richtung anzudeuten, die die Trisolaris-Saga nehmen wird. Ich bin jedenfalls gespannt und werde mir ihr Finale in Jenseits der Zeit nicht entgehen lassen.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 11. Juli 2018