Robert L. Forward: Der Flug der Libelle

Buchcover des Romans  von Robert L. Forward: "Der Flug der Libelle" (The Flight of the Dragonfly, 1984)

The Flight of the Dragonfly (1984). Amerikanischer Science-Fiction-Roman. Deutsche Ausgabe im Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch-Gladbach 1986 (Science Fiction Special Band 24 078). Deutsche Übersetzung von Edda und Winfried Petri, mit Anmerkungen von Winfried Petri. Titelillustration von Gerry Daly. Taschenbuch, 384 Seiten.

 

Anfang des 21. Jahrhunderts hat die „Groß-NASA“ der „Größeren Vereinigten Staaten von Amerika“ (GUSA, unter Ein­schluss von Kanada) mit der Kolonisierung und wirtschaftlichen Nutzung der anderen Planeten und Monde des Son­nensystems begonnen. Außerdem gelang es der Groß-NASA, eine mit einem gigantisch großen „Sonnensegel“ ausge­stattete Raumsonde mit dem Strahlungsdruck eines gebündelten Lasers zum etwa 6 Lichtjahre entfernten Barnards Stern zu schicken. Die von der Sonde zur Erde zurückgesendeten Daten offenbaren, dass der leuchtschwache Stern über ein ausgesprochen ungewöhnliches Planetensystem verfügt: Es gibt einen gasförmigen Riesenplaneten mit meh­reren Monden und einen kleinen, felsigen Doppelplaneten, deren Globen sehr schnell umeinander rotieren und durch die wechselseitigen Gezeitenkräfte eiförmig ausgeprägt sind. Der eine Globus dieses „Rochewelt“ genannten Doppel­planeten ist trocken und von Kratern und Vulkanen übersät, der andere hingegen ist fast vollständig von einem kalten Ozean von Wasser und Ammoniak bedeckt. An der Stelle ihrer größten Annäherung sind beide Globen gerade einmal 80 Kilometer voneinander entfernt; beide Planeten teilen sich überdies dieselbe Atmosphäre.

 

Die Groß-NASA rüstet eine 16-köpfige bemannte Expedition aus, die das Barnard-System intensiv erforschen soll. Das dafür gebaute Raumschiff Prometheus bringt es mitsamt dem 1.000 Kilometer weiten Sonnensegel, mit dem das Schiff angetrieben werden soll, auf stolze 82.000 Tonnen. Um diese enorme Masse mit einem gebündelten Laserstrahl zu beschleunigen, hat die Groß-NASA rund um den Merkur 1.000 Satelliten mit Sonnenlicht-Kollektoren und weitere An­lagen zur Bündelung und gerichteten Abstrahlung dieser Lichtenergie installiert.

 

Die ausgesuchte, gemischtgeschlechtliche Besatzung der Prometheus tritt voller Abenteuerlust ihre lange Reise an. Dass keine Rückkehr zur Erde geplant ist, stört keines der Crewmitglieder. Während der gut 40 Jahre dauernden, com­putergesteuerten Reise werden alle Menschen an Bord mit der Droge „Kein-Tod“ versorgt, die das Altern fast zum Erliegen bringt, aber auch den Nebeneffekt hat, dass die kognitive Leistungsfähigkeit stark gehemmt wird.

 

Die Prometheus trifft nach 40 Jahren planmäßig im Barnard-System ein, und die Crew beginnt, nachdem sie die Ein­nahme von „Kein-Tod“ abgesetzt hat, mit ihren Forschungsaufgaben. Ein Teil der Besatzung begibt sich mit einem massiven Lander auf den trockenen Planeten von Rochewelt. Wenig später brechen vier der Forscher mit einem im Lander mitgeführten Erkundungsflugzeug auf und fliegen hinüber zum überfluteten Planeten von Rochewelt. Als das Flugzeug, das seine Pilotin Arielle Trudeau Zauberlibelle getauft hat, in einem Sturm havariert und ins Meer stürzt, scheint die Expedition gescheitert zu sein. Doch zu ihrer Verblüffung entdecken die unfreiwilligen U-Bootfahrer, dass der ammoniakgesättigte Ozean von einer hochintelligenten, völlig fremdartigen, aber auch sehr neugierigen Spezies bewohnt wird . . .

 

Hochfahrende Abenteuerlust trifft auf Hard-SF

 

Robert L. Forward (1932–2002) war in erster Linie ein amerikanischer Physiker und Luft- und Raumfahrtingenieur. So forschte er vor allem auf dem Gebiet der Gravitation, in dem er auch seine Doktorarbeit schrieb, und ersann Apparate für die Messung von Gravitationswellen. Nach seinem Studium arbeitete er viele Jahre in der Forschungsabteilung der Hughes Aircraft Company, einem von Howard Hughes (1905–1976) gegründeten Luft- und Raumfahrtunternehmen. Überdies schrieb er zahlreiche Artikel, in denen er beispielsweise über die technische Nutzung des Lichtdrucks von gigantischen Laserstrahlen oder von Antimaterie für den Antrieb von Raumschiffen nachdachte. Sein literarisches Debüt als Science-Fiction-Autor gab er mit dem Roman Das Drachenei (Dragon’s Egg, 1980), der ihn in der Science-Fiction-Szene sofort bekannt machte und in dem er über Lebensformen auf Neutronensternen spekulierte. Der Flug der Zauberlibelle war Robert L. Fowards zweiter Roman. 1982 erschien der Roman zunächst in stark gekürzter Form un­ter dem Titel Rocheworld im Pulp-Magazin Analog; 1984 wurde der Roman dann in einer längeren Version unter dem Titel The Flight of the Dragonfly veröffentlicht (Grundlage der hier besprochenen deutschen Übersetzung), bis in einer Ausgabe von 1990 der Roman nochmals erweitert wurde und nun wieder unter dem Titel Rocheworld erschien. Dem Buch folgten noch vier Sequels, die Forward gemeinsam mit seiner Frau Martha bzw. seiner Tochter Julie verfasste: Return to Rocheworld (1993), Marooned on Eden (1993) Ocean Under the Ice (1994) und Rescued from Paradise (1995).

 

Der Flug der Libelle ist ein Musterbeispiel für einen Hard-Science-Fiction-Roman, der von einem Wissenschaftler statt von einem Schriftsteller geschrieben wurde: Die fiktive Handlung und die Figuren dienen lediglich als Vehikel, um die spekulative hard science, die der Autor ausgetüftelt hat, vorzuführen. Die wissenschaftlich-technischen Spekulationen werden sehr anschaulich, detailliert und vielfach auch glaubwürdig geschildert; die Handlung, die Dialoge und die Fi­guren bleiben demgegenüber ausgesprochen schwach und werden kaum ausgeformt.

 

Die Prämissen des Romans wirken zeitgeschichtlich bedingt sehr antiquiert. Es herrscht im 21. Jahrhundert noch immer der Kalte Krieg zwischen den Supermächten, und die Raumfahrtmissionen der „Groß-NASA“ unterstehen dem schnei­digen Kommando der Air Force. Dass sich Kanada mit den USA zu den „Größeren Vereinigten Staaten von Amerika“ (GUSA) zusammengeschlossen hat, ist eine ebenso merkwürdige wie unglaubwürdige Grille des Autors. Die GUSA ist in Forwards Zukunftsträumen die stärkste Supermacht und hat zumindest im Sonnensystem die totale Alleinherr­schaft. Auch den bemannten Flug zu Barnards Stern stemmt sie – bzw. die Groß-NASA – ganz allein. Und dieses Pro­jekt ist wahrlich gigantisch, um nicht zu sagen gigantomanisch (die Frage nach den astronomischen Kosten stellt sich allenfalls der Leser, aber nicht Robert L. Forward): Rund um den Merkur werden 1.000 Satelliten installiert, die mit gro­ßen Kollektoren Sonnenlicht einfangen und zu 1.000 energiereichen Laserstrahlen bündeln, die dann in einem „Laser­strahlcombiner“ zu einem einzigen mächtigen Laserstrahl zusammengeführt werden. Dieser Strahl wird schließlich auf das riesige Sonnensegel der Prometheus von 1.000 Kilometern Durchmesser gelenkt. 18 Jahre lang beschleunigt der Laser die 82.000 Tonnen (!) der Prometheus in Richtung Barnard, bis das Raumschiff 20 % der Lichtgeschwindigkeit erreicht hat. 20 Jahre fliegt das Schiff dann unbeschleunigt weiter, bis zwei Jahre vor Eintreffen im Barnard-System das clever ausgedachte Bremsmanöver einsetzt, ebenfalls mithilfe des solaren Laserstrahls. Zum Verständnis des Lesers sind dem Roman zahlreiche Zeichnungen der technischen Anlagen des Lasers und des Raumfahrzeugs beigefügt. Ein anderes, aus heutiger Sicht etwas skurril anmutendes Konzept ist der „Weihnachtsbusch“, eine künstliche Intelligenz, bestehend aus Stäben und Stäbchen in fraktaler Struktur. Kleinere Teile des „Weihnachtsbuschs“ können sich von ihm ablösen und autonom allerlei Aufgaben übernehmen, vom Reparieren von Geräten und Putzen der Wohnräume des Raumschiffs bis hin zur Übersetzung von Aliensprachen. Hard-SF-Geeks werden hier also bestens bedient!

 

Aber sonst? Es ist ausgesprochen enttäuschend, dass die interstellare Reise selbst überhaupt nicht erzählt wird (die vielen Jahre in der interstellaren Leere hätten mich wirklich interessiert). Statt sich mit der Standardlösung, nämlich dem Kälteschlaf der Menschen an Bord, zu behelfen, erfindet Forward die „Kein-Tod-Droge“, die die Menschen wäh­rend des Flugs kaum altern lässt. Gleichzeitig schränkt die Droge die kognitiven Fähigkeiten jedoch stark ein, sodass die Crew geistig auf das Niveau von brabbelnden und sich zankenden Kleinkindern zurückfällt! Eine vierzigjährige Reise durchs All mit lauter Halbidioten an Bord? Hier hätte sich Forward durchaus eine weniger peinliche – und glaub­würdigere – Lösung einfallen lassen können.

 

Die Mitglieder der Crew sind allesamt begeistert, bei dem großen Abenteuer der Erforschung des Barnard-Systems dabei sein zu dürfen, und keiner äußert auch nur im geringsten Bedenken darüber, dass die Mission als eine Reise ohne Wiederkehr geplant ist. Nun ist begeisterter Forschergeist ja nichts Unbekanntes, und für eine One-Way-Mission zum Mars etwa ließen sich heute auch sicherlich genügend Enthusiasten finden. Die einzelnen Figuren werden jedoch psy­chologisch überhaupt nicht ausgeformt. Sie sind alle ständig bester Laune und strotzen vor überschäumender Aben­teuer­lust, äußern auch noch in den brenzligsten Situationen saloppe und witzige Sprüche und bleiben so blass und unun­terscheidbar, dass ich während der Lektüre x-mal im Dramatis personae am Ende des Buchs nachschlagen muss­te, wer denn nun nochmal Richard und wer David war . . .

 

Wenn die Forscher dann endlich auf Rochewelt gelandet sind – ein höchst merkwürdiger Doppelplanet, dessen Kon­zeption die Frage aufwirft, wie lange dieses seltsame System tatsächlich stabil bliebe –, wird die Handlung wieder etwas interessanter und spannender, insbesondere in dem Moment, wo die Menschen die Bekanntschaft mit den außerirdischen Intelligenzen im Ozean von Rochewelt machen. Die Menschen nennen diese Wesen „Flou­wen“ (ein altes Wort für „fließen“), und mit ihnen hat Robert L. Forward wirklich sehr interessante und originelle Aliens ersonnen. Sie sind amorphe, gallertartige Wesen, Quallen ähnlich, wiegen aber mehrere Tonnen und erstrecken sich über bis zu 30 Meter. Sie wirken wenig ausdifferenziert, da ihre Denkorgane als milchige Verfärbungen im gesamten Körper er­kennbar sind. Die Flouwen haben keine Augen, obwohl sie Licht empfinden können, und sie kommunizieren miteinan­der über Schall und Ultraschall. Überdies haben die Flouwen nie eine Technologie entwickelt – dafür sind sie sehr in­telligent und wissbegierig und haben eine Mathematik erschaffen, die der menschlichen um Jahrhunderte voraus ist.

 

Zum Glück der menschlichen Besucher sind die Flouwen nicht feindselig, sondern sehr am Gedankenaustausch mit den Menschen interessiert – der mithilfe der Kapazitäten des „Weihnachtsbuschs“ und seiner Ableger, den „Imps“, auch recht rasch gelingt. Später, als eine tödliche Gefahr für die im Meer havarierte Zauberlibelle droht, warnen die Flouwen die Menschen und helfen ihnen, zu ihrem Lander auf der felsigen Welt von Rochewelt zurückzukehren.

 

Der „Bericht“ auf den letzten 45 Seiten des Romans, eingekleidet in eine Anhörung vor dem Repräsentantenhaus der GUSA über die an die Erde zurückgesendeten Daten der Prometheus, ist überflüssig, weil er in komprimierter Form noch einmal die verschiede­nen technologischen Konzepte des Romans erläutert. Auch hier wird spürbar, dass es dem Autor mehr um die Präsen­tation eben dieser von ihm fabulierten Konzepte ging als darum, einen spannenden, mit­reißenden Science-Fiction-Roman zu schreiben. So bleibt als Fazit festzustellen, dass Der Flug der Libelle zwar faszi­nierende, wenn auch wahr­scheinlich undurchführbare technologische Konzepte und sehr originelle Aliens vorweisen kann, das Buch als Roman jedoch aufgrund der schwachen, spannungsarmen Handlung und der flachen, undifferen­zierten Figuren keinen blei­benden Eindruck hinterlässt.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 7. Mai 2019