Mirra Ginsburg (Hrsg.): Draußen im Weltraum

Cover der Anthologie Mirra Ginsburg (Hrsg.), "Draußen im Weltraum" (Heyne Verlag 1970)

Mirra Ginsburg (Hrsg.): Draußen im Weltraum und andere russische SF-Stories. Eine Anthologie moderner russischer Science-Fiction-Stories. Erschienen im November 1970 im Wilhelm Heyne Verlag München (Heyne Band 3216). Die von Ginsburg übersetzte und herausgegebene amerikanische Originalausgabe der Anthologie trägt den Titel Last Door to Aiya und erschien 1968 im Verlag S. G. Phillips. Über­setzung aus dem Englischen ins Deutsche von Birgit Reß-Bohusch. Taschenbuch, 144 Seiten.

 

Die renommierte, aus Weißrussland in die USA eingewanderte Übersetzerin, Herausgeberin und Autorin Mirra Gins­burg (1909–2000) hat 1968 mit Last Door to Aiya eine Auswahl von neun Erzählungen bekannter Science-Fiction-Schriftsteller aus der Sowjetunion übersetzt und herausgegeben. Im November 1970 erschien die Anthologie im Hey­ne-Verlag in Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche, wobei eine der neun Erzählungen – die 28 Seiten lange Geschichte „Neuer Alarm“ (Новая сигнальная, bei Ginsburg The New Signal Station) von Sewer Gan­sowski – nicht in die deutsche Ausgabe übernommen wurde.

 

Die bedeutendsten Autoren der Sammlung sind gewiss die Brüder Arkadi und Boris Strugazki; besonders bemerkens­wert sind überdies die Kurzgeschichten Das letzte Tor nach Aya von Jeremej Parnow und Michail Jemzew, Arbeits­teilung von Wladimir Grigoriew sowie Draußen im Weltraum von Ilja Warschawski. Die übrigen Erzählungen sind we­niger eindrucksvoll. Wie damals üblich, ist die Antho­logie von Heyne sehr mager ausgestattet worden: Außer den nackten Texten liefert das Taschenbüchlein keinerlei Zusatzinformationen zu den Autoren, deren Vornamen alle nur abgekürzt wiedergegeben werden. Auch heute führen einige der Autoren im Internet eher ein Schattendasein, sodass nur wenig über sie in Erfahrung zu bringen ist.

 

1. Anatoli Dnjeprow: Das zweite Leben

 

Мир, в котором я исчез („Die Welt, in der ich verschwunden bin“); The World in Which I Dissappeared (1961); 15 Sei­ten. Der bei einem Unfall verstorbene Harry wird vom amerikanischen Wissenschaftler Woodrop wieder zum Leben er­weckt, um ihn zusammen mit einer ebenfalls wieder erweckten Frau, Susan, in die Maschinerie eines monströsen Ap­parates einzuspannen, der zu Studienzwecken das kapitalistische Wirtschaftssystem simulieren soll. Harry und Susan müssen wie in einem elektronischen Spiel an verschiedenen Armaturen „Arbeit“ und „Konsum“ vollziehen. Durch ihren Tod sind sie vollkommen rechtlos geworden; Woodrop fügt sie mitleidlos auf Gedeih und Verderb in das System sei­nes Appa­rates ein. Eine hölzerne Story des ukrainischen Physikers und Autors Anatoli Dnjeprow (1919–1975) mit einer wenig originellen Idee, die eigentlich nur auf plumpe Art und Weise darauf aus ist, den bösen kapitalis­tischen Westen zu diffamieren.

 

2. Michail Greschnow: Der goldene Lotos

 

Лотос золотой („Der goldene Lotus“); The Golden Lotus. A Legend (1960); 18 Seiten. Ein Team von Geologen ist in den Bergen des Pamir dem sagenumwobenen „goldenen Lotos“ auf der Spur, der in einer Höhle wachsen soll und dem nachgesagt wird, dass er offene Wunden, Blindheit und Lepra heilen könne. Die erste je veröffentlichte fantastische Erzählung des aus der Gegend von Rostow stammenden Lehrers und Science-Fiction-Schriftstellers Michail Gresch­now (1916–1991) ist offenbar vom reichhaltigen zentralasiatischen Sagen- und Märchenschatz inspiriert und lebt ganz von der Exotik des Pamir. Allerdings hat sie, auch wenn sie als Science-Fiction firmiert, meines Erachtens kaum etwas mit dem Genre zu tun. In seinen späteren Erzählungen hingegen hatte sich Greschnow, der ein umfangreiches Oeuvre verfasste, mit vielen klassischen SF-Themen wie der interstellaren Raumfahrt, dem Erstkontakt mit Außerirdischen und Zeitreisen beschäftigt.

 

3. Wladimir Grigoriew: Arbeitsteilung

 

Коллега — я назвал его так („Kollege – ich habe ihn so genannt“); My Colleague (1964); 10 Seiten. Diese clevere und pointierte Story des Moskauer Autors Wladimir Grigoriew (1934–1999) handelt von einem Wissenschaftler, der in sei­ner Akademie unter enormem Arbeitsdruck leidet und das Gefühl hat, mit den Koryphäen seines Fachs nicht mithalten zu können. In seiner Not entwickelt er ein Gerät, mit dem er sein eigenes Schlafbedürfnis auf einen anderen Menschen übertragen kann. Ein Säufer von der Straße, der für ihn diese Funktion übernimmt, ist schnell gefunden. Fortan schläft der Säufer rund um die Uhr, während der Wissenschaftler gar nicht mehr schläft und zu beruflichen Höchstleistungen aufläuft. Allerdings beginnt das Verhältnis der „Arbeitsteilung“ zwischen beiden Männern komplizierter zu werden . . . und immer wendungsreicher. Eine bemerkenswerte, wirklich originelle kleine Erzählung, die zudem Kritik am Leis­tungsdruck an sowjetischen wissenschaftlichen Akademien anklingen lässt, der dort offenbar kaum geringer war als im Wissenschaftsbetrieb im Westen. Nicht von ungefähr war Grigoriew auch immer wieder mit den sowjetischen Zensur­behörden in Konflikt geraten, wie sich auf der russischen bibliografischen Webseite Лаборатория Фантастики (d. i. Laboratorija Fantastiki) nachlesen lässt.

 

4. Wladimir Grigoriew: Wanja

 

А могла бы и быть . . . („Und es hätte sein können . . .“); Vanya (1963); 7 Seiten. Die sehr knappe, kaum erwähnenswerte Miniatur erzählt von dem Wunderkind Wanja, das eine Zeitmaschine entwickelt, in die Vergangenheit reist und damit ein Zeitparadoxon auslöst, das dem Leser am Ende leider nicht ganz logisch vorkommt. Aber sind Zeitparadoxa in der Science-Fiction je wirklich logisch gewesen? Nach Grigoriews Arbeitsteilung eine enttäuschende Kurzgeschichte.

 

5. Jeremej Parnow und Michail Jemzew: Das letzte Tor nach Aya

Cover der Anthologie Mirra Ginsburg (Hrsg.), "Last Door to Aiya" (1968)
Cover der originalen US-Ausgabe (1968)

Последняя дверь („Die letzte Tür“); Last Door to Aiya (1964); 35 Seiten. Die Au­toren Jeremej Parnow (1935–2009) und Michail Jemzew (1930–2003) haben ge­meinsam eine beachtliche Anzahl von Romanen und Erzählungen verfasst, wo­von nur ein kleiner Bruchteil in Englisch oder Deutsch erschienen ist. Das letzte Tor nach Aya, auch bekannt unter dem Titel Die letzte Tür, ist eine atmosphä­risch gelungene Erzählung über einen Mann, Jegorow, der den vom Mars heim­gekehrten Freund und Kollegen Wassili Netschiporenko in der ukrainischen Pro­vinz besucht. Jegorow beneidet Wassili, denn zum Raumfahrer hat es bei ihm selbst nicht gereicht. Wassili hat mit seinem Team auf dem Mars eine uralte, un­tergegangene Marszivilisation erforscht, deren Städte sich unter der Marsober­fläche befinden. Scheinbar sind alle Marsianer vor vielen Jahren mit einem Schla­ge gleichzeitig nach „Aya“ verschwunden – die Forscher konnten allerdings nicht herausfinden, was dieses „Aya“ ist oder wo es sich befindet. Ein vom Mars mitge­brachter, ovaler Spiegel allerdings offenbart später ganz erstaunliche Eigenschaf­ten . . . Die Erzählung weist bei allen wohlbekannten Versatzstücken aus anderen Marsromanen und -Erzählungen durchaus einige originelle Ideen auf und ist spannend geschrieben.

 

6. Alexander L. Poleschtschuk: Wer war Homer?

 

Тайна Гомера („Das Geheimnis von Homer“); Homer’s Secret (1963); 13 Seiten. In dieser Erzählung des aus der ukraini­schen Stadt Dnipro stammenden Autors Alexander Lazarewitsch Poleschtschuk (1923–1979) – von dem Laboratorija Fantastiki ein überschaubares Werk von nur sieben Erzählungen verzeichnet – gibt ein althumanistischer Lehrer an einer Technischen Hochschule Unterricht in klassischer griechischer Literatur, damit die jungen Studenten nicht nur auf ihr technisches Wissen beschränkt bleiben. Sie entwickeln Interesse für Homer und wollen erfahren, wer Homer tatsächlich gewesen ist. Während der Lehrer noch darum ringt, die Schwierigkeiten der Philologen begreiflich zu machen, ein klares Bild von Homer zu gewinnen, baut der Student Artem eine Zeitmaschine, mit der er mit dem Lehrer in Homers Zeitalter reist, um den Dichter persönlich kennenzulernen. Eine originelle kleine Geschichte, etwas holprig erzählt und am Ende, wo die Zeitreisenden tatsäch­lich Homer treffen, leider zu farblos.

 

7. Arkadi und Boris Strugazkij: Das Ei

 

Белый конус Алаида („Der weiße Kegel Alaids“); The White Cone of the Alaid (1959); 21 Seiten. Die Brüder Arkadi Strugazki (1925–1991) und Boris Strugazki (1933–2012) gehören zu den bedeutendsten Vertretern der russischen fantas­tischen Literatur. Ihr Werk umfasst zahlreiche Romane und Erzählungen, von denen viele auch als Hörspiele und Filme umgesetzt wurden. Die bekanntesten Verfilmungen dürften Peter Fleischmanns Es ist nicht leicht ein Gott zu sein (1989) und Andrei Tarkowskis Stalker (1979) sein, für den die Strugazki-Brüder auch das Drehbuch schrieben. In Das Ei wird ein dreiköpfiges Team von Wissenschaftlern – der erfahrene Raumfahrer Aschmarin und zwei jüngere Assistenten – auf die nördliche Kurileninsel Schumschu abkommandiert, um dort ein hochkompliziertes, metallisches „Ei“ zu testen. Das Ei ist ein „embryomechanischer Apparat“, der nach dem Vorbild eines heranreifenden und wachsenden Embryos konzipiert ist. Zuvor entsprechend programmiert, entfaltet sich das Ei selbstständig und verwandelt sich unter der Nutzung der Stoffe, von denen das Ei umgeben ist, in jeden nur erdenklichen Artefakt: ein Gebäude, ein Fahrzeug oder einen Roboter. In der von Vulkanen geprägten, menschenleeren Gegend der Insel führt das Team den Testlauf durch. Doch dann geht etwas schief – denn etwas Unvorhergesehenes verbirgt sich im Berg, auf dem das Ei heranwächst . . .

 

Das Ei – eine Erzählung, die zuvor schon in der vom Piper-Verlag herausgegebenen Anthologie Science Fiction 1: Wis­senschaftlich-phantastische Erzählungen aus Rußland (1963) unter dem Titel Der weiße Konus Alaids in einer Überset­zung von Ruth Elisabeth Riedt veröffentlicht wurde und dem Strugazkischen „Mittags-Universum“ angehört – ist eine interessante, spannende kleine Erzählung, die das erzählerische Können der Strugazki-Brüder demonstriert, für meine Begriffe jedoch eine viel zu absurde Grundidee auftischt und auch nicht mit einer besonders originellen Pointe am Ende aufwarten kann.

 

8. Ilja Warschawski: Draußen im Weltraum

 

В космосе („Im Weltraum“); Out In Space (1963); 22 Seiten. Die einzige im Weltraum spielende Story handelt von der fantastischen Reise des interstellaren Raumschiffs Meteor. Auf einem fremden Planeten stößt die Besatzung auf die unerklärlichen Überreste einer zugrundegegangenen Zivilisation, deren Individuen sich unter einem fremden Virus in rattenähnliche Wesen verwandelt hatten, bevor sie ausstarben. Auf dem Rückflug gerät das Schiff in eine Zeitschleife, aus der der Kommandant es nur mit Mühe herausmanövrieren kann. Entgegen aller mathematischen Wahrscheinlich­keit gelangt das Schiff zur Erde zurück – nur vierzig Jahre nach seinem Aufbruch und tausend Jahre früher als erwartet. Seinem Enkel erzählt der Kommandant von einem weiteren wundersamen Planeten, auf dem seine Crew eine kängu­ruhartige Spezies von völlig passiven, dem Müßiggang frönenden „Nicht-Essern“ beobachtete – und denen die von den Menschen eingeschleppten Flöhe bald zur Plage wurden . . .

Ilja Warschawski (1908–1974)
Ilja Warschawski (1908–1974)

Der in Kiew geborene Ingenieur und Schriftsteller Ilja Warschawski (1908–1974) ist einer der wenigen Science-Fiction-Autoren der UdSSR, von dem auch im Westen zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht wurden. Er begann erst in seinem 53. Le­bensjahr, Science-Fiction zu schreiben, und tat dies eher als Entspannung nach sei­nem Arbeitstag in einem Leningrader Dieselwerk. Nach einer hübschen Anekdote soll Warschawski einst seinen Sohn dafür gescholten haben, seine Zeit mit dem Lesen „unsinniger Science-Fiction“ zu vertun. Als sein Sohn trotzig erwiderte, er solle erst einmal selbst solch „unsinniges“ Zeug schreiben, hatte sich der Vater prompt hingesetzt und seine erste SF-Story verfasst. Ilja Warschawski war fortan sehr produktiv in dem Genre und schrieb eine stattliche Anzahl von Erzählungen. Die Geschichte Draußen im Weltraum wirkt auf den Leser zunächst etwas zusam­mengewürfelt, was allerdings daher rührt, dass sie aus fünf separaten Kurzge­schichten zusammengefügt ist, die sich alle um das Raumschiff Meteor und seine Besatzung ranken. Allerdings sind alle fünf Geschichten bereits in der russischen Anthologie Фантастика, 1963 год (Fantastik bzw. Science-Fiction, Jahr 1963), in der sie erstveröffentlicht wurden, gemeinsam erschienen. Die fünf Ge­schichten sind: „Fliederplanet“ (Сиреневая планета), „Die Falle“ (Ловушка), „Die Rück­kehr“ (Возвращение), „Der Enkel“ (Внук) und „Die Nicht-Esser“ (Неедяки). Die entsprechenden Abschnitte spiegeln sich in der deutschen Ausga­be lediglich in den eingefügten Kapitelnummern.

 

Insgesamt ist die zusammengefügte Erzählung spannend, interessant und mit originellen, spekulativen Ideen ange­reichert. Viel zu selten denken Science-Fiction-Autoren etwa über die völlige Andersartigkeit außerirdischer Spezies nach – Warschawski tat es. Die Geschichte schließt mit einem ironischen Augenzwinkern. So seufzt der erzählende gealterte Raumfahrer am Ende: „Ah, diese Geschichten aus dem Kosmos!“

 

Alles in allem ist die Anthologie Draußen im Weltraum eine kurzweilige, interessante Sammlung russischer Science-Fiction-Kurzgeschichten, die einige originelle Ideen aufweisen, inzwischen aber auch etwas angestaubt wirken. Ich schätze, dass nur jene Leser, die eine gehörige Portion Interesse an der Geschichte des Genres oder an russischer Fan­tastik mitbringen, ihr Vergnügen an der Anthologie finden werden. Spannung und rastlose Action nach amerikani­schen Science-Fiction-Maßstäben wird man hingegen vergeblich suchen. Wirklich mitreißend ist keine der Erzählun­gen, und keine hat eine frappierende Pointe – Kennzeichen vieler anderer Kurzgeschichten des Genres.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 16. Februar 2018