Iain Banks: Welten

Transition (2009). Science-Fiction-Roman. In deutsch 2010 erschienen im Wilhelm Heyne Verlag (München). Übersetzung ins Deutsche von Friedrich Mader. Taschenbuch, 559 Seiten.

 

Der junge Adrian Cubbish ist ein zynischer Hedonist – die rechte Einstellung, um es in den Neunzigern im profitgieri­gen Business weit zu bringen. Er nutzt den Kontakt zu einem Kumpel aus dem englischen Geldadel, um Zugang zum Investmentgeschäft zu bekommen, und steigt vom ordinären Koksdealer zur coolen „Heuschrecke“ auf: Als gewissen­loser Hedgefondsbroker zockt er seine Geschäftspartner eiskalt ab und lässt es als dekadenter Neureicher auf Partys ordentlich krachen.

 

Adrians Leben nimmt eine eigenartige Wendung, als er über einen Geschäftskontakt mit einem Flugzeug in das men­schenleere Tschernobyl entführt und dort zu einer gewissen Mrs. Mulverhill gebracht wird. Mulverhill erklärt ihm, dass sie von einer Parallelerde gekommen sei, von der es angeblich unendlich viele gibt. Sie selbst zähle zu einem kleinen Kreis von Menschen, die mittels einer speziellen Droge, dem „Septus“, in der Lage sind, zwischen den verschiedenen Welten zu wechseln. Zum Beweis springt sie gemeinsam mit Adrian in eine Parallelwelt, in der Moskau nur noch ein sumpfiges Ruinenfeld ist.

 

Mrs. Mulverhill unterbreitet ein Angebot: Gegen ein üppiges monatliches Honorar soll sich Adrian als Kontaktperson für einen nicht spezifizierten Zweck bereit halten. Adrian willigt ein. Erst Jahre später wird Adrian in Venedig kontak­tiert, von einem anderen „Weltenwechsler“, der mit Mulverhill zusammenarbeitet. Die Zusammenhänge kennt Adrian kaum: Mrs. Mulverhill versucht, einen Komplott gegen den „Konzern“ zu schmieden, eine tausendjährige Organisation, die bislang alle Weltenwechsler kontrollierte. Bislang hatten die Weltenwechsler vom Konzern ständig Aufträge er­halten, mit denen sie die Geschicke der besuchten Welten zum Wohle der Menschheit beeinflussen sollten. Seit eini­ger Zeit jedoch droht Unheil: Die intrigante Madame D’Ortolan hat aus selbstsüchtigen Machtinteressen heraus be­gonnen, die Konzernführung zu übernehmen. Mulverhill will den Kampf gegen D’Ortolan aufnehmen . . .

 

Ein unausgegorenes Vielewelten-Wirrwarr

 

Der Schotte Iain M. Banks (1954–2013) gilt als einer der herausragendsten Science-Fiction-Autoren der jüngsten Zeit. Die Wespenfabrik (1984), Bedenke Phlebas (1987), Der Algebraist (2004), Sphären (2008) – viele gefeierte Bestseller zieren die Liste seiner literarischen Erfolge. Die New York Times feierte ihn einst als „bedeutensten Science-Fiction-Autor der Gegenwart“, und die britische Times zählte ihn 2008 zu den „größten britischen Schriftstellern seit 1945“. Kein Wunder, dass Iain Banks’ Name auf dem Buchdeckel in dickerer Schrift prangt als der fast unscheinbar hinzuge­fügte Titel. Doch wie bei Kinoplakaten, die aufdringlich mit dem Namen des Stars werben und den Inhalt des Films zur Nebensache machen, ist auch hier Vorsicht geboten: Möglicherweise verspricht der Name mehr, als das Werk zu hal­ten vermag. Nur zu wahr. Welten ist nämlich trotz der klappentextlichen Verzückung über Banks, der hier angeblich – wieder einmal – ein „Meisterwerk“ abliefert habe, eine uninspirierte, ärgerliche Enttäuschung.

 

Vielewelten-Theorien bzw. Spekulationen über unendlich viele Universen oder Dimensionen sind in Philosophie und Science-Fiction ein altbekanntes Thema. Es gibt zahlreiche unterschiedliche Ausprägungen, von der konventionellen Vorstellung des gekrümmten, wurmdurchlöcherten Alls, das den Zugang zu einem multidimensionalen „Hyperraum“ eröffnet, über hierarchisch arrangierte Welten wie z. B. in Rainer Werner Faßbinders Film Welt am Draht (1974) oder in der Matrix-Filmtrilogie (1999–2003) bis hin zur Idee metaphysisch ineinander verschränkter Welten, die prinzipiell zahl­los sind. Zu letzterer Kategorie gehören die vielen Welten in Banks’ Roman.

 

Neben der Spekulation über den multiplen Aufbau des Kosmos reizt die Vorstellung unendlich vieler, ineinander ver­schränkter Welten zur philosophischen Frage, ob die Welt, in der wir leben, determiniert ist. Ist der Verlauf der Ge­schehnisse durch freie Willensentscheidungen beeinflussbar, oder ist alles ein einziger, großer, vorgezeichneter Plan, die Welt nur ein von den Naturkräften gesteuertes Uhrwerk? Der Einwand, dass die Quantenmechanik alle determinis­tischen Modelle der Natur verabschiedet hat, wird in Vieleweltenmodellen, die mit unendlich vielen Welten rechnen, abgefangen: Jede denkbare Möglichkeit, in die sich eine Welt weiterentwickelt – und jedes quantenmechanische Er­eignis vervielfacht in jeder Nanosekunde die Möglichkeiten praktisch ins Unendliche –, ist ontologisch existent. Unsere Welt ist nur ein Pfad durch den Dschungel unendlicher Möglichkeiten, von denen jede einzelne von einem transzen­denten Standpunkt aus dasselbe Existenzrecht für sich beanspruchen kann.

 

Denkt man dieses, auch Banks’ Roman zugrundeliegende Modell konsequent zuende, gelangt man zwangsläufig zu einer Art Determinismus durch die Hintertür: Die einzelne Welt ist eingebettet in einem uferlosen Kontinuum von Welten, das alle Möglichkeiten umfasst. Eine Welt ist für sich genommen nicht determiniert, aber da sämtliche Mög­lichkeiten existent sind bzw. sich ständig zu unendlichen weiteren Welten auffächern, ist die Frage nach einem freien Willen und seinen Einfluss auf das Weltgeschehen unerheblich geworden. Die Welt wird durch den freien Willen in eine bestimmte Richtung gelenkt, aber alle anderen denkbaren Richtungen existieren daneben ebenso, und zwar gleichberechtigt – eine Vorstellung, die etwa Larry Niven in seiner brillanten Kurzgeschichte Tausend Wege des Alls (1968) satirisch trefflich aufs Korn genommen hat.

 

Die prekären Implikationen des Vieleweltenmodells, das Banks in seinem Roman zugrundelegt, werden von ihm leider so gut wie gar nicht in den Blick genommen. Die wirklich spannenden Fragen, die ein Vieleweltenmodell aufwirft, be­rührt Banks kaum. Hätte er sich eingehender um sie gekümmert, wäre er wohl zu dem Schluss gekommen, dass sich das Erzählen in seinem infiniten Multiversum völlig erübrigt hat. Denn was soll eine erzählte Geschichte, die für den Leser am Ende nichts verändert, weil alle anderen Möglichkeiten trotzdem bestehen bleiben? Banks versucht zwar, dieses Problem halbwegs in den Griff zu bekommen. So wird zum Beispiel erwähnt, dass wenn ein Mensch getötet wird – und es sterben wirklich viele Menschen in seinem Roman –, er dann tatsächlich und unweigerlich eliminiert ist, und zwar in der gesamten Schar der Welten, in der die Auffächerung der Möglichkeiten zur Existenz dieses Menschen geführt haben. Gibt es also doch eine priviligierte, transzendental übergeordnete Welt in Banks’ Roman, die ein höhe­res Existenzrecht für sich beanspruchen kann als alle anderen? Die Antwort bleibt Banks dem Leser schuldig. Banks macht die Sache auch nicht damit besser, dass er sehr vieles in seinem Multiversum im Dunkeln belässt, dem be­schränkten Hirn des Menschen (und wohl auch des von Banks antizipieren Lesers) unerforschlich. Der genaue Zusam­menhang der vielen Welten ist auch den Weltenwechslern nicht richtig klar. Vor diesem Hintergrund wirkt schon der Beginn des Romans: „Nach einer falschen Geschichte . . .“ wie eine fade Entschuldigung für die daran anschließenden ziellosen 559 Seiten. Auf S. 11 wird diese noch mit einer Verhöhnung des Lesers durch den Erzähler garniert, der es ganz unglaublich findet, dass überhaupt jemand dieses Buch lese. Na, schönen Dank auch.

 

Dass das zugrundegelegte Multiversum in Welten latent deterministisch ist, wird dem brüchigen und unentschlosse­nen Plot des Romans auf Schritt und Tritt zum Verhängnis. Banks meint sich um die Probleme seiner Konzeption herumdrücken zu können, indem er sein Multiversum als nur „teilerforscht“ und unüberschaubar hinstellt. Dadurch schwimmen seine weltenwechselnden Figuren letztlich ziellos durch das Weltenkontinuum, nur vermeintlich die Din­ge beeinflussend und lenkend. Tatsächlich ergibt sich für den Leser aber der Eindruck, dass ihr Handeln vollkommen unerheblich ist – und damit uninteressant. Spannung baut sich jedenfalls keine auf. Wer unbedingt will, kann hier mei­netwegen zu Banks’ Ehrenrettung eine fürchterlich gewitzte Metapher auf die Vergeblichkeit menschlichen Strebens hineinlegen.

 

Mit dem undurchdachten Grundkonzept korrespondiert, dass die Figuren des Romans gar nicht oder nur äußerst schwach motiviert sind. Da gibt es einen „Konzern“, der die Fähigkeit, zwischen den Welten zu wechseln, für sich monopolisiert hat. Der Leser erfährt, dass es diese Institution bereits seit tausend Jahren gibt. Warum sie gegründet wurde und welche Ziele der Konzern verfolgt, indem er Weltenwechsler mit bestimmten Aufträgen in andere Welten schickt – darüber äußern einige Figuren im Roman lediglich vage Mutmaßungen. Denn nicht nur der Leser, auch die Weltenwechsler selbst sind völlig im Unklaren über diese Ziele. Sie erhalten Mordaufträge, wechseln in eine andere Welt, führen die Morde aus – aber warum sie morden sollen, weshalb die jeweilige Zielperson sterben muss, interes­siert sie nicht. Es reicht ihnen die schlichte Erklärung, dass ihr tödliches Handwerk der Besserung der jeweiligen Welt diene. Madame D’Ortolan ist ein intrigantes Weibsstück, das eigene Machtinteressen in der Konzernleitung verfolgt. Mrs. Mulverhill bekämpft sie, ohne jedoch zu wissen, was D’Ortolan eigentlich mit ihrem Herumpfuschen in den Ge­schicken der vielen Welten erreichen will. Irgendwann in der Mitte des Romans ist es dann auch dem Leser egal ge­worden. Ich habe selten ein schwächer motiviertes Personal in einem Roman erlebt.

 

Man muss Iain Banks zugestehen, dass er sprachlich sehr ausgefeilt ist. Er schildert Szenen und Situationen eindrucks­voll und mit Sinn fürs Detail, obgleich sein Stil manchmal etwas zu bemüht literarisch und verkopft wirkt und sich Banks oft in Kleinigkeiten verbeißt, die nichts zur Figurenzeichnung beitragen. So schildert er beispielsweise, wie einer seiner Weltenwechsler, der von neurotischem Ordnungszwang beseelt ist, immer und immer wieder die Anzahl der Erbsen auf seinem Löffel nachzählt, bevor er sie verzehrt, weil er einen verlässlichen Durchschnittswert einer Löffel­ladung ermitteln will.

 

Die durchweg unsymphatischen Figuren bleiben überwiegend blass, was mit ihrer fehlenden Verankerung in einer be­kannten Welt zu tun hat. Sie haben keine Vergangenheit, keine plausible Motivation und damit auch keine Zukunft – sie agieren quasi in einem sinnentleerten Vakuum, wofür Madame D’Ortolan, Mrs. Mulverhill und der Weltenwechsler Oh die hervorstechendsten Problemfälle sind. Die lebendigsten Figuren gelingen Banks im egozentrischen Adrian, eine Abrechnung mit den jungen, arroganten Zockern der Londoner Börse, und in „Mr. Kleist“, einem unterkühlten Folter­knecht in Madame D’Ortolans Diensten.

 

Welten ist ein freudloses, zynisches Buch. Ständig wird sinnlos gemordet, ständig wird in ekelerregendster Weise ge­foltert, und ständig wird gevögelt, gevögelt und nochmals gevögelt. Die Gewalt wird genüsslich ausgemalt und bleibt dennoch beliebig und oberflächlich – gelegentlich fühlt man sich an Filmfarcen wie Pulp Fiction (1994) oder Bube, Dame, König, GrAS (1998) erinnert. Mehrere Handlungsfäden laufen relativ lose nebeneinander her, öfters wird auch mit Rückblenden operiert, aber ein kohärenter Spannungsbogen wird nicht erkennbar. Artig führt Banks auf den letz­ten 30 Seiten zwar alle Fäden zu einem geschlossenen Ende zusammen, und das sogar sehr konventionell. Doch es hätte mich auch nicht gewundert, geschweige denn geschert, wenn der Roman den Leser mit einem offenen Ende verabschiedet hätte. Das Urteil wäre kaum schlechter ausgefallen.

 

Wer einen höheren literarischen Sinn darin sieht, den Menschen ständig in seiner viehischen Natur vorzuführen, dau­ergeil und gewaltbereit, und einen Flickenteppich lose miteinander verknüpfter Schilderungen und das Fehlen eines klassischen Plots und Spannungsbogens mit literarischer Kunstfertigkeit verwechselt, ist in diesem Roman genau richtig. Allen anderen sei von der Lektüre dieser überlangen, überflüssigen (und im Drucksatz schlimme Augenschmer­zen bereitenden) Schwarte dringend abgeraten.

 

 

 

© Michael Haul; veröffentlicht auf Astron Alpha am 27. Juli 2017