Thomas Le Blanc (Hrsg.): Noch Leben auf Ka III?

Cover der Anthologie "Noch Leben auf Ka III?" (1983) von Thomas Le Blanc (Hrsg.)

Thomas Le Blanc (Hrsg.): Noch Leben auf Ka III? Gefahr für den Mohnplaneten. Franckh’sche Verlagsbuchhandlung (Stuttgart 1983), erschienen in der Reihe „Lesefutter“. Hardcover mit Schutzumschlag, 128 Seiten.

 

Hach, wohlige Nostalgie! Als ich dieses hübsche Büchlein mit zehn Science-Fiction-Erzählungen für junge Leser im Sommer 1983 zum Geburtstag geschenkt bekam – von welchem meiner damaligen Freunde weiß ich nicht mehr –, war ich gerade zwölf Jahre alt geworden. “The gol­den age of science fiction is twelve”, heißt es ja nach einem berühmten, augenzwinkernden Bonmot im Fandom – sprich das beste Alter, um sich mit Science-Fiction zu beschäftigen, und das galt ganz ge­wiss auch für mich. Verfilmte Science-Fiction und Comics hatte ich auch schon früher verschlungen, aber eine regel­rechte Leseratte war ich damals noch nicht, und Noch Leben auf Ka III? zählt mit zu meinen ersten Berührun­gen mit literari­scher Science-Fiction. Die jeweils nur wenige Seiten umfassenden Geschichten in dem Band sind alle überaus kurzwei­lig und haben schlichte Plots, sodass die junge Zielgruppe des Sammelbandes nicht überfordert wur­de. Gleich­wohl sind die Geschichten keineswegs dumm oder stumpfsinnig, sondern warten zumeist mit einer klugen Pointe – die immer eine gelungene Kurzgeschichte garnieren sollte – und manchmal auch mit einer interessanten Spe­kulation auf, die sich auf unser eigenes Leben in einer technologisch hochentwickelten Industriegesellschaft beziehen lassen.

 

Der Band wurde zusammengestellt vom Fantastik-Liebhaber Thomas Le Blanc (geb. 1951), der nicht nur als Autor und Herausgeber bekannt ist, sondern 1989 auch die berühmte „Phantastische Bibliothek Wetzlar“ gründete, die mit inzwi­schen über 270.000 Titeln die weltweit größte Sammlung ihrer Art ist und noch heute von Le Blanc geleitet wird. In Noch Leben auf Ka III? gelang es Le Blanc, intelligente, inhaltlich vielfältige und nicht zuletzt auch stilistisch überzeu­gende Science-Fiction-Kleinodien zu versammeln und damit der jungen Leserschaft aufzuzeigen, dass das Genre weit­aus mehr als nur coole Weltraumabenteuer zu bieten hat. Darüberhinaus lag dem Herausgeber daran, deutsche Science-Fiction zu fördern, und so stammen alle Autoren des Sammelbandes aus Deutschland, die meisten aus der damaligen Szene der Heftromanschreiber.

 

1. Diethard van Heese: Der Lohn

 

Die Geschichte, die den Band eröffnet, ist zugleich die schwächste von allen. Auf nur fünf Seiten werden die Nöte ei­ner Mutter und ihrem Sohn geschildert, die in einer wüstenhaften Gegend wohnen, weil es seit Ewigkeiten nicht mehr geregnet hat. Es mangelt akut an Wasser, und der drei Tagesmärsche entfernt wohnende Nachbar Pedro, dessen Brun­nen tiefer reicht als der der Mutter, wäre bereit, sein Wasser für eine gewisse Gegenleistung der Mutter zu teilen. Die Geschichte ist langweilig, hat keine Pointe, und da das Ausbleiben des Regens nicht mit einem Atomkrieg oder Ähnli­chem erklärt wird, hat sie auch nichts mit Science-Fiction zu tun.

 

2. Irmtraud Kremp: Das Flugzeug

 

In dieser hübschen, kurzweiligen Erzählung schnappt eine Frau in einer Gaststube in ihrem Heimatdorf einen Ge­sprächsfetzen auf über „den Sommer, als das Flugzeug abstürzte“. Sie erinnert sich an diesen Sommer – einen Sommer im Zweiten Weltkrieg, als sie selbst noch ein Kind war. Das Flugzeug stürzte auf einem Feld in der Nähe ab, und alle hielten die Trümmer für die Überreste eines amerikanischen Bombers. Das Mädchen indes hatte zwischen den Trüm­mern seltsame grüne Knäuel von ineinander verflochtenen dünnen Fäden gefunden, die sie damals als Spielzeug mit­genommen hatte. Schließlich hatte es mit ihnen Beerdigung gespielt und die Knäuel in leeren Heringsdosen unter ei­nem Birnbaum bestattet. Erst später, nach dem Krieg, hatte es der Frau gedämmert, dass sie damals wahrscheinlich die toten Insassen des Fluggefährts gefunden hatte, das wahrscheinlich von einer fernen Welt im All gekommen war.

 

3. William Voltz: Babysitter

 

Der Autor dieser Erzählung ist wahrscheinlich der bekannteste von allen hier versammelten, denn er hatte viele Jahre sehr produktiv als Autor und Redakteur für die Romanheftserien Perry Rhodan und Atlan gearbeitet. „Babysitter“ ist eine versierte, cleve­re Geschichte um einen humanoiden Babysitter-Roboter namens Kane, der ab und zu von einem wohlhabenden Paar gemietet wird, damit er auf dessen achtjährige Tochter Mira aufpasst. Während es dem Vater nicht ganz geheuer ist, mit seiner Frau auszugehen und seine Tochter in der Obhut eines Roboters zu lassen, ahnt er nicht, dass es in Wirklich­keit genau umgekehrt ist: Kane hungert nach menschlicher Zuwendung wie ein Kind und lässt sich nur allzu gern von Mira bemuttern und Geschichten erzählen, die das als ein interessantes Spiel betrachtet. Bis eine Unachtsamkeit von Mira fatale Folgen für Kane hat . . .

 

4. Rolf Serowy: Warum nur?

 

Der Ich-Erzähler dieser kleinen Erzählung von Rolf Serowy, der in den Siebzigerjahren vor allem Groschenheft-Horror-Romane verfasst hatte, ist ein junger Mann, der in den USA in einer Werkstatt als Kfz-Mechaniker arbeitet und über eine erstaunliche Fähigkeit verfügt: Er kann die Gedanken der Menschen lesen, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befinden. Außerdem hat er, nachdem er als Junge die Erfahrung gemacht hatte, dass alle Menschen sich entsetzt von ihm entfernten, wenn sie ihn ansahen, die telepathische Fähigkeit entwickelt, die Gedanken der Menschen zu manipu­lieren und ihnen zu suggerieren, dass sie ihn mögen. Allerdings plagen ihn seine fantastischen Geisteskräfte: Statt den Menschen näher zu kommen, scheinen sie ihm eine wirkliche Nähe unmöglich zu machen, und er wäre viel lieber „nor­mal“. Das gilt auch für sein Äußeres: eine grünliche, schuppige Haut und echsenartige Augen und Kiefer.

 

Die Erzählung ist effektiv und unterhaltsam, nur überzeugt die Mär, mit der Serowy das Aussehen und die Telepathie des Ich-Erzählers erklärt, nicht: Sein Vater soll ein Ingenieur in einem Atomkraftwerk gewesen sein, der bei einem schweren Unfall verstrahlt wurde und als einziger überlebt hatte. Das mag anno 1982 angesichts der damaligen Anti-Atomkraft-Bewegung zeitgemäß gewesen sein – aber letztlich handelt es sich um die angestaubte Erklärung für die Existenz des Monsters, wie sie in den Fünfzigerjahren gängig war, und wirkt nüchtern betrachtet reichlich absurd.

 

5. Waltraud Jakoby: Ritter für einen Tag

 

Perlan Of Aset hat mit seinem Raumschiff und seiner Crew den Planeten Caladyn angeflogen, auf dem eine humanoide Spezies lebt, die sich auf einer mittelalterlichen Kulturstufe befindet. Perlan hegt nämlich einen besonderen Wunsch: Er möchte einmal als Ritter an einem echten Ritterturnier teilnehmen. Vom Orbit aus lässt er sich in voller Rittermontur auf den Planeten herabbeamen, auf dem an der Burg des Fürsten Kohs Al Alok gerade ein Turnier stattfindet, und gibt sich dort als weitgereister Ritter aus dem fernen Westen aus. Während Perlan mit Lust am Turnier teilnimmt und sogar das erotische Interesse der Burgherrin auf sich zieht, hat die Crew an Bord des Raumschiffes ein Problem: Der Peilsen­der versagt, der dafür sorgt, dass Perlan jederzeit zurück auf das Schiff gebeamt werden kann . . .

 

Die Geschichte von Waltraud Jakoby – ihr literarisches Debut – ist gekonnt und unterhaltsam geschrieben, hat ein komisches Ende, aber sie ist auch sehr stark nach dem Vorbild von Star Trek fabuliert und hat daher eher den Touch von Fan Fiction.

 

6. Jörg Weigand: Ein Stückchen Heimat und die Folgen

 

Robert Danner ist Xenobiologe und Bürgermeister der kleinen Siedlergemeinde auf dem erst jüngst kolonisierten Pla­neten Kabale III. Und er schlägt sich mit einem schlimmen Problem herum: Trotz strenger Kontrollen bei der Bestei­gung der Raumschiffe nach Kabale III wurden einige Samenkörner von Mohnblumen übersehen und in der neuen Welt freigesetzt – und der Mohn breitet sich nun explosionsartig auf dem Planeten aus und verdrängt die heimische Flora . . .

Jörg Weigand (geb. 1940), ehemaliger Redakteur beim ZDF, Autor, Herausgeber und exzellenter Kenner der Heftro­manliteratur, liefert hier eine kleine Geschichte mit einer ebenso schlichten wie unübersehbaren Mahnung zum Schutz von Ökosystemen ab. Die Erzählung ist eher blass, auch wenn sich am Ende als Pointe herausstellt, dass der Xenobio­loge selbst durch eine Unachtsamkeit die Mohnsamen nach Kabale III eingeschleppt hat.

 

7. Falk-Ingo Klee: Pest

 

Die nach meinem Dafürhalten beste – und auch längste – Geschichte des Sammelbandes stammt von Falk-Ingo Klee (geb. 1946), einem Autor, der zwischen 1978 und 1987 für die Heftromanserien Terra Astra und Atlan schrieb und auch zwei Perry Rhodan-Planetenromane verfasste. In Pest erscheint einem zurückgezogen lebenden pensionierten Lehrer eines Abends in seinem Wohnzimmer ein seltsamer, altertümlich gekleideter Besucher. Er behauptet, im Jahre 1635 zu leben. Nachdem der Lehrer seinen anfänglichen Schrecken verwunden hat und zunächst annimmt, dass der Besucher ein verrückter, aber harmloser Landstreicher ist, unterhalten sich die beiden Männer und versuchen jeweils den ande­ren davon zu überzeugen, dass sie sich im Jahre 1981 beziehungsweise 1635 befinden. Dem Lehrer fällt auf, dass sein Besucher bläuliche Haut und eitrige Wunden hat, die er mit Verbänden und einem Desinfektionsspray behandelt. Die Sprayflasche schenkt er dem Besucher, der bald darauf so unbemerkt verschwindet, wie er erschienen war. Wenige Monate später stirbt der Lehrer an der Schwarzen Pest, die in Mitteleuropa seit Langem ausgerottet schien; und als Monate nach dem Tod des Lehrers einer seiner ehemaligen Nachbarn in seinem Garten gräbt und eine verbeulte Spraydose entdeckt, denkt er sich nichts dabei, da er nicht erkennt, dass die Dose bereits seit Jahrhunderten im Boden lag.

 

Im Grunde ist Pest eine weird tale, denn die seltsame Zeitreise des Mannes aus dem Dreißigjährigen Krieg erfährt kei­ne „wissenschaftliche“ Begründung. Die Grundidee der Erzählung mag vielleicht simpel sein, ebenso der Clou, dass der Lehrer sich an der Pesterkrankung seines Besuchers ansteckt und eine uralte Spraydose im Boden gefunden wird. Aber die Geschichte ist stilistisch außerordenlich gut ausgefeilt und entfaltet eine mitreißende Spannung, die sich allein aus dem Gespräch dieser beiden ungleichen Männer aus verschiedenen Jahrhunderten ergibt – auch wenn aus ökonomi­schen Gründen das Problem des gegenseitigen sprachlichen Verstehens hier ignoriert wurde (es ist fraglich, ob wir Heutigen einen Menschen, der einen Dialekt des 17. Jahrhunderts spricht, problemlos verstehen könnten). Alles in allem: Chapeau, Pest ist eine immer noch eindrucksvolle, unterhaltsame Erzählung!

 

8. Lothar Streblow: Sundera

 

Trevis Luson und Ron Repper sind mit einem Raupenfahrzeug auf Erkundungsfahrt auf dem Planeten Sundera, auf dem sich immer ausgedehntere Sandwüsten ausbreiten, seit seine Bodenschätze von einem interstellaren Konzern massiv ausgebeutet und das Ökosystem des Planeten rücksichtslos geschädigt wurde. Mit den sechsgliedrigen Pelzwesen, die den Menschen auf Sundera begegnet sind, hat es schon einige gewaltsame Zusammenstöße gegeben. Von den Menschen werden diese Wesen einfach nur für Tiere gehalten. Als das Raupenfahrzeug nach einem Sandsturm in Treibsand versinkt und nur Trevis überlebt, es ihm allerdings nicht gelingt, sich aus dem Griff des Treibsands zu befrei­en, helfen ihm plötzlich zwei der Pelzwesen aus seiner misslichen Lage und retten sein Leben – und Trevis erkennt, dass diese Wesen intelligent sind und empathische Gefühle haben können. Ähnlich wie in der Erzählung von Jörg Wei­gand geht es hier um eine simpel vermittelte Ökobotschaft, doch der abenteuerliche Touch der Story auf einem fremdartigen Planeten macht sie sehr unterhaltsam. Auch sind Streblows Außerirdische angenehm ungewöhnlich und originell.

 

9. Thomas Le Blanc: Der Tag davor

 

Ein Späher einer Gemeinschaft, die nach dem Dritten Weltkrieg seit Jahren in einem Atombunker ausgeharrt hat, ist in die oberirdische, radioaktiv verstrahlte Ruinenstadt entsandt worden, um nach Lebensmitteln zu suchen. Er zählt zu den Nachgeborenen und hat den Atomkrieg selbst nicht erlebt, sondern weiß nur aus Erzählungen von ihm. Als er einen alten Radiosender und in ihm Bandaufzeichnungen des letzten Tages vor dem Atomschlag entdeckt, spannt er sie in ein noch funktionierendes Tonbandgerät ein und hört sich das Radioprogramm jenes denkwürdigen Tages an – und ist geschockt, dass damals offenbar ein völlig normaler Tag mit normalen Nachrichten gewesen war und die Menschen in keiner Weise mit dem Atomschlag gerechnet hatten. Tja, denkt sich der Leser, wäre das wirklich ein so abwegiges Szenario, sodass es als Pointe einer Science-Fiction-Erzählung taugt? Die enthaltene Warnung vor dem Atomkrieg indes, inmitten der friedensbewegten frühen Achtziger, ist selbsterklärend.

 

10. Michael Morgenthal: Späte La-Tène-Zeit

 

Ein Ich-Erzähler besucht seinen Freund Charly und fragt beiläufig, wo denn der antike armenische Dolch geblieben sei, der immer an der Wand über dem Sofa gehangen hatte. Er erfährt eine schier unglaubliche Geschichte: Charly und seine Freunde Dagmar und Thomas hatten sich einige Wochen zuvor in einem Café über die Möglichkeiten von Zeit­reisen unterhalten und waren daraufhin von einem Unbekannten vom Nachbartisch zu einer tatsächlichen Zeitreise eingeladen worden. Die drei Freunde trafen sich mit dem Unbekannten in dessen Wohnung, wurden dort von ihm in Trance versetzt und gelangten schließlich in den fränkischen Urwald der vorrömischen Zeit. Als die Zeitreisenden an einem Fluss mit feindseligen Einheimischen zusammenstießen, verlor Charly dabei seinen Dolch, den er auf die Reise mitgenommen hatte. Kurz darauf kehrten sie in die Gegenwart zurück. Der Ich-Erzähler bleibt skeptisch, ob er Charlys Geschichte glauben soll – bis er zufällig im Altfränkischen Museum Charlys Dolch in einer Vitrine wiederentdeckt, wo die Stichwaffe als archäologisches Fundstück der späten La-Tène-Zeit und als vermeintlichen Beweis für frühe Han­delsbeziehungen nach Armenien wiederentdeckt.

 

Ähnlich wie Falk-Ingo Klees Pest ist Michael Morgenthals Späte La-Tène-Zeit eigentlich eine weird tale, denn die Zeit­reise wird mit esoterischem Klimbim statt „wissenschaftlichen“ Mitteln im klassischen Sinn bewerkstelligt. Auch die Pointe mit einem zeitgenössischen Artefakt, der in einem archäologischen Zusammenhang wiederentdeckt wird, ist in beiden Erzählungen ähnlich.

 

Noch Leben auf Ka III? ist eine vielleicht unbedeutende Anthologie für Kinder und Jugendliche der Achtziger; heutigen Kids mag sie vielleicht auch noch zusagen, vielleicht auch nicht. Als nostalgisches Leseerlebnis und Zeitreise der ganz persönlichen Art macht sie mir allerdings auch heute noch Freude.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 24. Februar 2018