Neal Stephenson: Amalthea

Seveneves (2015). Science-Fiction-Roman.

 

2015 in deutsch im Wilhelm Goldmann Verlag München unter dem Label „Man­hattan Bücher“ erschienen. Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Juliane Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl. Hardcover, 1056 Seiten.

 

Irgendetwas – niemand wird später je wissen, was es gewesen war – schlägt auf dem Mond ein und lässt ihn in sieben große und unzählige kleinere Trümmerstücke zerbrechen. Anfangs noch von den Menschen als surreales Schauspiel am Himmel neugierig bestaunt, dämmert es dem berühmten Astrophysiker Dr. Dubois Jerome Xavier Harris bald, dass das Zerbrechen des Mondes in kurzer Zeit auch die Auslöschung der Erde nach sich ziehen wird. Die Bruchstücke des Mondes kollidieren immer wieder miteinander und zertrümmern sich gegenseitig zu immer mehr Gesteinsbrocken. Binnen zwei Jahren, so rechnet Dr. Harris der alarmierten US-Präsidentin Julia Bliss Flaherty und ihrem Krisenstab vor, wird auf die Erde ein gewaltiger, Jahrtausende andauernder „harter Regen“ von Mondtrümmern niedergehen, der die Atmosphäre verbrennen, die Kontinente umpflügen und die Meere verdampfen lassen wird. Nichts auf der Erdoberflä­che wird dieses glühend heiße Bombardement überleben.

 

Der Weltuntergang ist unausweichlich, und es gibt keine Möglichkeit, die sieben Milliarden Menschen auf der Welt zu retten. Dennoch verständigen sich alle Staaten der Erde auf eine ehrgeizige, letzte gemeinsame Anstrengung: Um der menschlichen Spezies doch noch eine Chance auf ihren Fortbestand zu eröffnen, sollen unter Aufwendung aller Kräfte und Ressourcen soviele Raumschiffe wie möglich gebaut und in den Erdorbit geschossen werden, damit in ihnen eine Handvoll junger, gesunder Menschen überleben können. Im All, so die Hoffnung, könnte dieser kleine Überrest der Menschheit in seinem Schwarm von Raumschiffen vielleicht die nächsten Jahrtausende überstehen, um dann, in ferner Zukunft, die Erde wieder zu kolonisieren.

 

Während auf der Erde das Projekt zügig umgesetzt wird, übernimmt im All die Internationale Raumstation ISS die Funktion einer zentralen Operationsbasis. Hunderte von Raumfahrern werden zu ihr hinaufgeschickt, um ihr neue An­dockports für weitere Module hinzuzufügen und die Organisation des Schwarms von Raumschiffen, die ständig in den Orbit geschossen werden, durchzuführen. Als schließlich der „harte Regen“ einsetzt und die Erde im Hagel von Mond­trümmern verglüht, haben es etwas mehr als 1500 Menschen auf etwa 300 Raumschiffen ins All geschafft. Die Überle­bensaussichten im Orbit sind jedoch alles andere als rosig, da auch die ISS und ihr Schwarm von Weltraumarchen im­mer wieder von Mondbrocken getroffen werden. Nach und nach sind weitere Verluste an Menschenleben und Res­sourcen zu beklagen, und es entbrennt ein verschwörerischer Machtkampf um die Frage, wohin der Schwarm ziehen soll, um sich eine neue Heimat zu schaffen: Auf einen der großen Mondbrocken? Auf den Mars? Genau in dem Mo­ment, als sich ein revoltierender Teil des Schwarms unter Führung der ehemaligen US-Präsidentin gewaltsam eines Teils der Ressourcen bemächtigt und sich zum Mars absetzen will, wird die ISS von einem mächtigen Mondbrocken getroffen und fast völlig zerstört. Das gesamte Archenprojekt scheint sich als katastrophaler Fehlschlag zu entpuppen.

 

Der verbleibende Rest von Archen verkoppelt sich mit der ISS und begibt sich auf ein schwieriges orbitales Manöver, das das neu geschaffene Schiff zur Mondumlaufbahn hinaufschwingen soll. Nach drei Jahren erreicht das Schiff schließ­lich „Kluft“, eines der großen sieben Mondbruchstücke, und lässt sich in einer tiefen Schlucht auf ihm nieder. Nur sie­ben Frauen sind am Ende der langen Reise übriggeblieben; alle anderen sind durch Unfälle, Selbstmorde und vor allem durch die kosmische Verstrahlung hinweggerafft worden. Die sieben Frauen machen sich daran, mittels Robotern auf Kluft ein bescheidenes Habitat zu bauen und mithilfe einer genetischer Reproduktionstechnik, die „Jungfrauengebur­ten“ ermöglicht und so das Fehlen männlicher Spermien wettmacht, Kinder zu gebären.

 

5000 Jahre später ist die Menschheit wieder auf über drei Milliarden Menschen angewachsen. Diese sind in sieben Völkerschaften untergeteilt, die auf die „sieben Urmütter“ oder „sieben Evas“ auf Kluft zurückgehen. Die Menschen haben Kluft längst verlassen und leben inzwischen in Tausenden von Weltraumhabitaten, die in einem Ring rund um die Erde angeordnet sind. Das Ziel aber ist die Rückkehr auf die Erde. Auf dem geschundenen Planeten wurde durch Terraformingprojekte langsam wieder eine atembare Atmosphäre freigesetzt und aus alten Gendatenbanken gezüch­tete Pflanzen und Tiere angesiedelt. Zu ihrem Erstaunen stoßen die ersten Kolonisten auf der Erde aber auch auf eine Handvoll einheimische Menschen. Diese haben viele Jahrtausende in abgeschotteten Höhlen unter der Erde den „har­ten Regen“ und die Vernichtung der Biosphäre auf der Oberfläche überlebt.

 

Hard-Science-Fiction XXL

 

Der Schriftsteller Neal Stephenson (geb. 1959) ist seit Jahren ein gefeierter und mehrfach ausgezeichneter Superstar der amerikanischen Science-Fiction-Szene. Dabei hatte sich der Autor nie allein auf die Science-Fiction beschränkt. Seine Romane haben immer wieder die klassischen Genregrenzen gesprengt und beispielsweise auch historische oder philosophische Stoffe aufgegriffen. Stephenson hat so unterschiedliche Werke verfasst wie die gallige Universitäts­satire The Big U (1984), den Cyber-Punk-Klassiker Snow Crash (1991), die nanotechnologische Utopie Diamond Age – Die Grenzwelt (1996), den historisch minuziösen, aus den Bänden Cryptonomicon (1999), Quicksilver (2003) und Confu­sion (2004) bestehenden Barock-Zyklus, den philosophischen Science-Fiction-Roman Anathem (2008) sowie den in der Online-Gaming-Szene verorteten Hightech-Thriller Error (2011).

 

Mit Amalthea hat sich Stephenson wieder einem wahrhaft klassischen Science-Fiction-Thema zugewandt, das er auch in den klassischen Bahnen technikbegeisterter Science-Fiction verarbeitet. Es geht um den Weltuntergang und den Versuch der menschlichen Spezies, sich in Raumschiffen im Erdorbit – modernen Archen – gegen alle Wahrscheinlich­keiten vor dem sicheren Untergang zu bewahren. Entstanden ist ein faszinierender und höchst unterhaltsamer Roman, der jedem Raumfahrtfan, Technologiefreak oder Astrophysikstudenten das Herz höher schlagen lassen dürfte. Denn das über tausend Seiten umfassende Werk ist lupenreine, auf Hochglanz geschliffene Hard-SF vom Allerfeinsten: Es gleicht einer literarischen Versuchsanordnung, die quasi experimentell auszuloten versucht, wie das technologische Problem des Überlebens der Menschheit gelöst werden könnte, wenn uns denn dereinst unerwartet der Mond oder ein anderes großes Objekt aus dem Weltraum auf den Kopf fallen sollte. Dieses technologische Problem steht im Vor­dergrund von Stephensons Erzählinteresse und wird mit bewundernswerter Detailfülle und Sachkenntnis erläutert und ausformuliert – in nahezu ausuferndem Umfang.

 

Die zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen des drohenden Weltuntergangs werden dagegen enttäuschend schwach und ungelenk gehandhabt. Stephenson ist so sehr auf die technokratische Perspektive seiner Wissenschaftler im All fokussiert, dass eine regelrecht soziopathische Kühle im Roman entsteht. Fast hat man den Eindruck, Stephenson würden schlicht die Worte fehlen, um die emotionalen Erschütterungen des vorgestellten Welt­untergangs literarisch zu fassen und nachzuvollziehen. Gefühlswelten sind in Amalthea nicht Stephensons Ding – und das ist in einem Roman, der von einer hoch emotionalen Grundidee ausgeht, ausgesprochen schade. Das letzte Drittel des Romans schließlich, das ein fantastisches Bild von der im Erdorbit wieder erstarkten Menschheit 5000 Jahre nach dem Weltuntergang präsentiert, besteht fast ausschließlich aus der ermüdenden Darstellung dieser neuen Menschheit und ihrer technologischen Wunderwerke, die wie in einem Schaukasten präsentiert werden, schleppt sich dabei je­doch durch einen beinahe zum Stillstand gelangten Alibi-Plot und entfaltet keinerlei erzählerische Kraft. Er wirkt wie ein unnötiger Annex und wäre, besser ausgestaltet, in einem zweiten, eigenständigen Band wahrscheinlich besser aufgehoben gewesen.

 

Die Zukunft gehört den Nerds

 

Die Grundidee von Amalthea ist bestechend, und das vor allem aufgrund ihrer ästhetischen Gewalt: Der Mond zer­bricht am Himmel, und überall auf der Welt blicken die Menschen erstaunt auf und beobachten dieses kosmische, unfassbare Schauspiel. Gleich zu Beginn sprüht der Roman mit diesem eindrücklichen Bild vor schierem sense of wonder. Man fühlt sich vom am Himmel hängenden zerbrochenen Mond aus Joseph Kosinskis Oblivion (2013) erinnert, der allerdings keine inspirierende Quelle für Stephenson gewesen sein kann, da der Autor bereits seit 2006 an seiner Romanidee getüftelt hatte. Die Ursache für die Zertrümmerung des Mondes erfährt der Leser nie, Stephenson lässt diese Frage offen. Die Wissenschaftler auf der Erde spekulieren, ob vielleicht ein kleines Schwarzes Loch den Mond durchschlagen haben könnte, doch gelangt die Diskussion um die Natur des „Agens“, wie das auf dem Mond ein­geschlagene Objekt genannt wird, zu keinem Schluss. Wichtigere Probleme sind zu lösen, als es darum geht, den Transfer der menschlichen Spezies in den Erdorbit zu bewerkstelligen.

 

Stephenson entwickelt lebendige und überwiegend symphatische Figuren, mit denen er sein Hightech-Experiment im All durchspielt. Die meisten von ihnen sind hochgebildete, nüchtern und zielstrebig agierende Spezialisten: Astro­nauten, Roboterprogrammierer, Gentechniker und sonstige Wissenschaftler. Sie kommen aus vielen verschiedenen Nationen wie Russland, China, Japan, Großbritannien, Frankreich, Italien oder Deutschland. Der Kern des Personals, die wichtigsten Handlungsträger und „Macher“ des Romans, besteht allerdings erwartungsgemäß – wieder einmal – aus US-Amerikanern.

 

Zentrale Hauptfigur ist die junge Geologin und Roboterprogrammiererin Dinah MacQuarie, die im Auftrag des privaten Raumfahrtunternehmens Arjuna Expeditions auf der ISS stationiert ist, um den industriellen Asteroidenbergbau zu erforschen. Zu diesem Zweck hatte Arjuna Expeditions schon vor Einsetzen der Romanhandlung den Bug der ISS mit einem in Erdnähe eingefangenen, etwa hundert Meter langen, metallischen Asteroiden namens Amalthea fest zu­sammengeschweißt (dieser hat somit nichts mit dem Jupitermond Amalthea oder dem im Hauptgürtel kreisenden Asteroiden gleichen Namens zu tun). Auf dem Asteroiden lässt Dinah Scharen kleiner Roboter unterschiedlicher Bau­arten – „Grabs“, „Nats“, „Siwis“ oder „Flynks“ genannt – wie Käfer umherkrabbeln und mit kleinen Schweißbrennern und Sägen das Nickel-Eisen-Gemisch, aus dem der Asteroid besteht, abtragen. Später wird Amalthea zu einem ent­scheidenden Überlebensfaktor der ISS – als Rammbock gegen heranschwirrende Gesteinsbrocken, als Schutz gegen kosmische Strahlung und, ausgehöhlt, als sicherer Lagerplatz wichtiger Ressourcen wie Computerchips oder Gen­datenbanken.

 

Dinahs beste Freundin an Bord der ISS ist die Leiterin der Raumstation, Ivy Xiao, eine Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln und versierte Physikerin, Navy-Pilotin und Astronautin. Ihren Chefposten muss sie später an Markus Leuker abgeben, einem zum Astronauten ausgebildeten Schweizer Luftwaffenpiloten und zugleich Liebhaber von Dinah. Eine weitere zentrale Figur ist der ebenso populäre wie brillante, bald ebenfalls ins All aufbrechende Astrophysiker Dr. Du­bois Jerome Xavier Harris, der ganz offenkundig vom Astrophysiker Neil deGrasse Tyson (geb. 1958) inspiriert wurde. Auch Russen werden wichtige Nebenrollen eingeräumt, vor allem der Kosmonautin Tekla Aleksejewna Iljuschina oder dem Kosmonauten Wjatscheslaw (dem Stephenson keinen Nachnamen spendiert). Die Russen bleiben aber hierar­chisch untergeordnet, und auch ihre Tätigkeiten sind von nur geringem technologischen Anspruch und bestehen zu­meist aus robusten Montagetätigkeiten außerhalb der Raumschiffe.

 

Während die fokussierten Raumfahrt-, Computer- und Roboter-Nerds auf der ISS die uneingeschränkt bewunderten Helden des Romans sind, die die Dinge fest entschlossen in die Hand nehmen, sich fast wortlos verstehen und ohne viel Wenn und Aber „einfach machen“, fällt den Politikern die undankbare Rolle der bösen, falschspielenden und zu jeder Schandtat bereiten Egozentrikern zu, die von nichts anderem als persönlichem Machtstreben und hochgradiger Paranoia besessen sind. Verkörpert wird diese Gruppe von der neurotischen US-Präsidentin Julia Bliss Flaherty und ihrem Beraterstab. Die Präsidentin lässt sich gegen alle internationalen Abmachungen in letzer Minute vor dem „har­ten Regen“ selbst ins All befördern, mit dem Ziel, auch dort die Herrschaft zu übernehmen. Im Verlauf des Romans greift sie sogar selbst zur Schusswaffe, um kaltblütig ihre Machtposition im Schwarm der Weltraumarchen auszubau­en, und mutiert am Ende, als auch die Archen nach und nach untergehen, zum spiritistischen, unter fast völligem Rea­litätsverlust leidenden Monster.

 

Ein weiteres Feindbild torpediert Stephenson in den „sozialen Medien“, deren ständig lärmender Strom von Posts und Tweets bei jeder sich bietenden Gelegenheit als unqualifiziertes, dummes und überflüssiges Geschnatter hingestellt wird, das im Konstrukt des Romans eigenartigerweise einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf politische Entschei­dung hat. Die Internetgemeinde wird im etwas schmierigen und nur mäßig klar denkenden Blogger Tavistock Prowse personifiziert, der später im Schwarm der Raumarchen natürlich auch mit den politischen Verschwörern konspiriert. Der Roman wirkt gegen das Internet seltsam kratzbürstig. Verarbeitet Stephenson hier etwa traumatische Zusammen­stöße im World Wide Web? Fast scheint es ihm eine fiktive Genugtuung zu sein, wenn er die Menschheit in der fernen Zukunft nach dem Weltuntergang den weisen Entschluss fassen lässt, das Internet einfach ganz abzu­schaffen.

 

Machtgeile Politiker, verwirrte Blogger und die im Roman leider gesichtslos bleibende Masse der gesamten Mensch­heit, deren Bedürfnisse nach Halt und religiösem Trost nur herablassend belächelt werden, bilden somit den Hinter­grund armer Durchschnittsseelen, vor denen Stephensons rationale Hightech-Könner im All heraus­stechen und glän­zen können. Diese sind nicht nur hochintelligent, sie sind vor allem hoch vernünftig – so vernünftig, dass es kaum je ernstere Konflikte zwischen ihnen gibt. Denn alle verfolgen fieberhaft dasselbe Ziel, arbeiten an der­selben Lösung ei­nes gigantischen technologischen Problems, das sich in tausend kleinere Probleme aufteilt, und die Physik der Orbits, die Ratio der Ressourcen, die unbestechliche Logik der programmierbaren Algorithmen gibt jedes Mal das Handeln vor. Alternativen, um die es sich zu streiten lohnte, kann es somit nie geben, denn sie wären schlicht­weg falsch, und das im mathematischen Sinne des Wortes – und dafür hat der Nerd allemal ein Einsehen und stellt sich mit Feuereifer in den Dienst des Masterplans.

 

Stephenson treibt in seinem Roman einen bewundernswerten Aufwand, die physikalischen und technologischen Pro­bleme des orbitalen Archenprojekts bis ins Kleinste zu erläutern und so machbar erscheinen zu lassen. Diese Diskurse, die regelmäßig mehrere Seiten füllen, durchsetzen den gesamten Roman und unterbrechen immer wieder die Hand­lung, aber der Leser ist davon kein bisschen gestört, denn er begreift, dass die Diskurse letztlich die Handlung sind. So vollzieht der Roman das erstaunliche Kunststück, allein durch die begeisterte Erörterung der Machbarkeit des giganti­schen Projekts, die bei genauerem Hinsehen natürlich ein fiktionales Trugbild ist, Spannung zu erzeugen und durch­gängig spannend zu bleiben. Der Leser bleibt bei der Stange, er will erfahren, ob und wie die als Archen dienenden Raumschiffe – kaum mehr als große Blechdosen im All – funktionieren werden, ob es dem Astronautenteam gelingt, ein herbeigeschafftes Kometenstück in eine Umlaufbahn um die Erde zu lenken – was alles andere als einfach wäre! –, ob es der ISS gelingt, die Mondumlaufbahn zu erreichen – ein ebenso schwieriges Unterfangen – und ob der letzte Rest der Menschheit schließlich auf einem der großen Mondbrocken ein Überleben finden wird.

 

Gewiss ließe sich hier jede Menge Detailkritik anbringen. Stellt man sich nur die gigantischen technologischen Proble­me vor Augen, die schon eine bemannte Reise zum Mars aufwirft, erkennt man, wie sehr Neal Stephenson sein kühnes Archenprojekt vereinfacht hat, um es überhaupt als möglich erscheinen zu lassen. Das beginnt schon mit der aberwit­zigen und völlig unglaubwürdigen Vorstellung, dass ein solches Projekt aus dem Nichts heraus in läppischen zwei Jah­ren zu bewerkstelligen wäre – vereinte weltweite Anstrengungen hin oder her. Die beiden gravierendsten Probleme sind zweifellos der Erhalt der Gesundheit der Menschen im Orbit, die langfristig von der Schwerelosigkeit und der kos­mischen Strahlung zerstört wird, und die sichere Selbstversorgung mit genügend Atemluft, Wasser und Nahrungsmit­teln. Über diese Probleme gleitet Stephenson geflissentlich mit nur wenigen Sätzen hinweg, ohne überzeugende Lö­sungen anzubieten, während er das dritte große Problem, nämlich die psychische Belastung einer Existenz im ewigen Pferch eines engen Raumschiffs, enttäuschenderweise überhaupt nicht in den Blick nimmt, geschweige denn dramati­siert.

 

Andere Konzepte wirken hingegen wie schriftstellerisch bequeme Wunderwerke, die ständig eingesetzt werden, um wirklich alle technologischen Schwierigkeiten wie mit einem Fingerschnippen aus der Welt schaffen. Hier sind vor al­lem Dinahs allvermögende Roboterschwärme zu nennen. Deren universeller und durchschlagend erfolgreicher Ein­satz als Bergbau-Arbeiter, Lastesel und Heizer im Inneren eines Kometenbruchstücks etwa, das unter Verwendung eines Atomreaktors zu einer dampfbetriebenen Rakete umfunktioniert wurde, wirkt vollkommen übertrieben und schreiend unglaubwürdig – gewiss eine leuchtende Vision heutiger Roboterentwickler, aber nichts, was in den nächsten Jahr­zehnten Wirklichkeit werden dürfte.

 

Schließlich fallen hier und da auch kleinere Nebensächlichkeiten auf, die falsch gefasst wurden, wie etwa Stephensons Prognose, dass die Mondtrümmer in der Mondumlaufbahn sich über Jahrmillionen hinweg langsam zu einem Plane­tenring zermahlen würden. Tatsächlich bedürfte es dafür viel größerer Gezeitenkräfte der Erde; nicht umsonst haben nur große, massereiche Planeten auch Ringe, die dann stets innerhalb der Roche-Grenze ihrer Gezeitenkräfte liegen. Weitaus wahrscheinlicher ist, dass die Mondtrümmer sich mit der Zeit wieder zu einem neuen Mond zusammenfügen würden. So oder so bleibt aber die Prognose eines „harten Regens“ davon unberührt: Zerbräche der Mond, würden mit Sicherheit massenhaft Mondtrümmer auf der Erde einschlagen, auch wenn diese in der Summe nur einen geringen Anteil der gesamten Mondmasse ausmachen würden.

 

Allerdings, bei all dieser Kritik: Amalthea ist ein Science-Fiction-Roman, ein spannender noch dazu, und somit sollte der so elegant und reibungslos gelingenden Technologie und astrophysikalischen Laxheiten auch ein gebührendes Maß an willing suspense of disbelief zugestanden werden.

 

Technokratie

 

So faszinierend die technologische Seite von Amalthea funkelt und strahlt, so enttäuschend unterentwickelt bleibt die menschliche Seite der Erzählung. Die wissenschaftliche Elite im All, die Stephenson hemmungslos vergötzt, wirkt bei aller Symphatie im Einzelnen an vielen Stellen schmerzlich arrogant gegenüber allen Menschen, die ihrem exklusiven Zirkel nicht angehören, und seltsam kalt, wenn es überhaupt um Menschliches geht. Das tragische Drama des Welt­untergangs sollte bei den Überlebenden eine schier unfassbare Welle von traumatischen Gefühlen auslösen. Gefühle aber halten die Nerds an Bord der ISS für unprofessionell; sie werden als der Rationalität im Weg stehender Ballast einfach über Bord geworfen. Als die Erde verbrennt und alle Freunde und Angehörigen gemeinsam mit der Mensch­heit ausgelöscht werden, wird niemand vom dramatis personae wirklich erschüttert oder bricht gar zusammen. Man klappt lieber sein Laptop wieder auf und schüttelt die nächsten Algorithmen aus dem Ärmel, die für das nächste an­stehende Teilprojekt gebraucht werden.

 

Technokraten stehen im Mittelpunkt in Amalthea, und ihnen bereitet Stephenson bereitwillig eine grenzenlose Spiel­wiese. So richtet er es absurderweise ein, dass alle Politiker und Regierungen auf der Erde im Angesicht des Weltun­tergangs sofort auf sie hören und in nie zuvor gesehener Eintracht mit allen verfügbaren Energien das ehrgeizigste Raumfahrtprojekt aller Zeiten in die Tat umsetzen. Der feuchte Traum eines jeden NASA-Direktors! Wie die politische Einigung gelingt, erzählt Stephenson allerdings wohlweislich nicht – es wäre wohl rettungslos naiv ausgefallen. Abge­sehen von einem bewaffneten Konflikt mit Venezuela, das aus der Reihe tanzt und schließlich mit Atombomben zur Raison gebracht wird, erzählt Stephenson auch nichts von irgendwelchen Unruhen auf der Erde, die vor einem dro­henden Weltuntergang eigentlich zu erwarten wären. Ruhig, ja, nahezu gelassen sieht die Welt ihrem kollektiven Tod entgegen. Auch das scheint mir eher technokratisches Wunschdenken – oder die desinteressierte Ausklammerung dieses Themas – als eine realistische Einschätzung des fiktiven Szenarios zu sein.

 

Ungeheuerliche Maßlosigkeit gewinnt das technokratische Denken schließlich am Ende der Katastrophe. Sieben Frau­en stranden auf einem Mondbrocken, mit nichts als dem Wrack der ISS und einem Genlabor in Händen. Und ohne dass auch nur über ihre verzweifelte Lage viel nachgedacht würde, ziehen die „sieben Evas“ mit nahezu grotesker Super-Rationalität ihren Rettungsplan für die menschliche Spezies beharrlich durch. Die gefühlskalten Nerdettes, längst zu programmierten Robotern auf Autopilot degeneriert, haben seltsamerweise kein Problem damit, in der lebensfeindli­chen Finsternis des Mondbrockens den Rest ihres Daseins fristen zu müssen; sie haben auch kein Problem damit, sich im Dienste ihres Menschheits-Zuchtprogramms selbst zu reinen Gebärbatterien zu degradieren; und es macht ihnen auch nichts aus, nach Herzenslust eugenisch in ihrem eigenen Genom herumzupfuschen, um die Eigenschaften der künftigen sieben Völkerschaften, die von ihnen abstammen werden, zu „optimieren“. Stephensons utopisches Denken wird hier erschütternd monströs.

 

Der lächerliche Rest der Ressourcen, der den sieben Evas auf Kluft zur Verfügung steht, würde ein Überleben eigent­lich vollkommen unmöglich machen, aber Dinahs Robotern sei Dank ist auch das nur ein Klacks. Das letzte Drittel des Romans, das 5000 Jahre in der Zukunft spielt, stellt dann dem Leser die Hightech-Zivilisation vor Augen, zu der sich die Menschheit im Erdorbit gemausert hat. Allerlei technologische Wunderwerke hat sie inzwischen realisiert: einen gigantischen Ring von Habitaten, die die Erde umkreisen und in denen jeweils Zehntausende leben; einen Torus, in der eine glitzernde Mega-City namens „Chainhattan“ mit Highspeed um sich selbst dahinrast, um künstliche Schwerkraft herzustellen; den guten alten geostationären Weltraumfahrstuhl, der den Kontakt mit der terraformten Erdoberfläche herstellt; atmosphärische Gleitflugzeuge, die mit dem Piloten nanotechnologisch verschmelzen und nur unter Ausnut­zung der Winde in Rekordzeiten interkontinentale Strecken zurücklegen können. Das alles wird sehr fantasievoll, aber irgendwie auch kaum glaubwürdig ausgemalt. Stephenson verliert sich in diesem letzten Drittel völlig in der Beschrei­bung seines eigenwilligen Utopias; von einer eigentlichen Handlung kann hier kaum noch die Rede sein, und so wirkt dieses letzte Drittel überaus steril und zäh. Die Einführung von Menschengruppen, die über Jahrtausende in herme­tisch vollständig abgeschotteten Höhlen und in der Tiefsee in entsprechenden Habitaten das Sodom und Go­morrha des „harten Regens“ überlebt haben, setzt der Unglaubwürdigkeit des letzten Romandrittels dann vollends die Krone auf.

 

Trotz der vielfältigen Detailkritik an einzelnen Ideen und Konzepten und trotz der technokratischen Kühle, die mit einer nahezu pathologischen Unterdrückung des Menschlichen Hand in Hand geht, ist Amalthea, wie bereits eingangs gesagt, ein faszinierendes, einfallsreiches und höchst unterhaltsames Hard-SF-Epos, das trotz allem jeder technisch interessierte Science-Fiction-Fan mit Hochgenuss verschlingen wird.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 13. Juli 2016