Alphaville: Une Étrange Aventure de Lemmy Caution (F/I 1965)
Regie und Drehbuch: Jean-Luc Godard
Kamera: Raoul Coutard
Schnitt: Agnès Guillemot
Musik: Paul Misraki
Darsteller: Eddie Constantine (Lemmy Caution), Anna Karina (Natascha von Braun), Akim Tamiroff (Henri Dickson), Howard Vernon (Prof. von Braun alias Leonard Nosferatu), Christa Lang (erste „Vermittlerin“), Valérie Boisgel (zweite „Vermittlerin“), Lásló Szabó (Chefingenieur) u. a.
Produzent: André Michelin
Companies: André Michelin Productions; Filmstudio; Chaumiane
Laufzeit: 99 Minuten; Schwarzweiß
Premiere: 5. Mai 1965 (F); 22. Juli 1965 (BRD); 7. August 1965 (I)
Der Geheimagent Lemmy Caution reist von den „Außenländern“ in die futuristische Stadt Alphaville, um den vor Jahren verschwundenen Wissenschaftler Professor von Braun zu finden. In der Stadt angekommen, wird er in seinem Hotel aufgefordert, sich bei der „Einwohnerüberwachungsstelle“ zu melden, während die weiblichen Angestellten des Hotels – „Vermittlerinnen“ – ungefragt darum bemüht sind, den Gast sexuell zu befriedigen.
Caution trifft sich mit seinem Kollegen Henri Dickson, der im Untergrund der Stadt lebt und inzwischen zu einem melancholischen, alkoholabhängigen Wrack verkommen ist. Von Dickson erfährt Caution, dass Alphaville zu einem totalitären Stadtstaat geworden ist, in dem jegliche Irrationalität verboten ist – Fantasie, Kunst, Gefühle und Liebe stehen unter Strafe. Die Herrschaft übt ein intelligenter Supercomputer namens Alpha 60 aus, der die mathematische Logik zum alleinigen Ordnungsprinzip des menschlichen Lebens gemacht hat. Das Herrschaftssystem von Alpha 60 scheint zu funktionieren: Die Menschen in Alphaville kennen keine Gefühle und haben selbst die Wörter dafür verlernt. Diejenigen indes, die sich nicht an das logische System Alphavilles anpassen lassen, werden in Massenhinrichtungen einfach beseitigt.
Als Caution auf Natascha, die Tochter von Professor von Braun, trifft, gelingt es ihm, in ihr verschüttete Gefühle wiederzuerwecken, denn er weiß, dass sie nicht in Alphaville geboren ist und einst ein menschlicheres Leben geführt haben muss. Durch Natascha will Caution Professor von Braun, den Erbauer von Alpha 60, aufspüren. Alpha 60 jedoch ist längst auf Caution aufmerksam geworden und beobachtet den ungewöhnlichen, verdächtig unlogisch handelnden Besucher . . .
Sci-Fi-Noir als Kunstkino
Jean-Luc Godard (geb. 1930) ist einer der bedeutendsten Regisseure Frankreichs, der in seinen Filmen immer wieder neue Formen ausprobierte und das Kino richtungsweisend beeinflusst hat. Ende der Fünfzigerjahre wurde Godard zu einem der Pioniere der Nouvelle Vague und verfocht neben François Truffaut (1932–1984) die Idee, den Regisseur zum ästhetisch hauptverantwortlichen Künstler im Produktionsprozess des Films zu erheben. Dem Kino sollte so zu einem ähnlichen intellektuellen Prestige verholfen werden wie die hohe Literatur. 1965 drehte Godard mit Lemmy Caution gegen Alpha 60 einen extrem stilisierten, höchst ansprechenden Kunstfilm. Die Science-Fiction-Story vom Kampf eines Einzelnen gegen die unmenschliche Herrschaft eines Supercomputers wird zur Allegorie auf eine immer technokratischer werdende Gegenwart, die dem modernen Menschen sinnentleerte, uniforme Lebensweisen aufzwingt und ihn seiner Sensibilität beraubt.
Godard experimentiert. Kühn vermischt und verfremdet er verschiedene Stile und Genreversatzstücke aus Kinofilmen, Pulps und Comics, während die Erzählung erratisch montiert ist und die Dialoge oft bizarr und undurchsichtig bleiben. Das Resultat ist ein ungewöhnliches, visuell und intellektuell ausgesprochen reizvolles Kunstwerk. Am augenfälligsten sind die Anleihen am Film noir. Dessen Mittel – die kontrastreiche Schwarzweiß-Ästhetik, das Spiel mit Licht und Schatten, verregnete, nächtliche Straßen, illusionslose, kaltschnäuzige Helden – verbindet Godard mit interessanten Blickwinkeln und Bewegungen der Kamera. So verfolgt zum Beispiel zu Beginn des Films die Handkamera die Bewegung Eddie Constantines von der Straße bis in die Hotellobby, von dort weiter in den Fahrstuhl, aus dem Fahrstuhl heraus, durch den Hotelkorridor bis in sein Hotelzimmer – alles ohne einen Schnitt. Derartige Kamerafahrten finden sich öfters und wechseln sich ab mit extremen Froschperspektiven oder Aufnahmen von einem hohen Dach hinab auf die Straße. Manchmal verweilt die Kamera auf einer Tür, durch die die Figuren verschwunden sind, ohne ihnen zu folgen; man hört die Figuren sprechen, doch was sie tun, zeigt das Bild nicht. Fortwährend verweigert Godard dem Zuschauer die zu den narrativen Situationen erwarteten Kinobilder. Eine Kampfszene gestaltet er als Collage mehrerer Momentaufnahmen der Kämpfenden, die wie in einem Comicstrip in extremen Posen eingefroren sind. In einer anderen Kampfszene wird Caution ständig hin- und hergeschubst, und man sieht ihn nur von links nach rechts und rechts nach links durch das starr bleibende Bild fliegen. All dies steigert das Interesse des Zuschauers am Gezeigten; es verletzt die Sehgewohnheiten und lässt ihn die erfrischend frei komponierten Bilder intensiv genießen.
Eddie Constantine parodiert seine alte Rolle des stereotypen, amerikanischen Agenten Lemmy Caution, die er seit den frühen Fünfzigerjahren in zahlreichen Filmen verkörpert hatte. Der Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen, Cautions neurotische Schießwütigkeit mit einer mächtigen 45er Automatik und sein staubtrockener Humor, all das wirkt im unterkühlten, futuristischen Alphaville wie ein absurder Anachronismus. Godard verzerrt die Klischees des Gangsterfilms und nimmt sie aufs Köstlichste auf die Schippe. So rast bei der klassischen Autoverfolgungsjagd Caution in einem Pkw davon, dichtauf verfolgt von drei Polizeiwagen. Plötzlich bremsen alle vier Fahrzeuge gleichzeitig auf der mit Schneematsch bedeckten Straße, schleudern gleichzeitig herum, und – Caution jagt die drei Polizeiwagen! Allerdings nur auf etwa fünfzig Meter – nun bremst wieder alles, schleudert herum und braust wieder hinter Caution her.
Derartige Slapstick-Einlagen torpedieren den düsteren Ernst der Anti-Utopie von Alphaville, und wahrscheinlich soll genau dies auch erreicht werden: Die Absage an jedwede Vereindeutigung der Themen und Aussagen. Inwiefern dadurch die Wirkung des Films abgeschwächt wird, wäre einige Diskussion wert, doch lässt sich nicht leugnen, dass das Parodistische, das absurd Komische dem Werk gut zu Gesicht steht und scheinbar mühelos zum Ganzen passt.
Auch die Anti-Utopie selbst ist ein Versatzstück, ein Klischee. Der gigantische Supercomputer, der ein eigenes Bewusstsein entwickelt hat und die Welt unterjocht, ist ein gängiges Motiv der Science-Fiction, genauso wie der einzelne Held, der gegen die anti-utopische Bedrohung antritt. Immerhin: Im Film hatte es zuvor noch nie eine von einem Computer beherrschte Welt gegeben, obwohl Godards Alphaville natürlich an die klassische Anti-Utopie 1984 (1948) von George Orwell gemahnt, in der mit dem entrückten „Großen Bruder“ eine ähnlich ungreifbare, technokratische Macht herrscht.
Alpha 60 ist allgegenwärtig. Mit durchdringend-krächzender, schleppender Bassstimme doziert der Computer über die Logik und die Überlegenheit der naturwissenschaftlichen Konstruktion der Welt über den irrationalen menschlichen Gegenentwurf: Kunst, Poesie, Gefühle, Liebe. Godard greift dabei Ideen der damals modernen, strukturalistisch argumentierenden Semiotik auf, um zugleich den Beweis anzutreten, dass die Kunst alle Semiotik übersteigt. Die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem kann verdreht werden und trotzdem funktionieren. So schütteln die Bewohner von Alphaville den Kopf, wenn sie „Ja“ meinen, oder grüßen sich ungefragt mit der Phrase „Mir geht es gut, danke, bitte“, wodurch der eigentliche Sinngehalt der Phrase deutlich wird und zugleich zum Ausdruck kommt, dass eine negative Antwort auf die Frage „Wie geht es dir?“ im Prinzip unerwünscht ist. Doch wenn Lemmy Caution Natascha mit Begriffen wie Moral, Gewissen, die Berufung des Menschen oder der Liebe konfrontiert, wird auch dem Zuschauer klar, dass sich diese Ideen letzten Endes nicht universell vereindeutigen lassen. Die Fragen bleiben offen, und der Zuschauer ist gehalten, selbst über sie zu reflektieren.
Besonders gelungen ist der beklemmende Einbezug der Realität im Film. Godards Alphaville, die „Stadt der Qualen“, ist unverkennbar das Paris des Jahres 1965. Alle Außenaufnahmen entstanden an realen, unveränderten Schauplätzen der Stadt. In der Nacht hell erleuchtete Betonhochhäuser, aus niedrigem Kamerawinkel gefilmt und von bedrohlicher Musik untermalt, werden zu Trutzburgen der technokratischen Macht. Die nassen, fast menschenleeren Straßen werden zu Verkehrsadern einer trostlosen Ameisenkolonie. Auch die Innenaufnahmen wurden in realen Innenräumen in Paris gedreht, in Hotels, Bibliotheken und Instituten. Die modernen, großzügigen Wendeltreppen und tristen Betonwände sind futuristisch genug, um Alphaville glaubhaft darzustellen. Gleichzeitig verzichtet Godard gänzlich auf Spezialeffekte und Science-Fiction-Gadgets. Die zeitgenössische Optik des Films wirft die Anti-Utopie auf die Gegenwart zurück: Die unmenschliche Technisierung der Welt ist längst Wirklichkeit.
Gebärde statt Aussage, Genuss statt Verstörung
Lemmy Caution gegen Alpha 60 ist ein ansprechender Film, ein groteskes und doch auch Genuss bietendes Kunstwerk, verrätselt und zugleich banal. Die Stärken des Films liegen in den originellen künstlerischen Mitteln und seinem ambitionierten Versuch, filmästhetisches Neuland zu erschließen; die größte Schwäche hingegen leistet sich der Film in der vagen, unentschlossenen Haltung. Der Film ist eine faszinierende, eindringliche Erfahrung, doch die absurde Komik und das grobschlächtige Klischee des im Happy End obsiegenden Helden führen zur übermäßigen Distanzierung, die den Schrecken der Anti-Utopie beinahe löscht. Der verstörende Horror Alphavilles wird nur stellenweise greifbar – etwa in den kaltblütigen Erschießungen im Schwimmbad –, und auch die Reflexion der Dichotomie von Logik und Irrationalität droht beständig im klischeehaften, naiv auf Böse und Gut zugeordneten Gegensatz stecken zu bleiben.
Der Kern von Godards Drehbuch bildet nicht das vor Augen gestellte Skandalon der Dystopie, sondern – ähnlich wie in Ray Bradburys Fahrenheit 451 (1953) – die Poesie. Alpha 60 löscht die Menschlichkeit aus, indem er die Worte dafür auslöscht: Täglich werden die Wörterbücher durch neue ausgetauscht, aus denen weitere Wörter für Liebe, Barmherzigkeit, Mitgefühl oder ähnlichem gestrichen wurden. In der sentimentalen Liebesgeschichte zwischen Lemmy Caution und Natascha, in der Natascha sich langsam der zärtlichen Begriffe der Liebe wieder erinnert, deutet sich die einzig mögliche Erlösung des technokratisch geknechteten Menschen an. Lemmy Caution gegen Alpha 60 ist ein Film, der, beinahe altmodisch, eine Lanze für die Lyrik und die Macht der Sprache bricht.
Eine politisch radikalere Schärfe hätte dem Film sicherlich gut getan. Zurück bleibt der Gesamteindruck, dass der Film in erster Linie ein intellektueller Scherz ist. Phil Hardy bringt es auf den Punkt, wenn er in seinem Fazit über den Film schreibt: „Vielleicht ist die beste Annäherung an den Film einfach, ihn als ein Gewebe von intellektuellen und sinnlichen Freuden zu akzeptieren, als Genuß für Kinoliebhaber.“ (Die Science Fiction Filmenzyklopädie, S. 252).
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Mehr über Lemmy Caution gegen Alpha 60 habe ich hier geschrieben:
Steven M. Sanders (Hrsg.): The Philosophy of Science Fiction Film (2008), dort Abschnitt 11.
© Michael Haul
Veröffentlicht auf Astron Alpha am 26. Oktober 2018
Szenenfotos © Chaumiane