Die Erfindung des Verderbens

Bluray-Cover zu dem Film "Die Erfindung des Verderbens" (CSSR 1958) von Karel Zeman

Vynález Zkázy (CSSR 1958)

 

Regie: Karel Zeman

Drehbuch: Karel Zeman, František Hrubín und Milan Vácha, nach dem Roman Face Au Drapeau (1896) von Jules Verne

Kamera: Jirí Tarantik, Antonín Horák, Bohuslav Pikhart. Schnitt: Zdeněk Stehlík. Musik: Zdeněk Liška

Darsteller: Lubor Tokoš (Simon Hart), Arnošt Navrátil (Professor Roch), Miloslav Holub (Graf Artigas), Jana Zatloukalová (Jana), František Slegr (Kapitän Spade), Václav Kyzlink (Ingenieur Serke) u. a.

Produzent: Zdeněk Novák

Company: Filmové Studio Gottwaldov; Československý Státní Film Englische Titel: The Fabulous World of Jules Verne; (An) Invention for Destruction; The Deadly Invention. Laufzeit: 83 Minuten; Schwarzweiß

Premiere: Juni 1958 (Belgien; Brüssel Film Festival); 13. Juli 1958 (CSSR); 2. Januar 1959 (DDR); 7. Juni 1961 (USA); 4. April 1968 (BRD)

 

Im späten 19. Jahrhundert reist der junge Ingenieur Simon Hart zu seinem Lehrmeister Professor Roch, der zur Erholung in einem Sanatorium an einer rauen Meeresklippe weilt. Hart trifft den Professor bei der Arbeit zur Entwicklung eines neuen Supersprengstoffs an, der die Welt revolutionieren könnte. Der Sprengstoff entfesselt nämlich die der Materie innewohnenden Kräfte und würde, in gebändigter Form, eine hervorragende Energiequelle darstellen. Kurz nach Harts Ankunft wird er jedoch zusammen mit dem Professor von einer Piratenbande unter der Führung des kultivierten Gra­fen Artigas gekidnappt und auf Artigas’ U-Boot verschleppt. Artigas möchte den neuen Sprengstoff in seine Gewalt bringen und sich mit seiner Hilfe unangreifbar machen. Dafür behandelt er den naiven Professor höflich und versichert ihm, seine Forschung zum Wohle der Menschheit fördern zu wollen. Hart lässt er derweil im U-Boot wegsperren und vom Professor fernhalten.

 

Auf seiner Reise versenkt das U-Boot ein Handelsschiff, und Artigas’ Piraten sammeln in Taucheranzügen und auf „Un­terwasserfahrrädern“ die Beute auf dem Meeresgrund auf. Außerdem fischen sie die einzige Überlebende vom Han­delsschiff aus dem Wasser. Die junge Frau namens Jana ahnt nicht, dass ihre Retter gleichzeitig auch die Zerstörer ihres Schiffes sind. Schließlich erreichen die Piraten ihren Unterschlupf Back-Cup Island, einen erloschenen Vulkan im Atlan­tischen Ozean, in dessen Krater sich ein Binnensee und Artigas’ Schloss befindet. Artigas stellt Professor Roch im Schloss ein Laboratorium und alle Ressourcen zur Verfügung, die der Wissenschaftler für die Herstellung des Super­sprengstoffs braucht. Roch macht sich leichtgläubig an die Arbeit. Hart hingegen wird isoliert von Roch in einer kleinen Hütte am Hang der gegenüberliegenden Kraterwand untergebracht.

 

Hart gelingt es, mit einem Ballon eine warnende Botschaft zu entsenden, die auch geborgen wird und dazu führt, dass die Nationen der Welt eine gemeinsame Kriegsflotte gegen Back-Cup Island mobilisieren. Doch noch vor ihrem Eintref­fen gelingt es Roch, den Supersprengstoff herzustellen, der von Artigas sofort für Geschosse für ein mächtiges Super­geschütz verwendet wird. Hart unternimmt unterdessen einen abenteuerlichen Fluchtversuch, der zunächst gelingt. Doch bald darauf wird das französische U-Boot, das ihn aufgenommen hat, von Artigas’ U-Boot zerstört, und Hart sieht sich erneut im Vulkankegel von Back-Cup Island gefangen. Ein zweiter Ausbruchversuch gemeinsam mit Jana scheint vielversprechender, doch wird es Hart gelingen, den Beschuss der nahenden Kriegsflotte mit dem Superge­schütz zu verhindern?

 

Bezaubernde Jules-Verne-Verfilmung im Holzstichlook

 

Es gibt zahlreiche filmische Adaptionen der fantastischen Romane und Erzählungen von Jules Verne (1828–1905), ei­nem der großen Väter der modernen Science-Fiction, und viele von ihnen sind durchaus sehr gelungen. Doch keine erreicht den umwerfenden Charme und die geniale visuelle Originalität von Die Erfindung des Verderbens des tsche­chischen Regisseurs und Trickfilmers Karel Zeman (1910–1989). Auch 60 Jahre nach seinem Erscheinen fasziniert der Film mit seiner unvergleichlichen tricktechnischen Gestaltung, die die atmosphärischen Holzstiche der im 19. Jahrhun­dert erschienenen Prachtausgaben der Werke Jules Verne nachahmt und damit die fantasieanregende Erfahrung die­ser Illustrationen – und damit der Bücher selbst – unmittelbar in bewegte Bilder umsetzt. Die Idee dazu ist schlicht­weg genial. Ihre Umsetzung ist es auch.

Szenenfoto aus dem Film "Die Erfindung des Verderbens" (CSSR 1958) von Karel Zeman; U-Boot
Ein "Paddel-U-Boot" in den ozeanischen Tiefen vor Back-Cup-Island

Karel Zeman war ursprünglich in der Werbebranche tätig, wo er durch Werbeanimationen begann, sich für den Zei­chentrick- und Puppenfilm zu interessieren. Er wechselte 1943 zum Film und drehte gemeinsam mit der tschechischen Animationsfilm-Pionierin Hermína Týrlová (1900–1993) seinen ersten Trickfilm Vánoční sen (dt. „Weihnachtstraum“, 1945). Schon bald begann er mit den Möglichkeiten des Trickfilms zu experimentieren und diese mit Aufnahmen mit realen Schauspielern zusammenzubringen. Seinen ersten internationalen Erfolg feierte er mit dem reizvollen, für Kin­der und Jugendliche gedachten farbigen Spielfilm Reise in die Urzeit (1955), in dem bereits Stop-Motion-, Zeichentrick- und Rückprojektionsverfahren mit Live-Action-Aufnahmen kombiniert wurden und der außerdem bereits einige Moti­ve aus Jules Vernes Werken, unter anderem aus Voyages au Centre de la Terre (Reise zum Mittelpunkt der Erde, 1864), aufgriff. Zemans darauffolgender Film Die Erfindung des Verderbens wird von vielen als der Höhepunkt im tricktechni­schen Schaffen des Regisseurs betrachtet. Der Film wurde 1958 auf der Weltausstellung in Brüssel, wo er seine Premie­re erlebte, mit dem Grand Prix ausgezeichnet. Auch danach blieb Karel Zeman den fantastischen und märchenhaften Genres und insbesondere den Stoffen von Jules Verne treu. So drehte er neben Baron Münchhausen (Baron Prášil, 1961), Die Hofnarrenchronik (Bláznova kronika, 1964) und Die Abenteuer von Sindbad (Dobrodruzství námorníka Sindi­báda, 1971) die von der Kritik hochgelobten Verne-Filme Das gestohlene Luftschiff (Ukradená vzducholod’, 1967) und Auf dem Kometen (Na Kometě, 1970).

 

Der Holzstich (Xylografie) war im 19. Jahrhundert die vorherrschende Technik des Illustrationsdrucks in Zeitungen, Zeit­schriften und Büchern. Sie war ein extrem zeitaufwendiges Verfahren, denn jedes zu druckende Bild musste in Tausen­den filigraner Linien mit Sticheln per Hand in den hölzernen Druckstock gestochen werden. Mittels der variierenden Tiefe und Dichte der Linien konnte der Xylograf optisch feinste Grautonabstufungen und Schattierungen imitieren und bisweilen einen fast fotorealistischen Eindruck erzeugen, obgleich die Bilder natürlich immer eine künstlerische Bild­komposition des Grafikers bzw. des Xylografen blieben. Künstler wie Gustave Doré (1832–1883) erreichten eine schon zeitgenössisch hoch geachtete und außerordentlich gut bezahlte Meisterschaft in dieser Illustrationstechnik. Noch heute begeistern die ungeheure Detailverliebtheit und Genauigkeit der Holzstiche des 19. Jahrhunderts bei einer gleichzeitig ganz besonderen, die Fantasie anregenden Atmosphäre, die diese Illustrationen an sich haben. Holzstiche prägen zu einem erheblichen Teil das Bild, das wir uns heute vom 19. Jahrhundert machen.

Szenenfoto aus dem Film "Die Erfindung des Verderbens" (CSSR 1958) von Karel Zeman; Arnost Navratil, Miloslav Holub und Frantisek Slegr
Prof. Roch (Arnošt Navrátil), Artigas (Miloslav Holub) und Kapitän Spade (František Slegr)

Jules Vernes Romane wurden in ihren von Pierre-Jules Hetzel (1814–1886) ab 1864 herausgegebenen Prachtausgaben in der Reihe Voyages Extraordinaires mit Holzstichen von Leon Benett (1838–1917), George Roux (1853–1929) und Édouard Riou (1833–1900) illustriert, die die Fantasie von Generationen von Lesern beflügelten. Die zündende Idee Karel Zemans war es, die Bildmotive, vor allem aber auch den grafischen Stil dieser Stiche und damit den „typischen Look“ des 19. Jahrhunderts und der Jules-Verne-Romane direkt in die bewegten Bilder eines fantastischen Kinofilms zu übertragen. Die Idee setzte er nicht nur konsequent, sondern auch überaus gekonnt im gesamten Film hindurch um. Die kräftigen Texturen der Holzstichlinien finden sich überall: in den gezeichneten, häufig auf Glas ausgeführten Vorder- und Hinter­gründen, in den animierten Zeichentrick-Elementen, aber auch in den gemalten Kulissen, in der Ausstattung und sogar in den Kostümen. Die gezeichneten Elemente und gemalten flachen Bühnenbauten sind dabei so geschickt mit den Live-Action-Aufnahmen der Schauspieler montiert, dass selbst der Zuschauer mit erhöhter Aufmerksamkeit immer wieder in die Irre geführt ist, welche Elemente gezeichnet, gebaut oder real sind, ob er gerade ein dreidimensionales Set oder nur ein Miniatur-Diorama betrachtet und wie genau die Montage gelang (auffällige matte-Linien beispiels­weise finden sich im gesamten Film nirgends, und auch Unterschiede der Bildelemente in ihrer Auflösung oder Kör­nung sind höchst selten).

 

Lediglich in einigen Einstellungen vom bewegten, realen Meer, dem Himmel darüber und einigen Vogelschwärmen (derer es viele in dem Film gibt) ist deutlich erkennbar, dass die Textur der Linien mittels simpler Doppelbelichtung in das Bild eingefügt wurde. Dort stieß der Trick offenbar an seine technischen Grenzen. Ansonsten jedoch ist die visuelle Magie der Holzstich-Ästhetik verblüffend eindrucksvoll und absolut einzigartig, und viele Kritiker haben in ihr derart getreu „ihren“ originalen Jules Verne wiedergefunden, dass Zemans Film ihrer Meinung nach die beste aller Jules-Ver­ne-Verfilmungen überhaupt darstellt (so urteilten beispielsweise der Filmbeobachter, vgl. Ronald M. Hahn/Volker Jan­sen, Lexikon des Science Fiction Films, 7. Aufl. 1997, S. 254, oder auch Bill Warren in seinem Buch Keep Watching the Skies!, S. 256).

Szenenfoto aus dem Film "Die Erfindung des Verderbens" (CSSR 1958) von Karel Zeman; Lubor Tokos
Simon Hart (Lubor Tokoš, Mitte) auf Zugreise

Zeman reproduzierte jedoch nicht allein die visuelle Ästhetik der Jules-Verne-Romane, sondern auch ihren naiven Sinn für technologische Wunder. Die Erfindung des Verderbens ist im Wesentlichen die Adaption von Jules Vernes weniger bekanntem Roman Face au Drapeau (1896), der in Deutsch ab 1897 unter den Titeln Vor der Flagge des Vaterlandes, Der fliegende Tod, Hoch die Flagge des Vaterlands! und schließlich Die Erfindung des Verderbens erschienen ist. Aller­dings hat Zeman in seinen Film auch einige Motive aus anderen Werken von Jules Verne, vor allem aus Vingt mille lieues sous les mers (20.000 Meilen unter dem Meer, 1869) und L’Ile mystérieuse (Die geheimnisvolle Insel, 1874), ein­fließen lassen. So kehrt insbesondere in den submarinen Anteilen des Films die Welt des Kapitän Nemo wieder – mit fantastischen Unterwassergefährten, einem riesigen, menschenverschlingenden Oktopus und Piraten, die sich auf dem Meeresgrund mit Säbeln duellieren. Insbesondere am Anfang zeigt der Film eine Menge Vernescher Kreationen wie U-Boote oder mit Pedalkraft angetriebene Propellerflugzeuge. Der Film spielt in einem fiktiven Universum, in dem alle großen Figuren aus Jules Vernes Werken gleichzeitig leben, wie uns die Erzählerstimme des Simon Hart wissen lässt. Bewundernd spricht sie von Kapitän Nemo, Barbicane und Robur als die großen Erfinder und Entdecker der Zeit, wäh­rend der Zuschauer Roburs Helikopterschiff am Himmel bewundern darf. Auch im weiteren Verlauf präsentiert der Film auf Schritt und Tritt fantastische Vernsche Erfindungen: „Unterwasserfahrräder“, mit Paddeln ausgestattete U-Boote, die sich wie Seeschildkröten durch das Meer bewegen, gigantische Maschinerien mit sich drehenden Zahnrädern und stampfenden Pleueln und Kolben oder eine automatische Schnellschuss-Pistole. All das wird mit einem entwaffnend naiven Charme gezeigt. Die längst vergangene Retro-Science-Fiction Jules Vernes wird hier tatsächlich zu neuem Le­ben erweckt und wieder als „utopisch“ erlebbar.

 

Die Figuren passen sich in ihrer zurückhaltenden und kultivierten Manier nahtlos in dieses optimistische Panoptikum des späten 19. Jahrhunderts ein. An manchen Stellen sorgen sie für erfrischenden Humor, denn die ruhige Integrität des Bürgers ist unerschütterlich bis ins Groteske. So liest ein Zugreisender, dem soeben die Zeitung in den Händen von einem Mitreisenden versehentlich mit einem Gewehr durchschossen wurde, einfach weiter, als sei nichts gewesen. Jana breitet ihre nasse Wäsche auf einer Schiffskanone aus und bügelt sie mit einem erhitzten Ladestock. Später, in Artigas’ Schloss, bittet die Schöne Simon Hart, der sich draußen vor ihrem Fenster in gefährlicher Höhe an der Fassade festklammert, dass er noch warten möge, bis sie sich angekleidet hat – und Hart, der immerhin gekommen ist, um Jana aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, wartet artig und geduldig und klettert erst dann durch das Fenster hinein, als Jana grünes Licht gibt.

 

Allerdings – und dies ist die Kehrseite des stilistischen Experiments – sind die Figuren auch kaum mehr als unpersön­liche Scherenschnitte, sie haben wie die Bilder selbst keinerlei Tiefe und kaum Ecken und Kanten. In dramaturgischer Hinsicht ergeben sich trotz der kurzen Laufzeit hier und da einige Längen, in denen die Sensation der ungewöhnlichen Bilder zu ermüden droht. Ganz ähnliche Probleme hatte beispielsweise Jahrzehnte später die ähnlich künstliche Extra­vaganz Tron (1982). Die Dialoge sind meistens nebensächlich, denn das Geschehen wird in erster Linie von der Stimme Simon Harts in Form eines Erlebnisberichts erzählt. So entfaltet der Film über weite Strecken beinahe die Anmutung eines Stummfilms. Im Verein mit der gewollten visuellen Patina und der Betonung des Tricktechnischen wird Die Erfin­dung des Verderbens nicht nur zu einer Adaption von Jules Verne, sondern auch zum legitimen Erben der Werke von Georges Méliès (1861–1938), dem ersten aller Filmemacher, der Vernes Stoffe als Themen aufgegriffen hat.

Szenenfoto aus dem Film "Die Erfindung des Verderbens" (CSSR 1958) von Karel Zeman; Oktopus
Der Oktopus aus "20.000 Meilen unter dem Meer" fehlt auch bei Karel Zeman nicht

Interessant ist, dass im Film der Supersprengstoff, den Professor Roch entwickelt – die titelgebende „Erfindung des Verderbens“ – zu einer Inkarnation der Atombombe gemünzt wird. Roch erklärt, leicht versonnen und ehrfürchtig, dass sein Sprengstoff die Kräfte entfesseln wird, „die der Materie innewohnen“. Der Bezug des alten Erzählstoffs auf die in den Fünfzigerjahren hochaktuelle Atomkriegsangst wird jedoch nur zart angedeutet und nicht als propagandis­tische Botschaft gebraucht. Karel Zeman wollte sein filmisches Nostalgiestück offensichtlich von betrüblichen politi­schen Problemen freihalten. Immerhin mahnt der Film deutlich die Verantwortung des Wissenschaftlers an, die dem Film zufolge allerdings nicht so sehr in der Frage liegt, ob er einen potenziell gefährlichen Sprengstoff erfindet, son­dern vielmehr, für wen er dies tut.

 

Karel Zemans Die Erfindung des Verderbens ist trotz kleinerer dramaturgischer Schwächen ein bezauberndes Vergnü­gen für jeden, der einen Sinn für künstlerisch ambitionierte Ausdrucksformen des Kinos und die gestaltete visuelle Imagination hat. Die wunderbare Poesie des Films macht ihn noch heute zu einem der sehenswertesten fantastischen Filme und eine der besten Jules-Verne-Adaptionen aller Zeiten.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 20. Oktober 2018

Szenenfotos © Ostalgica