Hüter der Erinnerung

Hüter der Erinnerung (The Giver, USA 2014) Kinoplakat

The Giver (USA 2014)

 

Regie: Phillip Noyce

Drehbuch: Michael Mitnick und Robert Weide, nach dem Roman Hüter der Erinnerung (1993) von Lois Lowry

Musik: Marco Beltrami

Darsteller: Meryl Streep (Chefälteste), Jeff Bridges (der Geber), Brenton Thwaites (Jonas), Odeya Rush (Fiona), Alexander Skarsgård (Vater), Katie Holmes (Mutter), Cameron Monaghan (Asher), Taylor Swift (Rosemary) u. a.

Produzenten: Jeff Bridges, Neil Koenigsberg, Nikki Silver

Companies: Asis Productions, Canada Film Capital, Tonik Productions, Wal­den Media, The Weinstein Company

Laufzeit: 97 Minuten; Schwarzweiß/Farbe

Premiere: 11. August 2014 (USA); 2. Oktober 2014 (Deutschland)

 

Nachdem sich die Menschheit in naher Zukunft selbst ausgelöscht hat, haben die wenigen Überlebenden die Ruinen der untergegangenen Zivilisation hinter sich gelassen und auf drei wolkenverhangenen Hochplateaus ein völlig neu organisiertes High-Tech-Utopia errichtet. Die Lebensbedingungen sind für alle vollkommen gleich und jeder füllt einen ihm fest zugewiesenen Platz in der Gesellschaft aus. Mittels täglich injizierter Drogen werden in den Bürgern alle stär­keren Gefühlsregungen unterbunden, denn Gefühle gelten als schädlich: sie werden als die Ursache aller früheren Ver­fehlungen angesehen, die die Menschheit in den Ruin geführt hatten. Darüber hinaus wurden alle Erinnerungen und Überlieferungen, die an die früheren Zeiten erinnern, gründlich ausgelöscht, um das Gelingen der neuen Gesellschafts­ordnung sicherzustellen.

 

In diese Schöne Neue Welt ist Jonas hineingeboren worden. Wie alle seine Mitbürger wuchs Jonas bei Adoptiveltern auf, denn leibliche Elternschaften sind zugunsten genetisch perfektionierter Babys, die von „Gebärerinnen“ ausgetra­gen werden, abgeschafft worden. Am Ende seiner Schulzeit hat Jonas die ungewisse Ahnung, dass er seine Umwelt mit anderen Augen zu sehen vermag als seine Freunde. Tatsächlich können alle anderen aufgrund der Drogeninjektio­nen keine Farben mehr wahrnehmen, während Jonas manchmal Kleckse von Farbe erkennen kann. Dass Jonas tatsäch­lich anders als die anderen ist, wird bestätigt, als er in der feierlichen Zeremonie, in der seinem Jahrgang die künftigen Berufe zugewiesen werden, von den Ältesten zu einer besonderen Ehre auserwählt wird: Er soll als einziger die Lehre zum „Hüter der Erinnerung“ antreten. Sein Lehrmeister, der bisherige „Hüter“ und nunmehr Jonas’ „Geber“, ist ein älte­rer Mann, der in einer Bibliothek abseits der Siedlung am Klippenrand des Hochplateaus wohnt. Nur dort darf das Wis­sen über die Zeit, wie sie vor der neuen Ordnung gewesen war, zum Zwecke gelegentlicher Beratung der Ältesten bewahrt werden. Der Hüter ist der Einzige, der über dieses Wissen waltet, aber es ist ihm strengstens verboten, es an die Gemeinschaft weiterzugeben.

 

Jonas beginnt seine Lehre. Der Geber beginnt damit, seinem Schüler über eigentümliche Hautmale, die er selbst und Jonas an den Handgelenken haben, Erinnerungen wie traumartige Erlebnisse zu übertragen – Erinnerungen, die durch mehrere Generationen hindurch von Hüter zu Hüter „vererbt“ wurden. Durch diese vor Farben strotzenden Erinnerun­gen lernt Jonas, dass es einst so schöne Dinge wie Schnee, Tiere, ausgelassene Feste und – Gefühle gab. Heimlich lässt Jonas daraufhin seine täglichen Drogeninjektionen aus. Schon bald entwickeln sich in ihm starke Gefühle der Liebe – zum Säugling Gabriel, den seine Adoptiveltern aufgenommen haben, und mehr noch zu Fiona, seiner ehemaligen Schulkameradin. Jonas muss durch die Erinnerungen des Gebers allerdings auch erfahren, dass es auch negative Ge­fühle wie Neid, Schmerz und Verzweiflung gibt und dass Niedertracht, Gier und Machtstreben früher immer wieder großes Leid und entsetzliche Gräuel verursacht haben. Dennoch erscheint ihm seine gleichgeschaltete, gefühllose Ge­sellschaft zunehmend schal und unmenschlich. Als eines Tages der kleine Gabriel mit einer Giftspritze getötet werden soll, weil er als genetisch „unwert“ eingestuft wurde, beschließt Jonas zu handeln. Er entführt den Säugling und ver­lässt mit ihm das Hochplateau, um in der Ferne die „Grenze der Erinnerung“ zu finden, deren Überquerung, wie der Geber erklärt, die Rückkehr der Erinnerung und der Gefühle nach Utopia verspricht . . .

 

Gefühllose Zukunft

 

Coming-of-Age-Dramen für Teenager und junge Erwachsene, die in düsteren, dystopischen Science-Fiction-Welten spielen, sind seit dem durchschlagenden Erfolg von Die Tribute von Panem – The Hunger Games (2012) im Kino zur Zeit schwer in Mode. Der Trend brachte mehrere Filme von ähnlicher Rezeptur hervor, so Ender’s Game – Das große Spiel (2013), Seelen (2013), Die Bestimmung – Divergent (2014), Die Bestimmung – Insurgent (2015), Maze Runner – Die Auserwählten im Labyrinth (2014) und Maze Runner 2 – Die Auserwählten in der Wüste (2015). Hüter der Erinnerung ist ein weiterer Film dieser Art, und so finden sich zu den anderen Filmen auch viele inhaltliche Parallelen. Der Film mag in vielen Motiven und Details abgekupfert wirken. Seine Erzählung allerdings hat durchaus originäre Wurzeln: Sie basiert auf einem Roman, der 15 Jahre vor dem Roman Die Tribute von Panem (2008) von Suzanne Collins erschien und damit als eigentlicher Begründer des Subgenres gelten kann. 1993 veröffentlichte Lois Lowry (geb. 1937) mit Hüter der Erinne­rung einen vielbeachteten Bestseller, der sich über zehn Millionen Mal verkaufte, mehrere Preise für Jugendliteratur gewann und in den USA zum Teil sogar in Schulen gelesen wurde. Auch im Roman ist die Ausgangssituation eine per­fekt organisierte, aber gefühl- und erinnerungslose Gesellschaft der Zukunft; der Schüler Jonas – im Roman ist er zwölf und damit deutlich jünger als im Film – unterhält sich mit dem Lehrer, dem „Geber“, und empfängt von ihm Erinnerun­gen, die nach und nach sein Verständnis der Vergangenheit und die ganze, vielfältige Bandbreite von Gefühlen in ihm wecken und ihn schließlich dahin bringen, gegen die unmenschliche Ordnung seiner Gesellschaft aufzubegehren. Spä­ter schrieb Lois Lowry noch drei Nachfolgeromane, die in derselben fiktiven Zukunft angesiedelt sind: Auf der Suche nach dem Blau (Gathering Blue, 2000), Messenger (2004) and Son (2012).

 

Schon kurz nach der Veröffentlichung des Romans sicherte sich Jeff Bridges (geb. 1949) die Filmrechte, der das Buch zusammen mit seinem Vater Lloyd Bridges (1913–1998) auf die Leinwand bringen wollte, doch gelang es für viele Jahre nicht, das Projekt zu finanzieren. Erst mit dem Erfolg von Die Tribute von Panem, der die Filmstudios sofort nach ähn­lichen Stoffen suchen ließ, stand der Realisierung des Films nichts mehr im Wege. Für die Regie verpflichteten die Pro­duzenten den Australier Phillip Noyce (geb. 1950), die Kamera führte Ross Emery und das stilvolle Produktionsdesign entwarf Ed Verreaux. Der in großen Teilen in Utah und Südafrika gedrehte Film kostete am Ende moderate 25 Millio­nen Dollar, schlug sich an den Kinokassen aber trotzdem nur mäßig, sodass ein Sequel oder gar ein Franchise mit meh­reren weiteren Filmen entsprechend der Panem-Reihe unwahrscheinlich sein dürfte.

 

Hüter der Erinnerung ist ein sehr ansprechend ausgestatteter Science-Fiction-Film, der angenehm ruhig inszeniert ist und sich auch gegen Ende, da sich die Ereignisse dramatisch zuspitzen, mit dem fast unvermeidlichen Action-Krawall wohltuend zurückhält. Zwar werden manche Aspekte der Dystopie nur angedeutet oder ergeben sich erst im Weiter­denken. Doch hierin liegt meines Erachtens eine Stärke: Das Diorama einer radikal anderen, auf fiktiven Prämissen auf­gebauten Gesellschaft der Zukunft spekulativ weiter auszuloten, obliegt dem Zuschauer.

 

Die Gründzüge dieses Dioramas wurden freilich aus einer Reihe gängiger Motive des Subgenres zusammengeschraubt. Das Rad wird hier nicht neu erfunden. So sind seit George Orwells Klassiker 1984 (1948) zwangsweise verabreichte Dro­gen, die die Gefühle unterdrücken und damit die totalitäre staatliche Ordnung garantieren, ein in Dystopien überaus häufig wiederkehrendes Motiv. Aldous Huxleys Schöne Neue Welt (1932) etablierte das Motiv von der lebenslangen Festlegung aller Bürger auf ihre bürokratisch diktierten beruflichen Stellungen. Und in zahlreichen Dystopien ist die Erzählstruktur anzutreffen, dass der Held verbotenes, der bestehenden Ordnung zuwider laufendes Wissen aufdeckt und durch diese Entdeckung das Aufbegehren des Helden ausgelöst wird. Besonders enge Parallelen weist der Film zu Michael Andersons Flucht ins 23. Jahrhundert (1976) auf: Hier wie dort finden sich die hermetische Abkapselung der hypermodernen Stadt der Zukunft gegen die scheinbar menschenleere, urwüchsige Umgebung; das elegant choreo­grafierte Ritual der Massenzusammenkunft in einer „Arena“ bzw. einem riesigen Dom, in dem zentrale Riten der Gesell­schaftsordnung feierlich begangen werden; der Held, der in die Wildnis außerhalb der Stadt ausschreitet, um seine dystopische Heimat zu erlösen; der Freund, der sich dem Helden in den Weg stellt; schließlich das ähnlich abrupte wie unglaubwürdige Ende, bei dem die unmenschliche Ordnung der Zukunft Knall auf Fall zugrundegeht. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Filmen besteht freilich in den Emotionen: Während Flucht ins 23. Jahrhundert von einer fehlentwickelten Spaßgesellschaft erzählt, die sich beständig in oberflächlichen, unverbindlichen Ekstasen zerstreut, sind in Hüter der Erinnerung jegliche Freuden auf ein Minimum abgedämpft und intensivere Gefühle ganz ausgelöscht.

 

Wie so oft in Genrefilmen stellt sich auch hier die Frage, wie die extensive Verwendung von geläufigen Versatzstü­cken des Genres zu bewerten ist. Ist sie der Einfallslosigkeit der Drehbuchautoren anzukreiden? „Es erscheint alles fürchterlich generisch“, urteilte beispielsweise der Science-Fiction-Kritiker Richard Scheib auf seiner Website Moria, „und der Film gibt die Stichworte ohne irgendeinen wirklichen Effekt“. Ich bin anderer Ansicht. Meiner Meinung nach sind die Erzählmotive nur die stofflichen Zutaten, aus denen das Genrestück komponiert ist, und der Blick sollte sich vielmehr darauf richten, wie das Erzählwerk seine dystopische Fragestellung einrichtet und löst – oder eben nicht löst. So gesehen ist Phillip Noyces Film gewiss nicht perfekt, aber auch keineswegs so blass und ineffektiv, wie Scheib be­hauptet. Visuell und inhaltlich bleibt der Film durchgängig spannend und fordert den Zuschauer mit Nachdruck dazu auf, das Szenario weiterzudenken und sich zu fragen, ob und inwieweit die präsentierten Gesellschaftsformen denk­bar und schlüssig sind. Dafür sorgt nicht zuletzt die direkte Konfrontation des dystopischen Elysiums sowohl mit den Vorzügen als auch mit den Defekten unserer heutigen Gesellschaft, die sich im Spiegel der Erinnerungen des Gebers und seines Schülers vollzieht. Überdies gefallen eine Reihe mythischer Symbole wie beispielsweise der Apfel der Er­kenntnis, der hier ausnahmsweise einmal umgekehrt von Adam an Eva gereicht wird – respektive von Jonas an Fiona, damit diese den Apfel dafür benutze, die tägliche Injektion der gefühllos machenden Drogen zu vermeiden. Damit bie­tet Hüter der Erinnerung eine Vielfalt von exzellenten ästhetischen Reizen – das Beste, was Dystopien in der Science-Fiction zu leisten vermögen, sofern sie denn wirklich mehr sein wollen als nur Kulissen für oberflächliche Actionaben­teuer.

 

Ein besonders eindrucksvoller Kniff, der freilich bei Pleasantville (1998) von Gary Ross abgeguckt wurde, ist der Einsatz von Schwarzweiß gegenüber den Farben: Zu Anfang ist der Film in schwarzweiß gefilmt, da die gefühllos machenden Injektionen den Bürgern gleichzeitig auch das Farbensehen nehmen. Der Zuschauer sieht die Welt buchstäblich genau so wie sie. In dem Maße, wie Jonas emotional erwacht, stellt sich auch sein Farbensehen ein – erst in flüchtigen Farb­eindrücken, schließlich in einem explodierenden, sinnenfreudigen Farbenrausch, den Jonas zuerst in den empfangenen Erinnerungen erfährt und der schließlich auch auf sein Sehen in der Realität übergreift. In Pleasantville hatte das filmi­sche Schwarzweiß den spießigen Konformismus der US-Gesellschaft der Fünfzigerjahre repräsentiert, wie er im Fern­sehen jener Zeit gespiegelt wurde, während das Eindringen der Farben in diese Welt die Rückkehr des freien Denkens und Fühlens symbolisierte. Dieselbe Symbolik kommt auch hier zum Tragen, doch ist es schön zu sehen, wie sie, einer Science-Fiction-Erzählung gemäß, mit den Injektionen gleichzeitig rationalisiert wird.

 

Das Design, mit dem die Welt der Zukunft gestaltet wurde, ist vollauf gelungen. Die würfelförmige Bauhaus-Architek­tur, die milde, weitläufige, geometrisch angelegte Parklandschaft, die offenen, faschistisch anmutenden Plätze und Hallen und die glattpolierten, reduzierten Inneneinrichtungen – für Zukunftsszenarien ebenso typisch wie herrlich – fügen sich perfekt zu einer glaubwürdigen dystopischen Kulisse zusammen. Auch die Darsteller gefallen. Jeff Bridges überzeugt als resignierter Idealist, der den Menschen die Erinnerungen und Gefühle zurückbringen will, dazu aber die heroische Kraft nicht aufbringt. Entfernt ähnelt er Platon oder Aristoteles und wohnt in einer weinumrankten Biblio­thek von klassisch-antikem Baustil. Meryl Streep wiederholt ihre Darstellung der eisig lächelnden Diktatorin aus Der Teufel trägt Prada (2006), während die tiefgefrorene Gefühlkälte von Katie Holmes und Alexander Skarsgård als Jonas’ Adoptiveltern beinahe unheimlich ist. Beide funktionieren wie Automaten, wobei das Potenzial der Rolle des Adoptiv­vaters, der zu Beginn des Films noch die Vermutung aufkommen lässt, dass er zur Liebe fähig sei, leider etwas ver­schenkt wird. Brenton Thwaites (geb. 1989) verkörpert seine Hauptrolle als Jonas hervorragend, obwohl er für die Dar­stellung eines Teenagers eigentlich schon etwas zu alt ist, und auch Odeya Rush (geb. 1997) spielt ihre Rolle als Jonas' Freundin Fiona ohne Fehl und Tadel.

 

Die extrem reduzierte Art, wie der blasse Abglanz einer sich zaghaft entwickelnden Liebe zwischen beiden dargestellt wird, ist in seiner Nuanciertheit hervorragend und absolut logisch. Als Jonas Fiona das erste Mal küsst, schließt Fiona nicht ihre Augen und lässt es vollkommen unbeteiligt geschehen; kurz darauf zeigt sich dann doch, dass irgendetwas Verwirrendes in Fionas Innerem ausgelöst worden ist. Die Liebesgeschichte kann an diesem Punkt des Films noch gar nicht romantischer dargestellt werden, weil Fiona erst ein einziges Mal ihre Injektion weggelassen hat. Sie hat Gefühle bisher noch nie erlebt und wird hier zum ersten Mal mit ihnen konfrontiert. Und auch später, als Fiona Jonas zur Flucht mit Gabriel verhilft und ihn zum Abschied küsst, stellt sich nicht das Gefühl ein, dass Fiona nunmehr intensiv verliebt sei. In Fiona regt sich noch immer kaum mehr als ein zartes, ungeklärtes Empfinden, und mit dem Kuss will sie offenbar vor allem Jonas ermutigen und für seine Flucht rüsten.

 

Leider wird der zentrale Aspekt der Geschichte, die Übertragung der Erinnerungen des Gebers an seinen Schüler, nicht ausreichend erklärt. Was genau sind die Male an den Handgelenken von Jonas, dem Geber und Gabriel? Sind sie gene­tische Besonderheiten, genetisch angezüchtet oder implantiert? Woher genau kommen die Erinnerungen des Gebers? Auch wenn der Geber sie seinerseits von früheren Gebern „geerbt“ hat, wie er sagt, müssten sie ursprünglich von Indi­viduen stammen, die all diese Erinnerungsbilder tatsächlich erlebt hatten. Eine Ver­erbungskette von Vietnamsoldaten bis hin zum Geber erscheint allerdings kaum glaubwürdig.

 

Die Rückkehr zu wahren Werten

 

Das gravierendste Problem des Films ist das ärgerliche, völlig unverständliche und übereilte Ende. Die Schöne Neue Welt ist von einem Ring von monolithischen Türmen umfasst, die offenbar ein abschirmendes Kraftfeld erzeugen, das als „Grenze der Erinnerung“ bezeichnet wird. Jonas sieht dies auf einer Landkarte des Gebers und schlussfolgert sofort, dass eine Überschreitung dieser Grenze „die Erinnerungen“ – und die Gefühle – automatisch wieder freisetzen würde. Warum? Als es Jonas am Ende gelingt, tatsächlich das Kraftfeld zu durchschreiten, rast eine mysteriöse Energiewelle von der Grenze zurück in die Stadt und überflutet die Menschen mit Erinnerungen und Gefühlen. Wessen Erinnerun­gen? Wessen Gefühle? Wie ist dieses Geschehen genau vorzustellen? Selbst eine entsprechende „wissenschaftliche“ Rationalisierung des Szenarios hätte nicht das Manko behoben, dass die Missstände der fehlentwickelten Gesellschaft der Zukunft auf diese Art und Weise viel zu überstürzt und zu einfach aufgelöst werden. Darüber hinaus wirft der Film in dem Moment, als Jonas im Wald ein gepflegtes und offenbar von gut genährten Menschen bewohntes Haus ent­deckt, noch weitere Fragen auf, ohne sie zu beantworten. Offenbar gibt es außerhalb der „Grenze“ doch noch Men­schen, die nach der althergebrachten Ordnung leben. Warum aber hatten dann diese Menschen über Generationen hinweg die abgeschirmte Welt innerhalb der „Grenze“ nie entdeckt? Immerhin: Dass das schludrige Ende den Film nicht komplett zerlegt, ist seinen reichhaltigen übrigen Qualitäten zugute zu halten.

 

Die „Moral“ des Films schließlich ist simpler, x-fach wiederholter Science-Fiction-Standard: Gefühle sind die wahre Essenz des Menschen, sein urgründiger Quell, aus dem jede Humanität erwächst; die totale Herrschaft der Rationalität hingegen, unheilvolle Nemesis der Moderne, der Postmoderne und des Informationszeitalters, verwüstet die Seele. Die eisige Hölle der rationalistischen Dystopie demonstriert, dass Gefühle den Menschen erst zum Menschen und das Leben lebenswert machen. Gefühle sind auch das Fundament der Individuation: In der liebenden Hinwendung zu an­deren und der stärkenden Erfahrung der Liebe anderer emanzipiert sich das Selbst zu einem aufrechten, selbstbe­wussten Ich, das auf geliebte Menschen und auf sich selbst vertraut und auszieht, um im Risiko eines freien, eigenver­antwortlich geführten Lebens dessen ganze Fülle und Erfüllung zu erfahren. Das Risiko ist nicht unerheblich: Die Chef­älteste hält dem Geber zu Recht vor, dass Gefühle auch Neid, Niedertracht, Kriege und unvorstellbare Gräueltaten hervorgebracht hätten. Doch der Geber hält dagegen: Der Gewinn eines erfüllten Menschenlebens sei das Risiko alle­mal wert. Auf die Einkerkerung der finsteren Abgründe der menschlichen Seele, mit der die Chefälteste die gefühllose neue Ordnung rechtfertigt, antwortet der Geber freilich mit nur einem einzigen, beinahe verzweifelt klingenden Satz: „Menschen können sich ändern!“

 

Können sie das wirklich – alle Menschen? Hier wäre die eigentliche Utopie zu entwerfen, doch der Film begnügt sich nur mit der feierlichen Affirmation der „vergangenen“, also unserer Welt, exakt so, wie sie hier und jetzt ist; und er kann wohl auch kaum anders. So schlecht sind wir Heutigen gar nicht, sagen die euphorischen Bilder – seht! Wir ken­nen die überschäumende Freude am Leben, wir sind engagiert und befähigt, uns zu lieben, Gemeinschaftssinn zu le­ben und solidarisch miteinander für die Freiheit zu kämpfen. Auf die Gräuel des Vietnamkriegs, die ebenfalls vom Ge­ber erinnert werden, antwortet der Film mit einer christlichen Hoffnung, die in stark aufgetragener, kitschiger Symbo­lik zum Fanal des Films wird: Jonas, der Erlöser Dystopias, trägt Gabriel, das erste Baby, das menschliche Liebe erfah­ren und gegeben hat, zu einem Haus im weihnachtlich verschneiten Wald. Die Bewohner singen „Silent Night“ – das Haus repräsentiert gleichsam den Stall von Betlehem – und feiern die Ankunft Christi auf Erden.

 

Jenen, die dem Christentum fern oder abgewandt stehen, wird diese Antwort sicherlich suspekt oder gar unerträglich abgeschmackt erscheinen. Und selbst jene, die den christlichen Ansporn grundsätzlich oder sogar enthusiastisch be­jahen, werden zugeben müssen, dass die Bezwingung aller Schlechtigkeiten des Menschen auch durch frommstes Wirken nicht in näherer Zukunft zu erwarten ist. Utopia bleibt ein imaginärer Fluchtpunkt, Gefühle bleiben ambivalent und mit ihnen bleibt auch das Böse fest eingewurzelt in der Welt. Dennoch sollte jeder, der an der Botschaft des Films Kritik übt, sich die Frage stellen: Was dann? „Menschen können sich ändern“ – der Satz des Gebers ist nicht nur ein Bekenntnis zur Macht der Liebe; er ist auch ein Aufruf an die Zuschauer, diese Liebe selbst zu realisieren. Das mag man ein Klischee nennen. Ich sehe jedoch keine andere Antwort, die substanziell über diese Grundfeste wahren Menschen­tums hinauswiese.

 

So präsentiert sich Hüter der Erinnerung alles in allem als ansprechender und reichhaltiger Film, der in vielerlei Hinsicht zum Weiterdenken und Weiterfragen einlädt, leider aber auch an einem überstürzten und unbefriedigenden Ende krankt. Unter dem Strich aber ist er noch immer einer der besseren dystopischen Filme der letzten Jahre.

 

 

© Michael Haul. Auf Astron Alpha veröffentlicht am 2. Februar 2016