Kim Stanley Robinson: Blauer Mars

Buchcover zu dem Roman "Blauer Mars" (Blue Mars, 1996) von Kim Stanley Robinson, Heyne-Verlag 2016

Blue Mars (1996). Science-Fiction-Roman. Die deutsche Erstausgabe erschien 1997 im Wilhelm Heyne Verlag. Vorliegend ist die Neuauflage im Wilhelm Heyne Verlag vom Januar 2016. Übersetzung von Winfried Petri, durchgesehen und überarbei­tet von Elisabeth Rösl. Mit einer Marskarte und einem Anhang „Der Mars – eine zweite Erde?“ von Elisabeth Rösl. Paperback, 912 Seiten.

 

Nachdem die Marsianer endlich ihre Unabhängigkeit von den UN der Erde und den „transnationalen“ Megakonzernen erkämpft haben, droht ein Bürgerkrieg: Die „Roten“, die noch immer jegliches Terraforming des Mars radikal ablehnen, greifen die Basis des Weltraumlifts in Sheffield auf dem Pavonis Mons an. Es gibt große Zerstörungen und viele Tote, doch schließlich gelingt es den gemäßigten Kräften, die Roten vor der Zerstörung des Weltraumlifts zurückzuhalten. Saxifrage Russell verspricht Ann Clayborne, der prominentesten Roten, als Gegenleistung für den Rückzug den großen Solarspiegel „Soletta“ zu zerstören, der vom All aus mehr Sonnenlicht auf den Mars lenkt. Dadurch vermindert sich der Wärmeeintrag in der Marsatmosphäre signifikant, und das Terraforming erfährt eine spürbare Verlangsamung.

 

Nach den Unruhen sind weitere Verhandlungen mit der UN unabdingbar, um das künftige Verhältnis zwischen beiden Planeten langfristig zu regeln. Da die Erde noch immer unter den Folgen des Meeresspiegelanstiegs leidet und ihre Bevölkerung infolge der gerontologischen Behandlungen, die das Leben der Menschen verlängern, immer stärker wächst, drängt sie darauf, soviele Menschen wie möglich auf den Mars auswandern zu lassen. Die Marsianer stehen diesem Ansinnen zwar skeptisch bis ablehnend gegenüber, aber viele der Ersten Hundert, insbesondere Maya Toitov­na, machen sich für ein Entgegenkommen in dieser Frage stark, weil sie ein friedliches Miteinander mit der Erde erzie­len wollen. Für die Verhandlungen wird eine Delegation, der unter anderem Maya, Michel, Sax und Nirgal angehören, zur Erde geschickt, während auf dem Pavonis Mons eine Verfassungskonferenz zusammenkommt, die unter der maß­geblichen Leitung von Nadja Tschernyschewski die Gestalt des zu gründenden föderalen Marsstaates festlegt. Bedeut­samer aber als die politischen Strukturen sind die wirtschaftlichen: Das von Vladimir Taneev ausgetüftelte System klei­ner Kooperativen, in denen die Betriebe grundsätzlich immer den Arbeitnehmern gehören, die in ihnen tätig sind, löst auf dem ganzen Mars alle kapitalistisch-ausbeuterischen Unternehmen ab. Grundeigentum gibt es nicht, und jegliche patriarchale Strukturen werden abgeschafft. So gelingt den Marsianern tatsächlich ein grundlegender sozialer Wandel, der zu einer gerechten und gewaltfreien Gesellschaft führt.

 

Zu Beginn des 23. Jahrhunderts ergibt sich für die Marsianer hingegen ein ganz anderes Problem: der „rasche Verfall“ der gerontologisch Behandelten, der dazu führt, dass die Menschen nach etwas mehr als 200 Lebensjahren stark ver­gesslich werden und bald darauf auf unerklärliche Weise sterben. Das betrifft insbesondere den Rest der Ersten Hun­dert, die nach und nach immer weniger werden. Sax versucht, ein Mittel dagegen zu finden . . .

 

Buch ohne Plot

 

Nach den ersten beiden Bänden Roter Mars (1992) und Grüner Mars (1993) ist Blauer Mars (1996) der Schluss der Mars-Trilogie von Kim Stanley Robinson (geb. 1952). Die Erzählung umfasst hier etwa 100 Jahre – vom frühen 22. bis ins frühe 23. Jahrhundert – und präsentiert dem Leser einen Mars, der sich gegen Ende dieser Zeit massiv verwandelt hat. Auf der Nordhalbkugel ist ein riesiger Ozean und im Süden im Hellas-Becken, einem ehemaligen großen Einschlagkrater, ein kreisrundes Meer entstanden. Der Luftdruck, die wärmenden Treibhausgase und der Sauer­stoff in der Atmosphäre sind inzwischen so stark angestiegen, dass ein Leben ohne Schutzanzüge und Atemmasken auf dem Planeten möglich ist, und die Flora und Fauna sind förmlich explodiert: So gibt es unter anderem große Tiere wie Hirsche und Bären und riesige Wälder, stellenweise sogar gigantische Mammutbäume. Das Terraformingprojekt ist trotz aller Widerstände ein voller Erfolg.

 

Die Schilderung der Ökologie und der blühenden Landschaften dieses neu entstandenen „blauen Mars“ gelingt Kim Stanley Robinson recht gut, auch wenn seine Vorstellung vom Terraforming-Prozess, der sich bei ihm in nur 200 Jahren voll­zieht, für meine Begriffe viel zu optimistisch anmutet. Da es aber bisher keinerlei Erfahrungswerte mit Terraforming gibt, hat Robinson durchaus das Recht, hier seine Fantasie spielen zu lassen. Dabei geht er von soliden und ernsthaft diskutier­ten Theo­rien zum Terraforming aus. Es wird erkennbar, dass sich Robinson intensiv mit dem Terraforming und seinen Auswir­kungen auseinandergesetzt hat, und der Leser bekommt vor Augen gestellt, dass sich ein terraformter Mars zu einem ganz eigentümlichen Lebensraum entwickeln würde. Er würde der Erde ähnlicher werden, aber eine „zweite Erde“ im engeren Sinne, wie sie ungezählte Male in der Science-Fiction imaginiert wurde, wäre er am Ende nicht.

 

In soziologischer Hinsicht hingegen versagt Robinson in meinen Augen auf ganzer Linie. Seine Utopie, dass sich auf dem Mars fernab der Erde ein fundamentaler sozialer Fortschritt vollziehen könnte hin zu einer fairen und gerechten Ge­sellschaft, die den Kapitalismus und jegliche Gewalt hinter sich gelassen hat, ist in meinen Augen schreiend naives Wunschdenken. Die Realitätsferne offenbart sich schon darin, dass es Robinson nicht gelingt, den Prozess dieser sozia­len Revolution überzeugend und glaubwürdig auszumalen. Die religiösen, ideologischen und kapitalistischen Hemm­nisse, die Robinsons Vorstellung von der marsianischen Menschheit von Übermorgen entgegenstehen, werden viel zu sehr margi­nalisiert, wenn sie denn überhaupt adressiert werden. Robinson setzt dem Leser seine neue Menschheit einfach vor – und der Leser soll sie dann glauben. Seine Marsianer sind hochgewachsen, schlank, sportlich, androgyn und in jeder Hinsicht frei – eine fast „arisch“ anmutende Superrasse, wahre Übermenschen, die auf die armen, rück­ständigen Erdlinge nur mit Geringschätzung herabblicken. Diese nämlich sind nach wie vor „neurotisch“, ihren alten Denkmustern verhaftet und vor allem: gewalttätig wie eh und je. Die Marsianerin Charlotte, die der Regierung ange­hört, schildert die Massen neuer Einwanderer von der Erde gar als kriminelle Monster, die sich nicht in die Gesellschaft der ach so harmonisch zusammenlebenden Marsianer integrieren wollen. Sie sagt:

 

„Es tauchen so viele Probleme auf. Es hat Fälle von Sharia gegeben, Inzest, streitsüchtige ethnische Gruppen, Angriffe seitens der Immigranten auf Eingeborene, oft Männer gegen Frauen, aber nicht immer. Und Banden junger Eingeborener üben Vergeltung, belästigen die neuen Siedlungen und so weiter. Und das bei einer – wenigstens dem Gesetz nach – reduzierten Einwanderung. Aber die UN sind deswegen wütend auf uns und wollen noch mehr schicken. Und dann werden wir eine Art menschlicher Müll­platz werden, und all unsere Arbeit wird vernichtet sein.“ (S. 796 f.)

 

Einwanderer, die als „menschlicher Müll“ bezeichnet werden – das kommt einem heutzutage ziemlich bekannt vor, oder? Das Schlimme bei Robinson aber ist, dass er uns seine utopischen, moralisch lupenreinen Marsianer allen Ernstes als wahrhaftige Zukunftsperspektive verkaufen will, bei gleichzeitiger grenzenloser Schmähung der irdischen mensch­lichen Gesellschaft als eine durch und durch verdorbene Masse. Charlottes populistische Parolen verkauft er dem Le­ser tatsächlich als nachdenkenswerte Weisheit. „Auf der Erde hatten Männer Frauen missbraucht“, sinniert Saxifrage Rus­sell an einer Stelle, „auf dem Mars niemals. [ . . . ] Das war es, was es bedeutete, in einer gerechten und rationalen Ge­sellschaft zu leben“ (S. 928 f.). Hält Robinson seine Leser wirklich für so naiv?

 

Die Glaubwürdigkeit seiner marsianischen Menschheit geht schließlich vollends den Bach runter, als Robinson sogar eine Grup­pe von ihnen ausmalt, die wie steinzeitliche Jäger splitternackt in der Landschaft herumlaufen, um mit Spee­ren und Keulen Wild zu jagen. Ansonsten leben diese Marsianer auf Bäumen und scharen sich um Lagerfeuer. Was für ein unglaublicher Schwachsinn ist das?

 

Erzählerisch ist Blauer Mars der langweiligste und quälendste aller drei Bände. Der Plot, wenn es denn überhaupt ei­nen gibt, kommt hier vollends zum Erliegen; es gibt keinen roten Faden, keinen Spannungsbogen und keine Höhe­punkte. Robinson will ein Panorama seines utopischen Mars präsentieren, nur ist ihm leider keine fesselnde Erzähl­handlung dazu eingefallen. So behilft er sich wie schon in den ersten beiden Bänden mit den notorischen Reiseberich­ten der diversen Figuren, die über den Mars joggen, auf dem Nordmeer segeln oder im Hellas-Becken umherschippern. Der Rest sind uninteressante Belanglosigkeiten, etwa, dass Nadja damit hadert, als Marspräsidentin Politik machen zu müssen, dass Jackie politische Machtspielchen als Anführerin der Partei „Freier Mars“ spielt, dass Nirgal auf der Suche nach einem neuen Lebenssinn erst zum Farmer und später zum Langstreckenläufer wird oder dass Sax sich intensiv mit den neuesten physikalischen Stringtheorien zur vereinheitlichten Erklärung des Kosmos beschäftigt. Die vielfach themati­sierten persönlichen Beziehungen der Figuren untereinander sind nichtssagend, oft unklar und dramaturgisch schlapp – für den Roman erbringen sie nichts. Und all das wird endlos auf vielen, vielen Seiten bis zum Gehtnichtmehr ausge­walzt. Furchtbar.

 

So entpuppt sich Blauer Mars nicht etwa als fulminanter Abschluss einer packenden Trilogie, sondern als Buch ohne Plot, eine einzige Aneinanderreihung von quälend langweiligen Belanglosigkeiten, die eine lahmarschige und in den meisten Aspekten missratende Trilogie endlich zu ihrem seligen und dringend herbeigesehnten Ende führt. Mir ist es absolut unbegreiflich, wie ein derart grottenschlechtes Machwerk den Nebula, den Hugo, den Locus und den BSFA gewinnen konnte. Denn in Wirklichkeit ist Robinsons Mars-Trilogie erzählerisch ein heilloses Desaster, als Hard-SF sus­pekt und als utopische social fiction vollkommen unglaub­würdig. Sie ist mit Abstand die schlechteste Science-Fiction, die ich seit langem gelesen habe und von der nur dringend abgeraten werden kann. Die vielen Lesestunden, die ich an diese Trilogie verloren habe, wären selbst mit schundigsten Pulp-Magazinen besser genutzt gewesen. Die mögen qua­litativ wohl auch schlecht sein, sind aber hundertmal unterhaltsamer.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 18. Januar 2019