Alastair Reynolds: Himmelsturz

Pushing Ice (2005). Science-Fiction-Roman. Die deutsche Ausgabe erschien 2007 im Wilhelm Heyne Verlag München (Heyne Band 52243). Übersetzung von Bernhard Kempen. Taschenbuch, 783 Seiten.

 

Im Jahre 2057 sind fusionsgetriebene, kilometerlange Raumschiffe im Sonnensystem unterwegs, um rohstoffreiche Kometen zu untersuchen und mittels „Massetreibern“ zu interplanetaren Fabriken zu verschieben. Die Rockhopper im Auftrag des DeepShaft-Konzerns ist eines von ihnen. Die Besatzung besteht aus knapp 150 Menschen, zum Teil hoch­gebildete High-Tech-Spezialisten, zum Teil zupackende Bergbauarbeiter, die stolz auf ihre exotische Arbeit sind. Ihr Motto lautet: „Wir schieben Eis“. Die Mitfünfzigerin Bella Lind führt das Schiff, seit Captain Jim Chisholm schwer er­krankt ist; ihre beste Freundin an Bord ist die Antriebs-Ingenieurin Svetlana Barseghian.

 

Da geschieht etwas Eigenartiges: Der kleine Saturnmond Janus schert plötzlich aus seiner Umlaufbahn aus und be­schleunigt auf das Sternbild Jungfrau zu. Schnell wird deutlich, dass der Mond tatsächlich ein getarntes, unbemanntes Raumschiff außerirdischer Herkunft ist. Die Rockhopper ist das einzige Raumschiff, das sich nah genug befindet, um Janus noch zu erreichen, bevor sich das fremde Schiff zu weit entfernt hat. Die Konzernleitung von DeepShaft entscheidet, dass die Rockhopper die Verfolgung aufnehmen soll – man erhofft sich von der Untersuchung von Janus neue, bahnbrechende Technologien.

 

Die Rockhopper rast mit voller Fahrt Janus hinterher. Gleichzeitig überprüft Svetlana die Daten des Fusionstriebwerks und stellt dabei Ungeheuerliches fest: Die Konzernleitung hat die Schiffsbesatzung über den Treibstoff der Rock­hopper belogen, denn er wird nicht ausreichen, um das Schiff nach dem Rendezvous mit Janus ins innere Sonnen­system zurückzubringen. Bella aber glaubt nicht an eine Verschwörung und ignoriert Svetlanas dringenden Rat, sofort umzukehren. Es kommt zum offenen Streit an Bord, der die Freundschaft zwischen Bella und Svetlana in Feindschaft verwandelt und die Besatzung des Schiffs in zwei Lager teilt.

 

Schon bald jedoch ist es für eine Umkehr zu spät: Das Raumschiff gerät in einen unerklärlichen Sog des außerirdischen Schiffes, und es wird tief in den interstellaren Weltraum mitgerissen. Ziel der Reise scheint eine gigantische röhren­förmige Struktur im System des Sterns Spica zu sein, 260 Lichtjahre entfernt. Die Rockhopper landet auf Janus und richtet sich auf eine viele Jahre währende Reise ein. Im interstellaren Dunkel, unterwegs mit Fast-Lichtgeschwin­dig­keit, muss die Besatzung unter großen Anstrengungen versuchen, auf Janus’ Oberfläche irgendwie zu überleben, ohne zu wissen, was sie im Spica-System erwartet . . .

 

Eine prächtige, spannende Space Opera

 

Der Waliser Alastair Reynolds (geb. 1966) gehört seit der Jahrtausendwende zu den erfolgreichsten Science-Fiction-Autoren Großbritanniens und ist ein ausgewiesener Meister der epischen, weit in die Zukunft ausgreifenden Space Opera. Bereits sein Debutroman Unendlichkeit (Revelation Space, 2000) hatte Aufsehen erregt; für den 2001 erschie­nenen Folgeroman Chasm City gewann Reynolds den British Science Fiction Award. Inzwischen ist sein Revelation Space-Universum auf mehrere Romane und Kurzgeschichten angewachsen. Himmelssturz gehört nicht diesem Univer­sum an, sondern steht als in sich abgeschlossener Roman für sich allein, was in der Flut der Trilogien und Fortsetzungs­romane, die heute den Markt beherrschen, sehr wohltuend ist. Reynolds hat zwar in Interviews mit dem Gedanken gespielt, vielleicht einmal ein Sequel zu schreiben, doch ist es bislang dazu noch nicht gekommen.

 

Himmelssturz ist ein erstklassig fabuliertes, spannendes Weltraumabenteuer, das in der nahen Zukunft beginnt und etwa 50 Erdenjahre umfasst. Dank der Zeitdilatation während der kosmischen Reise der Rockhopper vergehen tatsächlich jedoch Jahrmillionen, und am Ende findet sich die Besatzung in weiter, unbekannter Ferne irgendwo im Kosmos wieder. Von der ersten Seite an startet der Roman rasant durch und hält das hohe Tempo fast bis zum Schluss. Es geht sehr actiongeladen zu, die Dialoge sind knackig, die eisenharten Figuren entschlossen. Reynolds hält sich nicht zu sehr mit Introspektiven oder melodramatischen Konflikten auf. An Letzteren fehlt es zwar nicht, doch werden sie wie alles andere knapp und bündig erzählt. Selbst das Aussehen der Figuren wird fast nie mitgeteilt – eher erfährt der Leser, welche Aufdrucke die T-Shirts haben, die die Figuren tragen. Die Charaktere bleiben dadurch etwas ober­fläch­lich und oft auch widersprüchlich, und man mag das Handeln der drei Hauptfiguren Bella Lind, Svetlana Barseghian und Parry Boyce nicht immer nachvollziehen. Alles in allem aber präsentiert Reynolds ein schlüssiges und sympha­ti­sches Personal, das man gern über die knapp 800 Seiten seines Romans begleitet. Ab und an nervt es ein wenig, dass sich die Figuren vor allem im ersten Drittel des Romans ständig gegenseitig versichern, wie überaus professionell und fehlerlos sie doch seien – obwohl sie trotzdem laufend Fehler machen. Aber das ist zu verschmerzen.

 

Grundthemen des Romans sind die Erforschung des Weltalls und der first contact mit Aliens. Reynolds, promovierter Astronom, legt Wert auf physikalische Glaubwürdigkeit, während das Abenteuer Raumfahrt und die Faszination der Begegnung mit fremdartigen Außerirdischen klar im Vordergrund steht. Himmelssturz ist gute, alte, optimistische Hard-SF. Zwar wird kein Leser ernsthaft damit rechnen, dass die Menschheit bereits 2057 über fusionsgetriebene Riesenraumschiffe wie die Rockhopper und Kolonien auf dem Mars verfügen wird. Die zeitliche Nähe seiner zukünf­tigen Welt erlaubt es Reynolds jedoch, sie direkt aus den heutigen gesellschaftlichen, politischen und technischen Möglichkeiten abzuleiten. Sie wird dadurch als wissenschaftliche Fiktion glaubwürdig und nachvollziehbar. Die Raumfahrer haben überwiegend noch mit handfester, vertrauter Technologie zu tun; die Nanotechnologie oder die Vernetzung des menschlichen Gehirns mit computergesteuerten Geräten und Robotern stecken noch weitgehend in den Kinderschuhen. Etwas befremdlich wirkt lediglich die Idee des „Schmiedekessels“, in der nanotechnologisch jedes nur erdenkliche Ding, und sei es noch so kompliziert, hergestellt werden kann (eine Idee, die bereits die Strugatzki-Brüder in ihrer Kurzgeschichte Das Ei formuliert hatten und die dort noch „embryomechanischer Apparat“ hieß).

 

Je weiter die Erzählung voranschreitet und außerirdische Technologien oder aber Technologien aus der fernen Zukunft der Menschheit ins Spiel kommen, desto fantastischer und „magischer“ wird die Ausstattung. Alles bewegt sich freilich im bekannten Fahrwasser des modernen nano- bzw. femtotechnologischen Konzepts. Formen und Gerätschaften fließen, reparieren sich selbstständig oder können sich superschnell von einem Ort zum anderen fortbewegen; die Schwerkraft wird beliebig steuerbar; die Massenträgheit unter Beschleunigung wird durch die „Frameshift“-Techno­logie ausgeschaltet; und die Einsteinschen Raumzeitgesetze haben mit dem überlichtschnellen Transfer von Informa­tionen durchs All keine universelle Gültigkeit mehr.

 

Die technischen Wunderwerke bleiben den Menschen von der Rockhopper undurchschaubar. Auf dem hochent­wi­ckel­ten außerirdischen Janus-Raumschiff begegnen sie einer gigantischen technischen Landschaft, die aus schwarzen, sich verformenden Blöcken und Kegeln, leuchtenden Oberflächensymbolen und schimmernden „Lavaströmen“ besteht, die der Selbstregeneration und ständigen Umbildung der Landschaft dienen. Als Janus mitsamt der Rockhopper schließ­lich im Spica-System in eine gigantische außerirdische Röhrenstruktur einfliegt, die mehrere Lichtminuten Länge misst, treffen die Menschen auf Aliens, deren Technik noch viel fantastischer ist. Diese Aliens – die Menschen nennen sie „Pe­rückenköpfe“ – sind drei Meter hoch und sehen aus wie sie heißen: Sie sind über und über mit feinen, blau schimmern­den Strähnen bedeckt (eine erfrischend originelle Kreation übrigens). Die Perückenköpfe vermögen es, den alternden Helden der Rockhopper neue, verjüngte Körper zu geben. Somit wird am Ende auch der Tod ausgetrickst, und durch diesen Kunstgriff ist es Reynolds möglich, seine Geschichte mit demselben Personal über den Zeitraum von 50 Jahren zu erzählen.

 

Die fließende, quasi-magische Nano-/Femtotechnik als Allheilmittel, als willkommener deus ex machina – ein etwas unbehaglicher Trend in der modernen Science-Fiction, der die Frage aufwirft, wie lange er noch zu tragen vermag, da mit ihm alle technischen Probleme mühelos zu bewerkstelligen sind, sich alle Verquickungen im Plot bequem auflösen lassen. Das Konzept wird auch von Reynolds extensiv bemüht, sodass sich unwillkürlich die Sehnsucht nach einem neuen, andersartigen Konzept zukünftiger Technologie aufdrängt. Wahrscheinlich wird sich dieses Dilemma jedoch nicht auflösen lassen: Außerirdische Technologie, unserer eigenen um Millionen Jahre voraus, müsste auf uns Menschen, entsprechend dem berühmten dritten Gesetz von Arthur C. Clarke, zwangsläufig wie pure Magie wirken.

 

Insgesamt gibt sich Alastair Reynolds mit dem plastisch und faszinierend geschilderten technologischen Design seiner Story keine Blöße. Seine Charaktere hingegen sind, wie bereits erwähnt, nicht vollends gelungen. Sie werden etwas zu oberflächlich gezeichnet, vor allem aber handeln sie oft unnachvollziehbar und unlogisch. Das im Mittelpunkt stehende menschliche Drama ist die erbitterte Feindschaft zwischen Bella und ihrer ehemaligen Freundin Svetlana. Beide bekämpfen sich mit einer völlig unangebrachten grausamen Härte. So wird beispielsweise Bella von Svetlana, nachdem sie die Macht über die Rockhopper übernommen hat, auf Janus für 13 Jahre (!) in Einzelhaft eingesperrt, damit sie Svetlana nicht mehr gefährlich werden kann. Die lange Haft erzeugt später – auch dies ist kaum glaubwürdig – keinerlei Groll in Bella. Dennoch lässt Bella, nachdem sich die Machtverhältnisse erneut umgekehrt haben, Svetlanas Ehemann Parry für ein eher geringes Vergehen für Jahrzehnte einsperren.

 

Ein hysterischer Zickenkrieg im All – und die Männer (allen voran der viel zu passive Parry) und alle anderen stehen daneben und lassen sich bereitwillig über 50 Jahre hinweg von diesen beiden Furien regieren, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, vielleicht eine ganz neue Führung zu installieren. Immerhin entwickelt der Plot in seiner klassischen Zuspitzung auf zwei Rivalinnen eine im besten Sinne klassisch-epische Qualität, die es erlaubt, dass Bella und Svetlana wie Kriemhild und Brunhild in der Nibelungensage immer wieder „umgedreht“ werden – eben noch gütig, plötzlich rachsüchtig, erst verantwortungsvoll, später blindwütig.

 

Bei aller Kritik: Spannend ist die Rivalität zwischen Bella und Svetlana trotzdem, sie vermag neben der first contact-Story den Roman bis zum Schluss zu tragen. Neben den Perückenköpfen begegnen den Menschen in der röhren­förmigen Struktur noch weitere, wundersame Alienspezies – die „Flüsterer“ und die „Moschushunde“ –, und gegen Ende bewegt den Leser die Frage, ob es den Menschen gelingen kann, die Struktur wieder zu verlassen. Auch der Schluss ist gelungen, wenn auch viele außerirdische Rätsel ungelöst bleiben. Insgesamt ist Himmelssturz ein spannen­des Weltraumabenteuer voller interessanter, faszinierender Ideen. Absolut kurzweilig und lesenswert!

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 13. Februar 2016