Kosmitscheski Reis

Inoffizielles, selbst erstelltes DVD-Cover  zu dem Film "Kosmitscheski Reis" (The Cosmic Voyage, UdSSR 1936) von Wassili Schurawljow

Kosmitscheski Reis – Fantastitscheskaja Nowella (UdSSR 1936)

 

Internationale Titel: Cosmic Voyage oder auch The Space Voyage

Regie: Wassili Schurawljow

Drehbuch: Alexander Filimonow, frei nach der Kurzgeschichte Na Lune („Auf dem Monde“, 1893) und dem Roman Wnje Semli („Außerhalb der Erde“, 1920) von Konstantin Ziolkowski

Technischer Berater: Konstantin Ziolkowski

Kamera: Alexander Galperin. Musikalisches Arrangement: W. Krutschinina

Darsteller: Sergei Komarow (Professor Pawel Iwanowitsch Sedich), Xenija Moskalenko (Marina), Wassili Gaponenko (Andrioscha Orlow), Nikolai Feokti­stow (Kapitän Viktor Orlow), Wassili Kowrigin (Professor Karin) u. a.

Produzent: Boris Schumjatski

Company: Mosfilm

Laufzeit: 70 Minuten; Schwarzweiß; Stummfilm

Premiere: 21. Januar 1936 (UdSSR).

 

Die Sowjetunion im Sommer 1946. Der Ingenieur Professor Sedich hat am Moskauer Institut für Raumfahrt die mächti­gen Raketenschiffe Josef Stalin und Klim Woroschilow gebaut. Sein Plan ist, mit dem ersten der beiden Schiffe zum Mond zu fliegen. Sein Vorgesetzter Professor Karin trägt jedoch Bedenken, ob Menschen den Flug ins Weltall über­haupt überleben können, da ein Kaninchen, das Karin mit einer unbemannten, kleinen Testrakete ins All geschossen hat, tot wieder zurückgekehrt ist. Insgeheim hält Karin Sedich für einen verrückten, alten Mann; offiziell aber erklärt er, dass das Leben eines so prominenten Mannes wie Sedich nicht riskiert werden dürfe. Er verbietet Sedich den Flug zum Mond und lässt sich vom designierten Kapitän des Raketenschiffs Viktor Orlow versichern, nicht zu fliegen.

 

Sedich hingegen ist vom Erfolg seines geplanten Mondfluges überzeugt. Er setzt sich kurzerhand über Karins Startver­bot hinweg und lässt alles für den Abflug vorbereiten. Mit Karins junger Assistentin Marina, die er eingeladen hat, mit­zufliegen, besteigt er die Josef Stalin. Der etwa 13-jährige, aufgeweckte Andrioscha, der jüngere Bruder von Viktor Or­low, der die Freundschaft Sedichs gewonnen hat und sich daher im Raumfahrtinstitut alles ansehen durfte, stiehlt sich ebenfalls unbemerkt an Bord der Rakete. Noch vor dem Abflug zeigt sich der Junge dem genialen Ingenieur und be­steht darauf, mitfliegen zu dürfen. Sedich ist wohlwollend genug, um diesem Wunsch zu entsprechen.

 

Das Raketenschiff verlässt seinen Hangar und jagt mit feurigem Raketenschub über eine aufsteigende, gewaltige Ram­pe dem Himmel entgegen. Unterwegs erleben die drei Passagiere die Wunder der Schwerelosigkeit und blicken voller Euphorie durch die Bullaugen des Raumschiffs in das Weltall. Die Josef Stalin landet hart auf dem Mond, doch alle Pas­sagiere überleben. Als erstes stellt Sedich eine sowjetische Flagge auf dem Mond auf, und alle drei Mondfahrer erkun­den staunend die felsige, atmosphärelose Umgebung. Später stellt Marina allerdings fest, dass ein Sauerstofftank der Rakete beschädigt ist und der Sauerstoff wahrscheinlich nicht für die Rückreise reichen wird. Und bei einer zweiten Erkundungstour geht Sedich verloren, da er unbemerkt in einen tiefen Schacht in der Mondoberfläche abrutscht und halb verschüttet wird. Entwickelt sich Sedichs kosmische Reise am Ende doch noch zu einem traurigen Desaster?

 

Ein schwungvoller Raumfahrtfilm aus Stalins Zeiten

 

Kosmitscheski Reis – Fantastitscheskaja Nowella („Die kosmische Reise – eine fantastische Erzählung“) ist eine außer­gewöhnliche, faszinierende Perle des frühen sowjetischen Science-Fiction-Films. Nach Jakow Protasanows Aelita (1924) war dies der zweite sowjetische Film, der sich mit der Raumfahrt beschäftigte, doch während sich Aelita als ein pompöser, streckenweise auch behäbiger Kinofilm für Erwachsene mit einem gewissen Kunstanspruch gebärdet, stellt Kosmitscheski Reis ein leichtgewichtiges, lebhaftes Raumfahrtabenteuer dar, das sich an Kinder und Jugendliche rich­tet, sehr flott und humorvoll erzählt wird und eine ganze Reihe von beeindruckenden Spezialeffekten und Modellbau-ten auffährt.

Szenenfoto aus dem Film "Kosmitscheski Reis" (The Cosmic Voyage, UdSSR 1936) von Wassili Schurawljow
Die mächtige "Josef Stalin" in ihrem Raketenhangar

Im Westen blieb der Film viele Jahrzehnte praktisch unbekannt. International war der Film nie vermarktet worden – nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil er als letzter russischer Stummfilm Mitte der Dreißigerjahre bereits ein Anachro­nismus war –, und in seiner Heimat wurde er schon wenige Wochen nach seiner Premiere im Januar 1936 von der Zen­surbehörde wieder aus dem Verkehr gezogen. Erst 1983 tauchte in der Sowjetunion eine gut erhaltene, vollständige 35-mm-Kopie des Films wieder auf, die dann im sowjetischen Fernsehen gezeigt wurde. Angeblich sollen in Russland zwei limitierte DVD-Ausgaben des Films erschienen sein – eine davon veröffentlichte 2005 das Industrial-Music-Duo „Vetrophonia“, das dem Film einen neuen, modernen Soundtrack verpasste. Im Westen gibt es dagegen bis heute keine kommerzielle DVD-Veröffentlichung, auch scheint der Film bislang noch nie mit modernen Mitteln restauriert worden zu sein. Lediglich unautorisierte Bootleg-Brennungen auf DVD-R-Rohlingen lassen sich erwerben, und seit ein paar Jahren ist der Film auch vollständig auf YouTube zu sehen (die dortige Fassung entspricht den über das Inter­net bestellbaren DVD-R-Fassungen). Gelegentlich wird der Film auch auf Filmfestivals oder in Sondervorführungen in westlichen Kinos aufgeführt.

 

Der Regisseur Wassili Nikolajewitsch Schurawljow (1904–1987) gilt als Begründer des sowjetischen Jugendkinos und hat in seiner langen Karriere zahlreiche Filme für Kinder und Jugendliche gedreht, unter anderem revolutionäre Kinder­filme wie Prijomysch (1929), Bombist („Der Bomber“, 1931) oder Rewansch („Rache“, 1931). Schon früh hatte Schurawljow sich auch für die Raumfahrt interessiert. Mit 20 Jahren schrieb er ein Drehbuch mit dem Titel Sawojewanije Luny Mi­sterom Foksom i Misterom Trottom („Die Eroberung des Mondes von Mr. Fox und Mr. Trott“), das dann die Grundlage eines der allerersten sowjetischen Cartoons wurde: Meschplanetnaja Rewoljuzija („Interplanetare Revolution“, 1924). Der nur acht Minuten kurze Animationsfilm sollte ursprünglich ein Einschub in Protasanows Aelita werden, wurde dort dann aber doch nicht verwendet und stattdessen unabhängig als Satire auf die Burgeoisie veröffentlicht, die vor der Revo­lution in das Weltall flieht.

Szenenfoto aus dem Film "Kosmitscheski Reis" (The Cosmic Voyage, UdSSR 1936) von Wassili Schurawljow
Das Kosmodrom mit der Startrampe und (im Hintergrund) Stalins "Palast der Sowjets"

Science-Fiction-Filme genossen in der stalinistischen Sowjetunion bei der Obrigkeit kein sehr hohes Ansehen. Josef Stalin, der von 1927 bis 1953 das Land als unumschränkter Diktator regierte, war selbst ein großer Filmnarr und pflegte häufig in die Zensur neuer Filme einzugreifen. Nichtsdestotrotz nahm 1933 der Komsomol, der politisch mächtige Jugendverband der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, mit Wassili Schurawljow Kontakt auf, weil er einen Film wünschte, der in der Jugend das Interesse für die Weltraumforschung wecken sollte. Schurawljow nahm mit Freuden den Auftrag an und zog als technischen Berater Konstantin Ziolkowski (1857–1935) hinzu, der zu jener Zeit längst ein hohes Ansehen als theoretischer Vordenker des Raketenfluges und Wegbereiter der Raumfahrt genoss. Der autodi­daktisch gebildete Ziolkowski hatte Hunderte von Schriften und zahlreiche Bücher über die theoretischen Grundlagen von Raketen geschrieben. Darüber hatte er eine Handvoll Kurzgeschichten und einen Roman verfasst, in denen er sich die Eroberung des Weltraums unter dem Vorzeichen einer friedlichen Koexistenz aller Völker ausmalte. Ziolkowski unterstützte das Filmprojekt voller Enthusiasmus, doch kam er tragischerweise nicht mehr in den Genuss des End­ergebnisses – er verstarb vier Monate vor der Premiere des Films. Der Vorspann des Films würdigt Ziolkowski mit einer Widmung. Interessanterweise ist Kosmitscheski Reis der einzige Spielfilm, der auf den Arbeiten von Konstantin Ziol­kowski basiert.

 

Offiziell gilt Ziolkowskis einziger Roman Wnje Semli („Außerhalb der Erde“, 1920) als die literarische Grundlage von Kosmitscheski Reis; hierher könnte man ansonsten auch noch seine frühe Kurzgeschichte Na Lune („Auf dem Monde“, 1893) stellen. Tatsächlich aber haben diese Werke und der Plot des Films kaum etwas miteinander zu tun. Dafür beru­hen jedoch die Designs der Raketenschiffe, der Raketen-Abschussrampe und zahlreiche technische Details auf Hunder­ten von Entwürfen, die Ziolkowski für den Film zeichnete. Außerdem beriet Ziolkowski den Film in zahlreichen wissen­schaftlichen Details. So gibt es beispielsweise in Kosmitscheski Reis anders als in Fritz Langs Frau im Mond (1929) auf dem Mond weder eine Atmosphäre noch riesige Goldvorkommen. Es war das Bestreben sowohl Schurawljows als auch Ziolkowskis, den Flug zum Mond technologisch so plausibel und „realistisch“ wie möglich zu gestalten. Ziolkow­skis Extrapolationen fußen freilich auf dem Wissen der Dreißigerjahre, sodass sich in ihnen verblüffend Visionäres ne­ben drollig Naivem findet. Diese Feststellung freilich gilt für alle Raumfahrtfilme, die vor der tatsächlichen Realisierung der Raumfahrt in den späten Fünfzigerjahren entstanden sind.

Szenenfoto aus dem Film "Kosmitscheski Reis" (The Cosmic Voyage, UdSSR 1936) von Wassili Schurawljow; Sergei Komarow
Professor Sedich (Sergei Komarow) ist der visionäre Pionier des Mondflugs

Die Arbeit an dem Film, der in den Moskauer Mosfilm-Studios gedreht wurde, dauerte zwei Jahre und erforderte für die Aufnahmen der Menschen in Schwerelosigkeit und für die Modellbauten und Spezialeffekte viele technisch an­spruchsvolle Lösungen. Es wurde ein großes Team von Bühnenbildnern, Technikern, Tricktechnikern, Modellbauern, Kulissenmalern, Autoren und Schauspielern eingesetzt; die Kosten der Produktion fielen am Ende sehr hoch aus. Dass Kosmitscheski Reis als Stummfilm realisiert wurde, obwohl sich der Tonfilm spätestens 1930 allgemein durchgesetzt hatte, hat wahrscheinlich Kostengründe gehabt. Zudem wird auch eine Rolle gespielt haben, dass Mitte der Dreißiger­jahre viele Kinos in der sowjetischen Provinz technisch noch nicht für Tonfilme ausgerüstet waren und der Film als Stummfilm eine größtmögliche Reichweite zu gewinnen versprach. Der Film wurde schon damals passend mit Stücken von Beethoven und Franz Liszt untermalt – das Bild ist am linken Rand leicht beschnitten, um Platz für die nachträglich eingefügte Tonspur zu schaffen.

 

Als der Film im Januar 1936 endlich uraufgeführt wurde, erhielt er in der Presse wohlwollende Kritiken. Für kurze Zeit war der Film in den sowjetischen Kinos auch gezeigt worden, geriet dann jedoch in das Fadenkreuz der Zensur durch die Kulturbürokratie, die den Film schließlich aus allen Kinos zurückzog. Kritisiert wurden vor allem die Stop-Motion-Tricks, mit denen die Raumfahrer als kleine Figürchen in einer Mondlandschaft animiert wurden; wegen der schwa­chen Schwerkraft machen sie weite Sprünge und schlagen sogar Purzelbäume. Für einen kindgerechten Film mögen diese teilweise putzigen Szenen völlig angemessen gewesen sein, doch den Zensoren entsprachen sie nicht dem künstlerischen Dogma des sozialistischen Realismus. Möglicherweise war der Film den Zensoren auch zu weit von der irdischen Realität entfernt, denn auch Science-Fiction-Filme sollten damals der gültigen Doktrin gemäß auf der Reali­tät statt auf Utopien basieren (vgl. dazu z. B. Richard Taylor/Ian Christie, Hrsg., Inside the Film Factory – New Approa­ches to Soviet and Russian Cinema, London/New York 1991, S. 210). Und schließlich mögen auch einige subver­sive Ele­mente in dem Film Anstoß gefunden haben – so werden die Autoritäten am Raumfahrtinstitut in der Figur des Profes­sors Karin selbstsüchtig und intrigant dargestellt, während der alte Sedich, sowohl ein Individualist wie auch ein visio­närer Idealist, seinen Mondflug einfach auf eigene Faust durchführt.

Szenenfoto aus dem Film "Kosmitscheski Reis" (The Cosmic Voyage, UdSSR 1936) von Wassili Schurawljow; Xenija Moskalenko
Marina (Xenija Moskalenko) ist nach Fritz Langs Gerda Maurus die zweite Frau im All

Kosmitscheski Reis blieb der letzte sowjetische, waschechte Science-Fiction-Film, der in der Stalin-Ära gedreht wurde – abgesehen von der Jules-Verne-Adaption Tainstwennyi Ostrow („Die geheimnisvolle Insel“, 1940), die allerdings eher ein unverfängliches Nostalgiestück denn ein zukunftsträchtiger Science-Fiction-Film ist. Erst nach Stalins Tod wandte sich die sowjetische Filmwirtschaft zaghaft wieder dem Thema Raumfahrt zu. 1953 produzierte Sojusmultfilm den Zei­chentrickfilm Polet Na Lunu („Flug zum Mond“) von Valentina und Zinaida Brumberg. Der eine knappe halbe Stunde lange Farbfilm ist in vielen Details deutlich von Kosmitscheski Reis inspiriert worden. Im Zuge des Sputnik-Triumphs ent­stand mit Doroga K Swjosdam („Der Weg zu den Sternen“, 1957) von Pawel Kluschanzew dann auch der erste, halb­dokumentarische Live-Action-Science-Fiction-Film, dem eine ganze Reihe charmanter und tricktechnisch ausgereifter sowjetischer Science-Fiction-Filme folgen sollten.

 

Spannende Raumfahrtvisionen

 

Kosmitscheski Reis begeistert auch heute noch als ein außerordentlich schwungvoll erzähltes Raumfahrtabenteuer voller visionärer Ideen und spektakulärer Spezialeffekte. Der gesamte Film ist beseelt von lustvollem Staunen, aufre­gender Entdeckerfreude und lebhafter Abenteuerlust. Es gibt eine Menge erstklassiger Modellbauten zu bewundern, allen voran das Moskau der nahen Zukunft, die Raketenschiffe in ihrem Hangar und die felsigen, von steilen Bergen und abgestuften Plateaus dominierte Mondoberfläche. Aus dem steil in den Himmel aufstrebenden Kosmodrom, in dem das Raumfahrtinstitut und die Raketenschiffe untergebracht sind, ragt eine aufstrebende, aus Stahlträgern kon­struierte Rampe heraus, auf der sich die Raketenschiffe gen Himmel katapultieren – und das mitten in Moskau! In der Ferne ist der wie der Turm zu Babel abgestufte „Palast der Sowjets“ zu sehen, ein gigantischer, fast 500 Meter hoher Protzbau, den Stalin zwar geplant hatte, der jedoch nie verwirklicht wurde.

Szenenfoto aus dem Film "Kosmitscheski Reis" (The Cosmic Voyage, UdSSR 1936) von Wassili Schurawljow
Die Raumfahrer erwartet auf dem Mond eine felsige, gebirgige Landschaft

Im Kosmodrom gleitet die Kamera in Froschperspektive langsam an den hoch aufragenden Modellen der riesigen Ra­ketenschiffe entlang, während kleine, im Stop-Motion-Verfahren bewegte Lastwagen- und Automodelle um sie he­rum fahren. Es gibt mehrere Stop-Motion-Szenen im Film zu sehen – insbesondere die animierten Raumfahrer-Figuren auf dem Mond, die, wie schon erwähnt, von der Zensur besonders beanstandet wurden und die tatsächlich auch recht drollig wirken und in manchen Einstellungen an die kruden Stop-Motion-Tricks aus dem „Sandmännchen“ erinnern. Wenn die Raumfahrer in ihrer viel zu geräumigen Mondrakete lustvoll und lachend schwerelos herumwirbeln – wes­halb die Wände fast alle gepolstert sind –, werden die Schauspieler natürlich an Drähten vor die Kamera geschwenkt; die Drähte fallen aber nirgens auf. Alles in allem können sich die fantasievollen und detaillierten Modellbauten und die Tricktechniken für ihre Zeit durchaus sehen lassen. Einen tiefen Einblick in die technisch komplexen Dreh­arbeiten hat Wassili Schurawljow in seinem Artikel Kak Sosdawalsja Film »Kosmitscheski Reis« („Wie der Film Die kos­mische Reise entstand“) in der Zeitschrift Snanije – Sila („Wissen ist Macht“, Heft 11a, Jahrgang 1954) gewährt.

 

Ziolkowskis durchdachte Ratschläge für den Film sind überall sichtbar. So geht die Vorstellung, dass sich das Raketen­schiff über eine Rampe in den Himmel katapultiert, auf ihn zurück – eine ganz ähnliche Lösung sollte später auch in George Pals Katastrophenfilm Der jüngste Tag (1951) zu sehen sein. Auch das Design der zweistufigen Rakete hat Ziol­kowski entworfen. Eine interessante Idee sind die gefluteten Wassertanks, in denen die Raumfahrer die hohen g-Kräf­te während des Starts und der Landung überstehen. Sie wurde in der tatsächlichen Raumfahrt nicht realisiert; dafür findet sich dasselbe Konzept sehr viel später in Brian de Palmas Mission to Mars (2000). Die Mondrakete verfügt über Druckschleusen, da es auf dem Mond keine Atmosphäre gibt, und auf dem Mond tragen die Raumfahrer Raumanzüge, die Taucheranzügen ähneln und weit ausladende (und wohl ziemlich unpraktische) Schläuche zwischen dem Helm und dem Anzug aufweisen. Da keine Luft vorhanden ist, müssen sich die Raumfahrer mit Funkgeräten verständigen, die in die Anzüge eingebaut sind. An den Stiefeln lassen sich „Gewichtsschuhe“ unterschnallen, sodass man auf dem Mond mit seiner geringeren Schwerkraft halbwegs normal gehen kann, doch Sedich, Marina und Andrioscha lassen sie rasch beiseite, um lieber mit hohen und weiten Sprüngen voranzukommen. Die meisten dieser technologisch-wissenschaft­lichen Details sind einfach vorhanden, ohne dass sie dem Zuschauer umständlich erklärt würden.

Szenenfoto aus dem Film "Kosmitscheski Reis" (The Cosmic Voyage, UdSSR 1936) von Wassili Schurawljow
Die obere Raketenstufe der "Josef Stalin" im Landeanflug auf den Mond

Die Darsteller sind mit Elan bei der Sache und spielen ihre Rollen überzeugend. Der altgediente Schauspieler Sergei Komarow (1891–1957) mimt den jovialen, altväterlich-gemütlichen Professor Sedich mit weißem langen Bart, eine deut­liche Verkörperung von Konstantin Ziolkowski selbst. Die junge, hübsche Xenija Moskalenko, die hier Sedichs Assisten­tin Marina spielt, hat neben Kosmitscheski Reis nur in einem einzigen weiteren Film mitgewirkt. Ob sie ihre Rollen nur deshalb bekam, weil sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Brigitte Helm (1906–1996) hat, wie viele Kritiker vermutet haben, muss Spekulation bleiben. Wassili Opanenko, der den Jungen Andrioscha spielt, hat offenbar nur hier in diesem Film vor der Kamera gestanden; dafür füllt er seine Rolle mit bemerkenswerter Lebhaftigkeit und Glaubwürdigkeit aus. Und nein, das ewige Lamento der Geeks über nervende Kinder in Science-Fiction-Filmen ist bei Opanenko in keiner Weise gerechtfertigt: Er wirkt sehr symphatisch, handelt oft heroisch und „erwachsen“ und dürfte damals eine ideale Identifi­kationsfigur für sein jugendliches Publikum gewesen sein – immerhin ist Kosmitscheski Reis, das darf nicht vergessen werden, für ein jugendliches Publikum gedreht worden (das sich bei aller Bewunderung womöglich auch nicht fragte, wieso eigentlich ein passender Raumanzug für Andrioscha an Bord der Josef Stalin vorhanden ist). Viele Rezensenten waren übrigens der Meinung, dass die Dreierbesatzung der Mondrakete – Komarow, Moskalenko und Opanenko – die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft Russlands symbolisieren würden, doch erscheint mir dies stark über­interpretiert zu sein.

 

Von den übrigen Schauspielern ist noch Sergei Stoljakow (1911–1969) besonders hervorzuheben, der hier nur eine Ne-benrolle als Techniker im Raumfahrtinstitut spielt, in Alexander Dowschenkos Film Aerograd (1936) allerdings bereits eine Hauptrolle bekam und spätestens mit dem Film Zirk („Zirkus“, 1936) von Grigory Alexandrow große Berühmtheit erlangte. Er verkör­perte einige Jahre das Ideal des jungen sowjetischen Mannes, wirkte in vielen weiteren Filmen mit und wurde in den Fünfziger- und Sechzigerjahren mit zahlreichen sowjetischen Auszeichnungen geehrt. Sein letzter Film war der farbige Science-Fiction-Film Tumannost Andromedy („Andromedanebel“, 1967) von Jewgeni Scherstobi­tow nach einem Roman von Iwan Jefremow, wo er die Hauptrolle des Dar Veter spielte.

Szenenfoto aus dem Film "Kosmitscheski Reis" (The Cosmic Voyage, UdSSR 1936) von Wassili Schurawljow
Die drei Raumfahrer beeilen sich auf dem Mond, als erstes eine Fahne zu hissen

Die sowjetische Propaganda ist auffällig moderat dosiert. Zwar heißen die beiden Raketenschiffe, die Sedich gebaut hat, Josef Stalin und Klim Woroschilow (Klim bzw. Kliment Woroschilow war einer der engsten Vertrauten Stalins, sowjetischer Verteidigungsminister sowie ein Vollmitglied im Politbüro der KPdSU; 1935 wurde er zum „Marschall der Sowjetunion“ ernannt und erhielt damit den höchsten militärischen Rang der UdSSR). Und als Sedich nach der Lan­dung den Mond betritt, stellt er als erstes eine Flagge der Sowjetunion auf – die allerdings nur sehr flüchtig, nämlich zusammengerollt in Andrioschas und in Sedichs Faust, gezeigt wird (praktisch alle Interpreten des Films sind davon ausgegangen, dass es sich bei dieser Flagge um die Nationalfahne der UdSSR handelt, doch weist sie deutlich goldene Fransen an ihren Säumen auf und hat an ihrem oberen Ende eine dicke Troddel, sodass es sich vielleicht auch um ein Banner des Komsomol handeln könnte). Auf dem Mond verstreuen die Raumfahrer als Signal an die Erde eine reflektie­rende Substanz und formen sie zu den Buchstaben „CCCP“ (UdSSR), die absurderweise so riesig sind, dass sie mit irdi­schen Teleskopen erkennbar werden. Doch damit hat es sich dann auch – ein plumper Propa­gandastreifen ist Kosmi­tsches­ki Reis keinesfalls.

 

Stattdessen bietet der Film an einigen Stellen auch erfrischenden Humor – vor allem in der Szene, in der Sedichs müt­terliche Ehefrau den Koffer ihres Mannes für die Mondreise packt, der Professor den seiner Meinung nach nutzlosen Plunder kurz darauf durch seine Bücher austauscht, allerdings vergeblich – denn letzten Endes packt die Frau den Kof­fer nochmals um. Später fährt sie ihrem Mann zum Raumfahrtinstitut hinterher, weil Sedich seine wertvollen, gefütter­ten Winterstiefel vergessen hat – und auf dem Mond herrschten doch immerhin –270 Grad!

 

Dass Kosmitscheski Reis oft als ein „fehlendes Glied“ zwischen Fritz Langs Frau im Mond (1929) und George Pals End­station Mond (1950) bezeichnet wurde, ist ein weiteres Beispiel fantasievoller Überinterpretation. Tatsächlich hat der Film, da er nicht international vermarktet wurde, mit Sicherheit keinerlei Einfluss auf den westlichen Science-Fiction-Film gehabt, und auch in der Sowjetunion blieb sein Einfluss aufgrund seiner nur sehr kurzen Laufzeit beschränkt. Auch steht sehr in Frage, ob Kosmitscheski Reis tatsächlich von Langs Frau im Mond beeinflusst wurde, wie allerorten immer wieder behauptet wird. Einen sicheren Beweis gibt es für diese Annahme nicht, und dass die Besatzung der Mondra­kete in beiden Filmen ähnlich zusammengesetzt ist – ein Kommandant, eine Frau und ein Junge, der sich unerlaubt an Bord gestohlen hat –, reicht meines Erachtens als Beweis nicht aus. Beide Filme benötigten natürlich eine weibliche Hauptrolle, und in beiden Filmen sollte der Junge (der natürlich kaum anders denn als blinder Passagier Zutritt zur Mondrakete erlangen konnte) als naheliegende Identifikationsfigur des jugendlichen Publikums fungieren.

Szenenfoto aus dem Film "Kosmitscheski Reis" (The Cosmic Voyage, UdSSR 1936) von Wassili Schurawljow; Sergei Komarow
Sedich bestaunt in seinem Raumanzug (mit aberwitzig langen Schläuchen) den Mond

Kosmitscheski Reis ist ein sehr unterhaltsamer, bemerkenswerter Science-Fiction-Film, voller Fantasie, freudiger Aben­teuerlust und eindrucksvoller technologischer Ideen, die im Vergleich mit Fritz Langs Frau im Mond zumeist akkurater und wissenschaftlich durchdachter sind. Der Film ist ein exzellentes Stück sowjetischen Filmhandwerks mit tollen Mi­niaturen und Spezialeffekten und einer der besten Raumfahrtfilme, die vor dem Raumfahrtzeitalter entstanden sind.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 27. Mai 2019