Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Heyne Science Fiction Jahresband 1981

Buchcover vom "Heyne Science Fiction Jahresband 1981" von Wolfgang Jeschke (Hrsg.)

Heyne Science Fiction Jahresband 1981. Neun Romane und Erzählungen prominen­ter SF-Autoren, zusammengestellt und herausgegeben von Wolfgang Jeschke. Wilhelm Heyne Verlag München 1981 (Heyne Band 3790). Übersetzungen ins Deut­sche von Helga Abret, Carl Amery, Gertrud Baruch, Walter Brumm, Hans Maeter, Aljonna Möckel und Hans Reisinger. Taschenbuch, 480 Seiten.

 

Nachdem der Heyne Science Fiction Jahresband 1980 unerwartet zum Bestseller wurde, legte der Heyne Verlag ein Jahr später den zweiten Band der neuen Reihe vor. Diesmal wurden bei der Auswahl auch mehrere europäische Auto­ren aufgenommen – drei Briten (Aldiss, Burgess und Kipling), ein Franzose (Dorémieux) und zwei Russen (die Strugaz­ki-Brüder) – und inhaltlich ein Schwerpunkt auf Geschichten gelegt, die die „weichen“ Humanwissenschaften zur Grundlage nehmen und sich mit dem psychologischen inner space beschäftigen.

 

1.  Brian W. Aldiss: Letzte Bestellung

 

Last Orders (1976); 12 Seiten. Experimente auf dem Mond, die die Schwerkraft beeinflussen sollten, haben den Erdtra­banten zerbersten lassen. Ein riesiges Bruchstück stürzt auf die Erde zu, verursacht Stürme, Springfluten und Erdbeben und wird die Erde vernichten. Die Menschheit ist bereits fast vollständig evakuiert und auf andere Planeten im Son­nensystem umgesiedelt worden – nur in einer kleinen, bereits halb zerstörten Bar inmitten einer sturmgepeitschten Ruinenstadt stößt ein mit der Räumung beauftragter Hauptmann noch auf einen älteren Mann und eine alte Frau, die keine Anstalten zur Flucht machen. Stattdessen zechen sie, schwadronieren über alte Zeiten und laden den Haupt­mann auf ein Bier ein.

 

Eine kleine, schwarzhumorige Erzählung, in der Brian W. Aldiss trefflich das melancholische und doch vor Leben strot­zende Geschwätz am Tresen eines x-beliebigen Pubs einfängt. Seine beiden Trinker sind liebenswerte Originale, pro­letarisch und lebensweise, die sich wenig um den Weltuntergang scheren, stattdessen bierselig ihre persönlichen Weltuntergänge bejammern, die schon Jahre hinter ihnen liegen, und am Ende feierlich „auf die Erde“ die Gläser erhe­ben, „den besten Planeten im ganzen Universum“. Man fühlt sich an eine Szene aus Mark Robsons Katastrophenfilm Erdbeben (1974) erinnert, in der Walter Matthau als Betrunkener am Tresen einer Bar mit stoischer Gelassenheit zecht, während um ihn herum die Bar auseinanderbricht und die Welt aus den Fugen gerät. Letztlich eine nette, aber belang­lose Erzählung.

 

2.  Anthony Burgess: Die Muse

 

The Muse (1971); 21 Seiten. Der junge Literaturhistoriker Paley lässt sich im 21. Jahrhundert auf eine Parallel-Erde im Sys­tem des weit entfernten Sonnensystems B 303 bringen, der ein früheres geschichtliches Stadium der Erde darstellt. Paley will im London des Jahres 1595 William Shakespeare antreffen, um zu ergründen, welche der Shakespeareschen Stücke tatsächlich vom Meister selbst verfasst wurden. Mit einer Reihe von Shakespeare-Stücken im Gepäck, die erst nach 1595 verfasst worden sind, trifft Paley tatsächlich die Schriftsteller-Ikone, die sich als recht abweisend heraus­stellt. Paley erfährt, dass Shakespeare schon oft von Wissenschaftlern von anderen Parallelerden besucht wurde, die allesamt für verrückt gehalten und inhaftiert wurden. Dieses Schicksal ereilt auch Paley – das Schlitzohr Shakespeare aber ist durch Paleys Gepäck erneut mit neuen Stücken versorgt worden, die er Zeile für Zeile abzuschreiben beginnt.

 

Uhrwerk Orange-Autor Burgess serviert mit Die Muse eine bizarre Zeitreisegeschichte mit wenig origineller Pointe, die ein weiteres Mal das Zeitreise-Paradoxon ausnutzt. Die Zeitreise selbst funktioniert hier überhaupt nicht: Bei Burgess wird sie zu einem Raumschiffflug durch die Raumzeit – als seien Raum und Zeit völlig austauschbar – zu einer Parallel-Erde, die unserer Erde fast, aber eben nur fast, gleicht. Gleichwohl ist Paley darauf aus, den Zeitstrom dieser anderen Erde möglichst wenig zu stören, und die Reise in die Vergangenheit gerät zum psychedelischen Trip. So ist der Zeitrei­sende ständig von Halluzinationen geplagt, sieht Augen auf den Brüsten einer Prostituierten oder einen sprechenden historischen Holzschnitt Shakespeares anstelle der leibhaftigen Figur des Dichters. Eine nur mäßige Story.

 

3.  Thomas M. Disch: Abwärts

 

Descending (1968); 14 Seiten. Ein notorisch abgebrannter New Yorker Junggeselle fährt mit der U-Bahn zum nächsten Kaufhaus, um sich auf Kreditkarte mit neuen Essensvorräten und Büchern einzudecken. Nach seinen Einkäufen fährt er die Kaufhaus-Rolltreppe hinab und vertieft sich dabei in die Lektüre eines Buchs. Als er nach einer Weile aufschaut, befindet er sich eigenartigerweise ganz allein in einem Rolltreppenhaus, das von weißen Wänden umgeben ist, und das Kaufhaus und alle Ausgänge sind verschwunden. Zunächst versucht der Mann, die abwärts rollenden Treppen hi­naufzuhasten, doch auch nach über zwanzig Treppen scheint kein Ende zu kommen. Entkräftet gibt der Mann auf und lässt sich von den unendlichen Rolltreppen immer weiter abwärts tragen . . .

 

Hervorragend! Der amerikanische New-Wave-Autor Disch, der sich vor allem mit seinem bissigen sozialkritischen Science-Fiction-Roman Camp Concentration (1967) einen Namen gemacht hat, fabuliert in Abwärts eine brillante Kurz­geschichte von außerordentlicher erzählerischer Kraft. Die surreale Grundidee ist genial, und die existenzielle Studie, die sich aus ihr ergibt, wird konsequent durchdacht und durchgespielt. Wie reagiert der namenlose Protagonist – der Mensch – auf diese Situation, die durchaus derjenigen einer Maus im Laufrad gleicht? Nebenher gerät der Beginn der Story zu einem trockenen Kommentar auf die deprimierenden Realitäten des Lebens in der modernen Konsumgesell­schaft. Eine wunderbare, grimmige Parabel.

 

4.  Alain Dorémieux: Der Turm

 

Seul en haut de la tour bientôt prête à crouler (1978); 9 Seiten. Nach dem Untergang der Zivilisation versinken die ver­fallenden Ruinen der Städte unter mächtigen Sanddünen. Larcan, der letzte noch lebende Mensch, verschanzt sich in seiner Wohnung im 26. Stock eines Hochhauses, die er Jahre vor der Katastrophe zur Miete bezogen hatte. Nur selten durchstapft er vor dem Gebäude die ständig wachsenden Dünen und entfernt sich dabei nie sehr weit. Solange der Notstromgenerator noch Energie liefert, klammert er sich an alte Gewohnheiten und betäubt sich in der trügerischen Behaglichkeit seiner Wohnung mit abgestandener Unterhaltung: Musikaufnahmen und Videotapes. Doch der Tag naht, da die elektrische Energie ausfallen wird . . .

 

Wie Thomas Disch geht Dorémieux von einer surrealen Grundidee aus, die große visuelle Kraft entfaltet: Die Welt ver­wandelt sich in eine mächtige Sandwüste. Warum die Zivilisation untergegangen ist, woher die mächtigen Sanddünen kamen, erklärt der Autor nicht. Freilich: Die Idee vom letzten Menschen auf der Welt und seinem bizarren Alltag lässt an Richard Mathesons Ich bin Legende (1954) denken. Bei Dorémieux gibt es jedoch keine Vampire, und sein „Omega­mann“ – kein Heldentyp, sondern ein degenerierter Spießbürger – ist tatsächlich die letzte Kreatur weit und breit. Do­rémieuxs Geschichte ist eine eindrucksvolle, düstere, aber auch schaurig-schöne Miniatur.

 

5.  Rudyard Kipling: Die schönste Geschichte der Welt

 

The Finest Story in the World (1891); 30 Seiten. Ein Schriftsteller macht in London die Bekanntschaft mit dem Bank­angestellten Charlie Mears. Der junge Mann, der selbst literarische Ambitionen hegt, jedoch nur schwülstige Gedichte von zweifelhaftem Wert zustandebringt, erzählt dem Schriftsteller von der spontanen Idee zu einer abenteuerlichen Seefahrergeschichte, in der ein griechischer Galeerensklave die Hauptfigur ist. Die ungewöhnlich lebendigen Details der Erzählung überzeugen den Schriftsteller insgeheim davon, dass Mears’ Eingebungen tatsächlich die Erinnerungen an ein früheres Leben von Mears’ Seele sind. Als Mears seine Imaginationen auch noch mit einer anderen Seefahrer­geschichte vermengt, die einen rothaarigen Wikinger auf dem Weg nach Amerika zum Thema hat, glaubt der Schrift­steller, dass sich hierin eine weitere frühere Inkarnation Mears’ offenbart. Er kauft dem ahnungslosen Mears seine „Er­innerungen“ für fünf Pfund ab und verspricht, sie literarisch auszuformen und zu veröffentlichen. Für den Schriftsteller wäre das Ergebnis die „erlesenste Geschichte der Welt“, da sie eine ungetrübte Wahrheit erzählte. Ein anderer Freund des Schriftstellers, der aus Bengalen stammende Grish Chunder, versichert ihm, dass Mears tatsächlich wiedergeboren wurde, doch warnt auch, dass sich dies für Europäer niemals beweisen lasse. Zudem sei der Zugang zu Mears’ Erinne­rungen nur von kurzer Dauer – wenn der junge Mann sich verlieben würde, würde der Zauber brechen und Mears’ Vorstellungskraft versiegen. Als genau dies geschieht, gibt der Schriftsteller die Verschriftung von Mears’ Erinnerun­gen auf.

 

Joseph Rudyard Kipling (1865–1936), Literatur-Nobelpreisträger, Schöpfer des berühmten Dschungelbuchs (1894) und vor dem Ersten Weltkrieg einer der populärsten Schriftsteller Englands, stellt in dieser wunderbaren Kurzgeschichte sein außerordentliches erzählerisches Talent unter Beweis. Die Geschichte ist geschliffen und lebendig formuliert und lässt in den Gesprächen des Schriftstellers mit Charlie Mears und Grish Chunder den einen oder anderen klugen philo­sophischen Gedanken aufblitzen. Das hinduistische Konzept der Wiedergeburt, das Kipling in der Erzählung verwen­det, war dem in Bombay geborenen Kipling durch seine vielen Jahre in Indien wohlvertraut. Weshalb der Ich-Erzähler so besessen von der Idee ist, dass Mears ihm tatsächlich unbewusste Erinnerungen früherer Inkarnationen mitteilt, er­schließt sich allerdings nicht. Unklar bleibt auch, weshalb Kiplings Erzählung als „Science-Fiction“ Aufnahme in dieser Anthologie finden konnte. Nichtsdestotrotz eine sehr schöne Geschichte.

 

6.  Arkadi und Boris Strugazki: Der Knirps

 

Malyš (1971); 179 Seiten. Ein Raumschiff mit einem vierköpfigen menschlichen Forschungsteam ist auf einem erdähnli­chen Planeten gelandet, um ihn für die Ansiedlung der außerirdischen Spezies der Pantianer zu erkunden, deren eige­ne Welt vom Verlöschen des Zentralgestirns bedroht ist. Der Planet ist eisig kalt und scheint außer karger Gräser und Büsche kein Leben zu beherbergen. Nach einer Weile aber entdecken die Kosmonauten, dass sie doch nicht allein auf dem Planeten sind: Sie stoßen auf ein schlacksiges nacktes Wesen mit öliger, dunkler Haut, das einem menschlichen Jungen ähnelt. Der Junge legt ungestüme und zum Teil bizarre Verhaltensweisen an den Tag, erweist sich allerdings auch als sehr neugierig und lernfähig – so gelingt es ihm innerhalb weniger Tage, sich in der Sprache der Kosmonauten zu verständigen. Der Junge, so stellt sich bald heraus, ist eine Art kosmischer Mowgli – er und seine menschlichen El­tern waren zwölf Jahre zuvor mit ihrem Raumschiff auf dem Planeten abgestürzt, der allein überlebende Junge wurde jedoch von einer einheimischen vernunftbegabten Spezies gerettet, physiologisch und anatomisch an die fremde Um­welt angepasst und mittels gezielter Einwirkung auf das Unterbewusstsein großgezogen.

 

Der Junge hat keine bewusste Kenntnis von der einheimischen Spezies, die abgekapselt tief unter der Planetenober­fläche lebt und der menschlichen Spezies extrem unähnlich ist. Der wissenschaftliche Leiter des Teams Gennadi Ko­mow glaubt, dass das Wesen, praktisch halb Mensch, halb Alien, eine einmalige Gelegenheit darstellt, mit den Aliens Kontakt aufzunehmen, sie zu verstehen und damit die geistige Evolution der Menschheit hin zum „galaktischen Men­schen“ voranzubringen. Maja indessen hält Komow für einen „Fanatiker einer abstrakten Idee“, der in dem Jungen nur ein Studienobjekt, aber keinen Menschen sieht, und sabotiert Komows Versuch, den Jungen für die Wissenschaft zu instrumentalisieren . . .

 

Bravo! Der Knirps, seit 1975 in der DDR auch unter dem Titel Die dritte Zivilisation erschienen, ist ein sprachlich souve­räner, spannend erzählter Science-Fiction-Roman. Die berühmten Strugazki-Brüder skizzieren überzeugende, nüchter­ne Charaktere, malen in schönen Farben eine faszinierende, eisige Welt aus und fabulieren mit dem Grenzgänger zwi­schen Mensch und Alien und mit den Aliens selbst originelle, wirklich fremdartige Kreaturen. Das bei näherer Betrach­tung fast unüberwindlich erscheinende Problem der sinnvollen Kontaktaufnahme mit einer außerirdischen Spezies, die dem Menschen in der Weltwahrnehmung und im Denken vollkommen unähnlich ist, wird schlüssig durchdacht. Der Knirps erweist sich damit als das beste Werk in diesem Jahresband.

 

Der Roman gehört in die Strugazkische „Welt des Mittags“, einer Gruppe von Erzählungen und Romanen, die das opti­mistische Bild einer gesellschaftlich und technologisch fortgeschrittenen und weiter fortschreitenden Menschheit im 22. Jahrhundert entwerfen. Die Menschheit betätigt sich im Kosmos als Besserer rückständiger Spezies (wie etwa der Pantianer) und scheint ihrerseits durch die uralte, verschwundene Spezies der „Wanderer“ selbst zum Besseren beein­flusst worden zu sein. Ziel der Entwicklung ist der „galaktische Mensch“, der vom Verständnis der Psyche und des In­tellekts fremder Spezies profitiert und dadurch eine höhere geistige Daseinsebene erreicht.

 

Das zweifelhafte Grundgerüst dieser Utopie ist als Teleologie des Traums von einer vollendeten sozialistischen Gesell­schaft deutlich erkennbar. Andererseits werden auch feine Haarrisse in dieser erträumten Zukunft deutlich. So ist die extreme Arbeitsteilung und damit verbunden die strenge, nicht weiter nachfragende Unterordnung unter die Techno­kratie der Kader und Kommissionen auch im 22. Jahrhundert nicht abgeschafft und wirkt wenig freiheitlich oder fort­schrittlich, und die Gewissensfrage, ob die Wissenschaft um jeden Preis nach Erkenntnis streben dürfe, findet in Maja eine starke Neinstimme, die skandalöserweise auch nicht rational, sondern nur irrational begründet wird. Schließlich ist die Idee des „vertikalen Prozesses“, der den „galaktischen Menschen“ hervorbringen soll, bei Lichte betrachtet alarmie­rend – Komow verfolgt kein geringeres Ziel als die mentale Umschaffung der gesamten Menschheit. Maja sieht die rücksichtslose Verfolgung dieses Ziels als Fanatismus an. Popow erkennt den Zusammenhang ähnlich klar – „Heute gilt eine Idee als abstrakt, und schon morgen steht die Geschichte ohne sie still“ (S. 270) –, zieht jedoch keine weiteren Konsequenzen daraus. Und der kosmische Mowgli kommentiert das Problem naiv auf seine Weise: „Warum gibt es immer neue Fragen für mich? Wo es mir doch dadurch nur schlechter geht“ (S. 232).

 

So verweist Der Knirps durchaus kritisch auf die Leerstellen seiner ideologischen Grundlagen und stellt sich als intelli­gente Reflexion des utopischen Missverständnisses dar. Ein schwerwiegendes Manko hat der Roman dann aber doch: So finden die Strugazkis nur ein lasches, ziemlich unbefriedigendes Ende ihrer Erzählung. Die Kommission für außerir­dische Kontakte untersagt aus nicht nachvollziehbaren Gründen Komows weitere Versuche, den Jungen für die Kon­taktaufnahme mit den Aliens zu benutzen, und die Expedition verlässt den Planeten wieder. Gleichwohl lässt Popow mit dem Segen der Kommission einen Roboter zurück, über den er den Kontakt mit dem Jungen hält; per audiovisuel­ler Verbindung unterhält er sich häufig mit ihm. Dem schwachen Ende zum Trotz ist Der Knirps ein brillanter Roman, der intelligente Science-Fiction mit fesselnder Erzählweise verbindet.

 

7.  James Tiptree, Jr.: Geburt eines Handlungsreisenden

 

Birth of A Salesman (1968); 19 Seiten. Der literarische Absturz dieses Sammelbandes erzählt den turbulenten Arbeitstag von T. Benedict, dem Leiter der staatlichen „Kontrollstelle für den Export in Xenokulturen“, die sämtliche im All gehan­delte Waren darauf prüft, ob sie unerwünschte Nebeneffekte bei außerirdischen Spezies auslösen, die auf verschiede­nen Raumhäfen mit dem Umschlag der Waren zu tun haben. Seite für Seite keift Benedict am Telefon oder vis à vis in seinem Büro auf allerhand Menschen und Nichtmenschen ein und schubst seine stumpfsinnigen „Schätzchen“ – sprich: Sekretärinnen – herum. Das Ganze soll womöglich eine schrille Parodie sowohl auf Pulp-SF wie auf die hektische ame­rikanische Geschäftswelt sein; mich hat der überdrehte und ziellose Klamauk nur fürchterlich gelangweilt. Das Vorwort feiert James Tiptree, Jr. alias Alice Sheldon (1915–1987) als außergewöhnliche Kult-Autorin. Vorliegenden Rohrkrepierer, Tiptrees erste Veröffentlichung, kann diese Lobhudelei unmöglich gemeint haben.

 

8.  Roger Zelazny: Der Former

 

He Who Shapes (1965); 91 Seiten. Im 21. Jahrhundert bestimmt Bequemlichkeit und Wohlstand das Leben, aber dafür plagen sich mehr Menschen denn je mit seelischen Problemen. Für sie ist „der Former“ Charles Render da, ein „Neuro­partizipations-Therapeut“. Während der Patient in einem eiförmigen Apparat, dem „rho-Uterus“, liegt und schläft, ver­netzt sich Render per Datenhelm und Tastatur mit dem Unterbewusstsein des Patienten und versucht es zum Besse­ren zu „formen“. Therapeut und Patient erleben dies wie einen gemeinsamen Traum, in dem sich beide gleichzeitig aufhalten und prinzipiell beide Einfluss nehmen können.

 

Eines Tages nimmt die Psychologin Eileen Shallot mit Render Kontakt auf und ersucht ihn, selbst zu einer Formerin ausgebildet zu werden. Render zögert, denn Shallot ist von Geburt an blind, sodass er ihr mittels der Neuropartizipa­tion zunächst eine Vorstellung von der visuellen Welt vermitteln müsste, damit Shallot später sehende Patienten be-handeln kann. Schließlich lässt er sich aber auf das Experiment ein – und ist erstaunt darüber, wie stark Shallots unter­bewusster Wille ist . . .

 

Roger Zelazny (1937–1995) zählt wie Thomas Disch (siehe oben) zu den amerikanischen Vertretern der von England ausgehenden New-Wave-Bewegung, die seit Mitte der Sechzigerjahre in der Science-Fiction formal und inhaltlich neue Wege zu beschreiten suchte und dabei einen hohen künstlerischen Anspruch verfolgte. Der Former wurde 1965 mit dem Nebula Award ausgezeichnet und ein Jahr später von Zelazny zum hoch gelobten Roman Herr der Träume (The Dream Master, 1966) erweitert. Im Vorwort spricht Wolfgang Jeschke von Zelaznys Erfolgen „in der psychedelisch trunkenen Szene Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre“ (S. 311). Wie wahr: Über weite Strecken liest sich Der Former so, als sei die Novelle tatsächlich im Drogenrausch geschrieben. Ohne LSD im Blut und fast fünfzig Jahre später hat mich Der Former allerdings kalt gelassen.

 

Der Versuch, das Unterbewusstsein als Neuland der Science-Fiction aufzuschließen, ist ehrenwert, wobei Zelazny zugute kommt, dass er neben englischer Literatur auch Psychologie studiert hat; zudem gelingt dem Autor eine recht farbige und plastische Ausgestaltung der Träume, die der Former erschafft bzw. in denen er sich bewegt. Andererseits wirkt das Ganze auch orientierungslos und erzählerisch unentschlossen. Zudem steht das Hauptthema, das am Ende keine Pointe findet, sondern nur als loser Faden liegen bleibt, tiefenpsychologisch auf tönernen Füßen: Dass es beim „Formen“ zu gefährlichen „Rückkoppelungen“ kommen könnte, bei der das Unterbewusstsein des Formers vom Unter­bewusstsein des Patienten verheert wird, wirkt zunächst einmal an den Haaren herbeigezogen und hätte als fiktionale Prämisse zumindest weiter ausgestaltet und mit Glaubwürdigkeit ausgestattet werden müssen.

 

Das energische Streben nach künstlerischem Anspruch führt zu einem sehr sperrigen, anstrengenden Stil; die Erzäh­lung besteht neben den Traumschilderungen aus papiernen Dialogen und aus Schilderungen, die sich mit aufge­setzten, verschwurbelten Sprachbildern in Positur stellen. Beispiele? „Er saß beim Essen leicht vorgebeugt, und seine Gabel bewegte sich wie der Flügel einer Windmühle in einer kräftigen Brise“ (S. 366 unten). Oder: „In dieser Nacht rülpste die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, der Fenris-Wolf schnappte nach dem Mond, die kleine Uhr machte »Kuckuck«, und der Morgen kam wie Manoletes letzter Stier, schüttelte das Gatter seiner Hörner und brüllte drohend, er wollte einen Strom von Löwen zu Staub zerstampfen“ (S. 371 oben). Herrje!

 

Die Apparatur, mit der Render sich mit dem Patienten vernetzt, ist ebenfalls nicht besonders überzeugend fabuliert: Der „rho-Uterus“ gefällt, doch ein Keyboard von 90 Tasten ist ein reichlich grobschlächtiges Instrument, um die unend­liche Vielfalt der Träume zu formen. Gipfelpunkt der Absurditäten aber ist Zelaznys mutierter Blindenhund, der über rudimentäre Intelligenz verfügt und sprechen kann. Eine verwegene Science-Fiction-Idee? Auf mich wirkte sie einfach nur bescheuert.

 

Es ist schade, dass Zelazny die „Traumwandler-Idee“ nicht glaubwürdiger und konsequenter gehandhabt hat – so schleppt sich die Novelle nur als fürcherlich sperrig-prätentiöse Lektüre ächzend voran. Bleibt noch die Marginalie zu erwähnen, dass Zelazny die „Traumwandler-Idee“ aus Der Former 1981 für einen Filmentwurf verwendete, den er an 20th Century Fox verkaufte. Fox machte daraus unter der Regie von Joseph Ruben den Film Dreamscape – Höllische Träume (1984). Das Drehbuch schrieben David Loughery, Chuck Russell und Joseph Ruben.

 

9.  Jack Vance: Die letzte Festung

 

The Last Castle (1966); 68 Seiten. Nach einem interstellaren Krieg in der fernen Zukunft war die Zivilisation auf der Erde für drei Jahrtausende ausgelöscht, bis der Planet von menschlichen Einwanderern aus dem Altairsystem wiederbesie­delt wurde. Die neuen Herren ließen befestigte Burgstädte bauen und schufen eine mittelalterliche, in Clans geglieder­te Gesellschaft, in der die aristokratische Menschheit ein behagliches Leben führte, während verschiedene, aus dem All importierte Spezies von geringen Geisteskräften als Sklaven schuften mussten. Siebenhundert Jahre währt diese Ordnung – bis die Meks, die bisher als Techniker und Handwerker für die Menschen gearbeitet hatten, plötzlich aus den Burgstädten davonlaufen, sich miteinander verbünden und damit beginnen, die Menschheit auszurotten. Die Meks bilden ein gut organisiertes Heer und erobern eine Burgstadt nach der anderen, wobei kein Stein auf dem ande­ren bleibt und kein Einwohner mit dem Leben davonkommt. Die lethargischen menschlichen Herren erweisen sich als völlig unfähig die Bedrohung wahrzuhaben, geschweige denn die Städte zu verteidigen. Lediglich Xanten, ein Edel­mann der Burgstadt Hagedorn, wagt den Vorschlag, sich bewaffnet zur Wehr zu setzen. Doch selbst als Hagedorn von den Meks belagert und seine Mauern unterminiert werden, stößt Xanten bei den anderen Edelleuten nur auf Ignoranz.

 

„Viele seiner Anhänger halten ihn für den besten SF-Autor überhaupt“, stellt Wolfgang Jeschke im Vorwort zu dieser Novelle über Jack Vance fest (S. 406). In der Tat kann sich Jack Vance (1916–2013) einer leidenschaftlichen Fangemein­de erfreuen, die ihn vor allem für seinen farbigen, fast märchenhaften Stil liebt; manch Schrifstellerkollege hätte ihn gar am liebsten mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt, wie im Wikipedia-Artikel über Jack Vance nachzulesen ist. Die letzte Festung gehört zu Vances besonders gefeierten Werken – die Erzählung wurde 1966/67 mit dem Nebula Award und dem Hugo Gernsback Award ausgezeichnet.

 

Tja, man reibt sich verblüfft die Augen . . . und versteht nichts davon. Ich bekenne mich den Blinden zugehörig und gestehe gesenkten Hauptes, dass ich einfach nicht mit dem Œuvre von Jack Vance warm werde. Als ich vor etwa drei Jahren Vances Roman Myrons Reisen (Lurulu, 2004) zu lesen versuchte, hatte ich die Lektüre nicht bis zum Schluss durchgehalten – zu zäh, absurd und belanglos wirkte diese desaströse Space Opera auf mich. Die letzte Festung macht eine geringfügig bessere Figur, aber letzten Endes war auch diese Erzählung fad.

 

Grundverschiedene Genres miteinander zu verrühren halte ich generell für keine gute Idee – hier lauten die Zutaten Fantasy, historischer Roman und Science-Fiction. Eine raumfahrende Menschheit, die auf der Erde das Mittelalter rekonstruiert, ist völliger Unsinn, und auch sprachlich riecht hier nichts nach Nobelpreis, im Gegenteil: Der Stil weist durchaus hier und da farbige Sprachbilder auf, ist ansonsten jedoch reichlich hölzern und lässt in der Darstellung des Geschehens, sowohl in der Prosa als auch den Dialogen, jegliche Nuancen vermissen. Womöglich mag anno 1966, ein Jahr vor dem Aufbruch der Hippies, Die letzte Festung als gewichtige Parabel auf die morschen Hierarchien der Nach­kriegsgesellschaft verstanden worden sein, deren baldiger Untergang erwartet wurde. Aber so platt diese Grundkon­stellation aufgebaut und durchgespielt wird, so enttäuschend ist ihr Schluss: Die alte Gesellschaft wird von den Meks vollständig ausradiert, und die wenigen Aristokraten, die zuvor geflohen waren, leben fortan in der Wildnis von ihrer eigenen Hände Arbeit. Xantens Moral von der Geschicht? „Wir sind jetzt erst zu Menschen geworden, zu Menschen, die in ihrer eigenen Welt leben. Und das waren wir früher nicht.“ Und da sage einer, der gute, alte Wilde Westen habe der dekadenten Zivilisation von heute nichts mehr mitzuteilen.

 

Der Heyne Science Fiction Jahresband 1981 konnte insgesamt das Niveau des Vorgängerbandes halten, wenn nicht steigern. Nicht jeder Beitrag überzeugt – das nimmt in Anthologien kaum Wunder –, aber diejenigen, die begeistern, sind dafür umso besser.

 

 

© Michael Haul; veröffentlicht auf Astron Alpha am 12. Mai 2017