A Clockwork Orange (GB 1971)
Regie: Stanley Kubrick
Drehbuch: Stanley Kubrick, nach dem Roman A Clockwork Orange (1962) von Anthony Burgess
Darsteller: Malcolm McDowell (Alex), Patrick Magee (Mr. Alexander), Adrienne Corri (Mrs. Alexander), Michael Bates (leitender Gefängniswärter), Warren Clarke (Dim), James Marcus (Georgie), Michael Tarn (Pete), Miriam Karlin (Cat Lady), Carl Duering (Dr. Brodsky), Paul Farrell (Tramp), Sheila Raynor (Alex’ Mutter), Philip Stone (Alex’ Vater) u. a.
Produzent: Stanley Kubrick
Companies: Warner Bros.; Hawk Films
Laufzeit: 136 Minuten; Farbe
Premiere: 19. Dezember 1971 (USA); 13. Januar 1972 (GB); 23. März 1972 (Deutschland)
Der Jugendliche Alex DeLarge lebt in einem futuristischen London der näheren Zukunft. Mit seinen drei Freunden Georgie, Pete und Dim – seinen „Droogs“ – hängt er bevorzugt in einer Milchbar ab, die halluzigene Drinks ausschenkt, und wenn die vier Halbstarken so richtig euphorisch berauscht sind, ziehen sie los und vergnügen sich mit „ultrabrutalem“ Zeitvertreib: Sie schlagen aus Spaß einen Stadtstreicher krankenhausreif, prügeln sich mit einer verfeindeten Gang und rasen mit dem Auto halsbrecherisch durch die Nacht. Eines Abends dringen sie in das Haus des Schriftstellers Alexander und seiner Frau ein und überwältigen das Ehepaar. Alex, mit einer penisförmigen Pappnase getarnt, tritt auf den geknebelten Schriftsteller ein, wobei er gut gelaunt „Singin’ in the Rain“ trällert, und vergewaltigt vor dessen Augen mit den Droogs die Ehefrau. Nach einem derart „gelungenen“ Abend kehrt Alex ins elterliche Heim zurück, um sich in seinem Zimmer an der Musik von Ludwig van Beethoven zu berauschen, die in ihm „liebliche Bilder von Gewalt“ heraufbeschwört . . .
Als Alex und seine Droogs in einer anderen Nacht versuchen, in das Haus einer allein lebenden Frau einzubrechen, um auch sie zu vergewaltigen, geht einiges schief: Die Frau sucht den Kampf mit Alex, und Alex erschlägt sie mit einer Penisskulptur. Alex wird zu vierzehn Jahren Haft verurteilt und kann die faschistoiden Zustände im Knast nur schwer ertragen. Als die Regierung ein öffentlich umstrittenes Programm aus der Taufe hebt, mit dem verurteilte Gewalttäter „resozialisiert“ werden sollen, meldet sich Alex als Versuchskaninchen, denn nach Durchlaufen des Programms lockt die vorzeitige Haftentlassung. Alex wird einer brutalen Gehirnwäsche unterzogen: Er wird gefesselt, sein Schädel wird verkabelt, und mit Klammern, die seine Augen offenhalten, wird er gezwungen, sich stundenlang Filme anzusehen, die die schlimmsten Gewaltexzesse der Menschheitsgeschichte zeigen. Erst als die Gewaltorgien auf der Leinwand mit Beethoven-Musik unterlegt werden, dem einzigen, was Alex wirklich liebt, „gelingt“ die Therapie: Alex überkommen fortan bei jedem Gedanken an Gewalt oder Sex Ekelgefühle. Zugleich ist ihm der Kunstsinn ausgetrieben, denn auch Beethovens Musik kann Alex nicht mehr ertragen.
Derart gezähmt, wird Alex in die Freiheit entlassen. Die wird für Alex jedoch zur Hölle: Da es ihm unmöglich geworden ist, in irgendeiner Form Gewalt anzuwenden, wird er für seine Umwelt selbst zum wehrlosen Opfer . . .
Das Kunstwerk
Stanley Kubricks Uhrwerk Orange ist eine nihilistische Farce über die Gewalt; eine böse Satire, die schonungslos die teuflische Natur der Bestie Mensch offenlegt, aber keine Auswege aufzeigt, weil es keine zu geben scheint; eine grimmige Dystopie, die die nähere Zukunft als monströse Potenzierung einer von staatlicher und privater Gewalt durchherrschten Gegenwart sieht. Nach wie vor ist das brisante Werk wegen seiner fragwürdigen Moral umstritten. An seinem Status als cineastisches Meisterwerk aber gibt es keinen Zweifel: Der Film ist brillant stilisiert und fotografiert und entfaltet eine nahezu atemberaubende, unmittelbare Wirkung. Mit sicherem Gespür für effektvolle Einstellungen arrangiert Stanley Kubrick seine präzisen Bilder, während er aus den Schauspielern Höchstleistungen herausholt; stimmig ist der Einsatz von Fast- und Slow-Motion, stimmig der oft überraschend rasante Schnitt. Fast überladen an kulturgeschichtlichen Referenzen, präsentiert sich der Film als nicht leicht zu entwirrender, vielschichtiger Sinn – oder unentwirrbarer, prätentiöser Unsinn, wie manch ablehnende Kritik urteilte.
Zweifellos ist Uhrwerk Orange ein Film, der auch heute noch ungeheuer beeindruckt. Der kaltschnäuzige Wille zur Macht und die ständigen Gewalttaten von Alex und seinen Droogs, einer Jugendbande bar jeder Moral, verstören tief. Brutal, zynisch, grotesk, satirisch – die Bandbreite der Deutungsansätze ist groß. Dennoch zeichnen sich in Uhrwerk Orange moralische Aussagen ab – und wer wollte leugnen, dass der Film moralische Kategorien verhandelt? –, die meines Erachtens auch im Rahmen satirischer oder gesellschaftskritischer Auslegung höchst fragwürdig sind.
1962 veröffentlichte Anthony Burgess den Science-Fiction-Roman A Clockwork Orange, der sich mit dem Thema der Gehirnwäsche als Mittel der politischen Machtausübung auseinandersetzte. Den eigentümlichen Ausdruck “clockwork orange” hatte Burgess, wie er behauptete, in einem Londoner Pub als scherzhafte Schmähung aufgeschnappt (obgleich es keine anderweitigen Belege für diese Wendung gibt) und dann auf das Thema seines Romans bezogen:
„Der Ausdruck faszinierte mich als eine Äußerung volkstümlicher Surrealistik. ( . . . ) Der Mensch ist ein Mikrokosmos, er ist ein Gewächs, organisch wie eine Frucht, er hat Farbe, Zerbrechlichkeit und Süße. Ihn zu manipulieren, zu konditionieren, bedeutet ihn in ein mechanisches Objekt zu verwandeln – eine Uhrwerk-Orange.“ (zitiert nach Wikipedia)
Als Stanley Kubrick nach der Vollendung von 2001: Odyssee im Weltraum (1968) ein Thema für sein nächstes Projekt suchte, stieß er auf Burgess’ Roman und war auf Anhieb von dem Werk begeistert. In der filmischen Umsetzung hielt Kubrick sich eng an die literarische Vorlage. Der Schluss jedoch ist anders: Im Buch steigt Alex gesellschaftlich auf, nachdem er seine alte brutale Identität zurückerhalten hat. Im Film wird dies durch den Pakt mit dem Innenminister nur angedeutet. Vor allem aber fehlt im Film das letzte, 21. Kapitel des Romans, in dem sich Alex aus frei gewonnener Einsicht dazu entschließt, seinen Lebenswandel zu ändern. Dieses positive, aber unglaubwürdige Ende war in den USA gegen den Willen des Autors vom Buchverlag gestrichen worden. Kubrick behauptete später, dass ihm als Grundlage seines Films die gekürzte US-Fassung des Romans gedient habe – ganz so, als sei das ein Versehen gewesen. Anthony Burgess war darüber stets verärgert geblieben. Tatsächlich aber hätte Alex’ wundersame moralische Kehrtwende auch in Kubricks Film völlig absurd gewirkt, sodass Kubrick seinem Film wahrscheinlich wohlüberlegt ein pessimistisches Ende gab.
Kubricks Uhrwerk Orange ist ein energiegeladenes Pop-Art-Kunstwerk. Es ist schwer, sich nicht von der Magie der schwelgerischen Bilder einfangen zu lassen. Die extravaganten Sets sind in grellen Primärfarben gehalten und präsentieren eine schäbige, von oberflächlichem Konsum geprägte Welt: Die modernen Inneneinrichtungen, vor Plastik und Kunstfasern strotzend, sind eine Orgie avangardistischer Dekors und abgelebter, ihres Ausdrucks entleerter Kunst (so vor allem in der Milchbar, in Alexanders Haus und im Haus der “Cat Lady”); die häufig leeren, museal erscheinenden Räume mit ihren kräftigen Wandfarben wirken bedrückend und steril. Die enge Wohnung von Alex’ Eltern ist eine perfekte Interpretation zukünftiger Spießigkeit: Nicht minder grell in den Farben, ist sie dennoch zeitgenössisch und unbehaglich möbliert, eine industrielle Müllhalde, geprägt von den „Überbleibseln zukünftiger Vorstädte“ (Philip Strick, Science Fiction Movies, S. 115). In den Außenaufnahmen dominieren geometrische, graue Betonbauten; sie figurieren als Signum einer technokratischen Zeit. Eindrucksvoll ist auch Alex’ Gehirnwäsche durch die Regierung inszeniert – wobei Alex quasi eine elektronische Dornenkrone aufs Haupt gesetzt wird. Philip Strick (ebda.) übertreibt nicht, wenn er sagt: „Sein gemartertes Gesicht, versehen mit Bügeln und Drähten, während garstige Klammern seine Augenlider offenhalten, ist eine der verstörendsten Szenen des Science-Fiction-Kinos.“
Die Kostümierungen der Schauspieler sind grotesk, ihre frivole Betonung der Genitalien Ausdruck einer von entzaubertem Sex besessenen Postmoderne, und doch sind sie als schräge zukünftige Fashion durchaus einleuchtend. Die Kampf- un Gewaltszenen sind wie Balletttänze choreografiert und mit der rauschenden Musik Beethovens unterlegt – ganz so, als sei Beethovens Musik schon immer eine ästhetisch verfeinerte Feier der Gewalt gewesen. Daneben ist aber auch die elektronische Musik von Wendy Carlos hervorzuheben, die den Film an vielen Stellen eindrucksvoll untermalt und in der Szene im Schallplattenladen auch Beethoven selbst in gelungener Weise elektronisch umsetzt. Kubricks besonderes Augenmerk auf die Musik, die er als integralen Bestandteil der Wirkung der Bilder einsetzt, ist unverkennbar.
Die schauspielerischen Leistungen sind durchweg herausragend und verlangten den Darstellern physisch wie psychisch einiges ab. Insbesondere Malcom McDowell ist als Alex ungeheuer charismatisch, auch wenn man ihm den Teenager nicht mehr ganz abnimmt (während der Dreharbeiten war er 27 Jahre alt). Ebenso verdient Patrick Magee hervorgehoben zu werden; er spielt den Intellektuellen Alexander, der mit seiner eigenen Gewaltbereitschaft ringt, außerordentlich intensiv.
Der Skandal
Als Uhrwerk Orange 1971 in die Kinos kam, löste er heftige Kontroversen aus und stieß in der Filmkritik überwiegend auf Ablehnung. Fast überall erhielt der Film ein X-Rating bzw. eine Freigabe ab 18. In Großbritannien wurde Stanley Kubrick sogar vonseiten der Presse und Polizei genötigt, den Film ganz zurückzuziehen – was er dann auch tat. Vor allem die schockierende und scheinbar unmotivierte Gewalt wurde als skandalös und abscheulich empfunden. Auch heute noch geht sie unter die Haut, obwohl zugegeben werden muss, dass die Schandtaten von Alex und seinen Droogs zumeist nur symbolisch angedeutet werden. Gegenüber den expliziten, bluttriefenden „Schlachtplatten“ heutiger Tage wirkt Uhrwerk Orange nahezu sittsam, mit Ausnahme einer kurzen Szene, in der in nur schwer erträglicher Weise ungeschminkt eine Vergewaltigung gezeigt wird. Der Zuschauer von heute ist längst stärkeren Tobak gewöhnt.
Trotzdem gehen heutige Lobeshymnen auf Kubricks Film fehl, wenn sie aus der relativen Brutalität des heutigen Kinos schließen, dass der damalige Skandal um die Gewalt in Uhrwerk Orange überzogen und ungerechtfertigt gewesen wäre. Gewichtiger nämlich als die Frage, wieviel Kunstblut im Film verspritzt wird, ist die Frage nach der Art und Weise der Präsentation der Gewalt und die damit zum Ausdruck gebrachten Aussagen. Die Gewalt in Uhrwerk Orange war den Kritikern nicht allein deshalb anstößig, weil sie generell abzulehnen wäre. Das Skandalon lag vielmehr in der ästhetischen Sanktionierung dieser Gewalt, ihrer Aufwertung als „Freiheit des Einzelnen“, die sich vermeintlich gerechtfertigt oder zumindest folgerichtig gegen die empörende Gewalt des „Systems“ stellt.
Damals wie heute muss Kubricks Film angekreidet werden, dass er die mitleidlose Jugendgewalt durch ihre Stilisierung als Kunst als legitime Form intensiver Selbsterfahrung zu verharmlosen scheint – Gewalt und die rücksichtslose Ausübung von Macht als Lebenselexier, als Droge. „Der Film mag die Gewalt nicht glorifizieren“, bemerkt John Brosnan dazu, „aber er verleiht ihr zweifellos Glamour“ (The Primal Screen, S. 159). Ähnlich äußerte sich Alan Frank:
Schmerzlich überbewertet, ist Kubricks Film technisch eine hervorragende Arbeit, was seine Hingabe an die Gewalt nur noch schmerzlicher macht. Wäre der Film die Arbeit eines weniger geachteten Filmemachers, wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass ihm die Ehrungen zuteil geworden wären, die er erhielt. So aber wurde die Brutalisierung von Burgess’ Buch als Kunst verstanden statt als überaus starke Effekthascherei, die nach schadenfroher Bewunderung jener schieren Gewalt riecht, die der Film behauptet abzulehnen. (The Science Fiction and Fantasy Film Handbook, S. 34)
Die indifferente Haltung des Films wird wesentlich dadurch unterstützt, dass er vollständig aus der subjektiven Perspektive von Alex erzählt. Alex’ Stimme erläutert das Geschehen in seinen eigenen Worten und Wertungen, so empörend diese auch sein mögen. Dadurch wird eine große Nähe zu Alex’ Denken und Fühlen geschaffen, das nirgends im Film kritisch ins Licht gerückt wird. Im Gegenteil: Alex’ Gewaltorgien werden geradezu als anarchische Antwort auf eine kaltherzige, gewalttätige Gesellschaft verklärt. Indem Alex durch den Staatsapparat, der in schriller (und letztlich flacher) Überzeichnung als faschistoid hingestellt wird, selbst zum Opfer von brutaler Gewalt wird und er sich später, nachdem ihm sämtliche aggressiven Affekte amputiert wurden, nicht mehr gegen eine von Rachegelüsten getriebenen Gesellschaft zur Wehr setzen kann, erscheint Alex’ brachialer Wille zur Macht nachgerade als der richtige Weg, als Auflehnung gegen ein brutales „System“, das Alex zu dem gemacht hat, was er ist. Scheinbar. Tatsächlich wird die Frage, warum Alex gewalttätig ist – ein gelangweilter, hedonistischer Spross aus der Mittelschicht –, in Kubricks Film nicht verhandelt, ebensowenig wie Alex’ Gewalttaten nirgends eine moralische Verurteilung erfahren.
Prekär ist auch die Reduzierung der Kunst auf den Ausdruck der gewalttätigen Potenziale des Menschen – und man wird dieses Problemfeld im Film nicht in den Griff bekommen, indem man, wie manche Kritiker das getan haben, einfach den Begriff „Ironie“ darüberklebt. Indem die Kunst für die Gewalt einsteht, steht sie zwar im Einklang mit dem Thema des Films, ergibt in der Wirkung jedoch eine fatalistische Sicht auf die Kunst, die ihr nicht gerecht wird und sie, wie im Falle der Musik Beethovens, sogar ungerechtfertigt diffamiert. Beethovens Musik fungiert in Uhrwerk Orange als eine feierliche Ode der Gewalt, an der sich Alex imaginär weidet. Erst in dem Moment, da Alex nicht allein mit Gewaltfilmen, sondern auch mit seiner geliebten Beethovenmusik gefoltert wird, keimt in ihm der Abscheu gegen die Gewalt – und gegen die Kunst, als seien beide miteinander äquivalent.
Die bildliche Kunst in Uhrwerk Orange ist vor allem harte Pornografie, die mit Vergewaltigungsfantasien und Freudscher Kastrationsangst verquickt wird. Überdeutlich wird dies in der Szene, in der Alex die “Cat Lady” mit einem Penis erschlägt, die Kubrick mit der kurz aufblitzenden Malerei einer mit Zähnen bewehrten Vagina zusammenschnitt. Kunst wird in Uhrwerk Orange zum ästhetischen Substrat „ultrabrutaler“ Exzesse, als seien diese die Essenz wahrer Lebenskraft.
Die Verteidiger von Uhrwerk Orange legen den Film gemeinhin als satirische Farce aus, die auf die Gewalt als elementare Grundlage jedweder menschlichen Zivilisation verweisen will. So schreibt zum Beispiel Ulrich Behrens in seiner Rezension auf Filmstarts.de:
So abscheulich das ist, was Alex und seine Bande getan haben: die ,Mörder‘ des ,freien Willens‘ [zur Gewalt, Anm. d. Verf.], der Widerstandsfähigkeit [von Alex], praktizieren nichts anderes, als aus einem Menschen eine funktionierende Maschine zu kreieren, einen disziplinierten Mechanismus, wie ihn ,die Gesellschaft‘ vermeintlich braucht. ,Die Gewalt‘ erweist sich – wie man einzelne Akte der Gewalt auch beurteilen mag – als zentrales, ja konstituierendes Moment von Gesellschaft. Sie entstammt nicht Menschen, die sich außerhalb ihrer gestellt haben, sondern ihr selbst. Existieren die Polizei, die Staatsmacht nur, weil die Gewalt besteht? Oder umgekehrt? Keines von beiden. ,Verbrecher‘ und ,Staatsmacht‘ sind zwei Seiten einer Medaille.
So richtig es ist, die Gewalt als konstituierendes Element der Gesellschaft zu entlarven, so falsch wäre es, aus dieser allgemeinen gesellschaftlichen Disposition Alex’ Gewaltexzesse abzuleiten. Warum ein Gewalttäter zum Gewalttäter wird, ist ein höchst komplexes Problem und hat oft mit Lieblosigkeit und gewalttätigen Verletzungen in der Vergangenheit zu tun – wer dagegen naiv die gewaltbereite „Staatsmacht“ oder, allgemeiner, „die Gesellschaft“ als ursächlich hinstellt, wird der psychologischen Komplexität des Problems nicht gerecht und schneidet zudem jede Diskussion darüber ab, wie aus der Gesellschaft heraus auf das Problem der Gewalt zu antworten wäre. Ist die Gewalt jedweder menschlichen Gesellschaft, ja, dem Menschen sui generis inhärent, erscheint sie theoretisch als unheilbar. Eine radikale Antwort bietet die Anarchie – nicht minder gewalttätig, aber nunmehr von allen moralischen Zwängen befreit. Es ist daher kein Zufall, dass Ulrich Behrens im Verlauf seiner Rezension auf anarchistische Denkmodelle Proudhons zugreift und seine Argumentation darauf hinausläuft, Kubricks Film als undifferenzierten Generalangriff auf sozial disziplinierende Mechanismen jeglicher Art zu interpretieren.
Kubricks Uhrwerk Orange ist eine grimmige Satire; indes ist das für seine moralische Quintessenz unerheblich. Zu durchschlagend ist der abgrundtiefe Zynismus des Gesellschaftsbildes, der sich hier satirisch maskiert. Ob der Film Alex’ anarchischem Treiben Symphatie entgegenbringt oder nicht, ist umstritten, aber letztlich irrelevant, da der Film keine Auswege offenlässt. Die Gesellschaft ist schlecht, ihre Mitglieder sind es auch; wer sich an dem bösen Spiel der Gewalt nicht beteiligt, wird untergehen. Es gibt kein Entrinnen aus diesem Kreis, und von daher, aus der perfiden inneren Logik des Films, seinem grenzenlosen, feurigen Nihilismus, ergibt sich die Sanktionierung von Alex’ Anarchie.
Bestürzenderweise haben Stanley Kubrick und Anthony Burgess selbst die Frage nach der Legitimität von Alex’ Gewalt immer wieder bejaht. So wurde Burgess nicht müde zu erklären, dass er die Ausübung brutaler Gewalt gegen andere als Ausdruck des „freien Willens“ anerkenne, die generell jedem „freien“ Menschen zugestanden werden müsse:
A Clockwork Orange war ein Versuch, eine sehr christliche Aussage über die Wichtigkeit des freien Willens zu treffen. Wenn wir den Menschen lieben sollen, werden wir auch Alex lieben müssen, obwohl er kein repräsentatives Mitglied der menschlichen Rasse ist. Wenn jemand den Film als Bibel der Gewalt interpretiert, ist er auf dem Holzweg. Das ultimative Böse ist möglicherweise die Entmenschlichung, das Abtöten der Seele. Was meine und Kubricks Parabel sagen will, ist, dass man es bevorzugen soll, eine Welt der Gewalt bei vollem Bewusstsein zu haben – Gewalt als Willensakt –, statt einer Welt, die darauf abgerichtet ist, gut oder harmlos zu sein.“ (zitiert nach Ronald M. Hahn/Volker Jansen, Lexikon des Science Fiction Films, 7. Aufl. München 1997, S. 936).
Stanley Kubrick war sich hier mit Anthony Burgess einig und erklärte unisono:
Es ist besser für das Individuum, seinen freien Willen zu behalten, selbst wenn sich dieser ausschließlich als der freie Wille zum Sündigen darstellt, statt ein Musterbeispiel mechanischer Tugend zu werden . . . Zentralthema des Films ist der freie Wille. Sind wir noch Menschen, wenn wir nicht mehr zwischen Gut und Böse wählen können? Werden wir dann, wie der Titel anzudeuten scheint, ein Uhrwerk? Die Frage gehört nicht mehr ins Reich der Science-Fiction, seit vor Kurzem Versuche über die Konditionierung und psychologische Kontrolle von Freiwilligen in US-Gefängnissen vorgenommen wurden. (zitiert ebda.)
Wenn Kubrick auch etwas kraftlos versucht hat, seinem Film mit dem Verweis auf Gehirnwäschen in amerikanischen Gefängnissen eine aktuelle Brisanz zu unterlegen, bleibt die höchst fragwürdige Moral, die sich aus Burgess’ und Kubricks Interpretation des „freien Willens“ ergibt, davon unberührt. Es liegt auf der Hand, dass der „freie Wille“ genau dort seine Grenze haben muss, wo er massiv in die freie Selbstbestimmung – den „freien Willen“ – anderer Menschen eingreift. Vergewaltigung und Mord als „freien Willen“ zu verbrämen, muss gerade für eine Gesellschaft, die sich die Verwirklichung des „freien Willens“ zum Ideal gemacht hat, ein unerträglicher Affront bleiben. Die moderne, sogenannte freiheitliche Gesellschaft, so ungerecht, problembeladen und gewalttätig sie auch immer sein mag, ist vielleicht „darauf abgerichtet, gut oder harmlos“ zu sein, wie Anthony Burgess meint – sie hat sich allerdings die Gewaltlosigkeit gegen den Mitmenschen aus guten Gründen zur moralischen Pflicht gemacht. Man mag wie Ulrich Behrens (ebda.) das „zivilisatorische Korsett“ und die „Sozialdisziplinierung“ unserer Gesellschaft beklagen und Uhrwerk Orange als „kritischen Wurf gegen die Folgen und Bedingungen der Aufklärung“ feiern – zivilisatorische Regularien bleiben dennoch eine unentrinnbare Voraussetzung aller menschlichen Gesellschaften, ob aufgeklärt oder nicht. Die Entfaltung der Freiheit des Einzelnen ist gewiss nicht das schlechteste Ideal, auf dem eine menschliche Gesellschaft aufgebaut sein kann. Diese Freiheit muss für alle Glieder der Gesellschaft gewahrt bleiben. Die Anarchie, das Recht des Stärkeren, der den Schwächeren vergewaltigt, ist die eigentliche faschistoide Gefahr; ihr einen legitimen Platz in der Gesellschaft als möglichen Ausdruck freien Willens einzuräumen kann keine Antwort auf das Problem sein, das sie darstellt. Sorry, Mr. Kubrick.
Ein Fazit
Uhrwerk Orange ist ein mitreißendes, aufwühlendes Filmerlebnis, ein grelles, genial inszeniertes Kunstwerk, das nach dem Betrachten noch lange nachwirkt und auch über 45 Jahre nach seiner ersten Aufführung noch immer zu Kontroversen reizt. Die zynische Verneinung jeglicher Moralität ist die größte Schwäche des Films, die auch durch seinen satirisch-sozialkritischen Charakter nicht abgeschwächt wird. Seine Radikalität verstört, der Zuschauer reibt sich an ihr – der Film fordert mithin zum intensiven Nachdenken und Hinterfragen heraus. Das ist eine Leistung, die schon für sich genommen einen hohen Wert darstellt und gemeinhin das gelungene Kunstwerk kennzeichnet. Wie immer man den Film interpretiert, was immer man in seinen vielschichtigen Deutungsangeboten auffindet: Kubricks Zukunftsvision fordert zum Diskutieren heraus. Es gibt nur wenig Science-Fiction-Filme, die das von sich sagen können. So kann trotz aller Kritik Uhrwerk Orange nur empfohlen werden: ein kraftvoller, grandioser Kinofilm, einer der besten Filme von Stanley Kubrick und neben Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum ein wahrer Klassiker des Science-Fiction-Kinos.
* * *
A Clockwork Orange (GB 1971). Regie: Stanley Kubrick. Produzent: Stanley Kubrick. Ausführende Produzenten: Si Litvinoff, Max L. Raab. Drehbuch: Stanley Kubrick, nach dem Roman A Clockwork Orange (1962) von Anthony Burgess. Kamera: John Alcott. Schnitt: Bill Butler. Musik: Wendy Carlos (alias Walter Carlos); Erika Eigen (zusätzliche Musik). Szenenbild: John Barry. Bauten/Art Direction: Russell Hagg, Peter Sheilds. Kostüme: Milena Canonero. Ausstattung: Frank Bruton (Leitung); Peter Hancock, Tommy Ibbetson, John Oliver (Props); Christiane Kubrick, Cornelius Makkink, Herman Makkink, Liz Moore (Malereien/Skulpturen).
Darsteller: Malcolm McDowell (Alex), Patrick Magee (Mr. Alexander), Adrienne Corri (Mrs. Alexander), Michael Bates (leitender Gefängniswärter), Warren Clarke (Dim), James Marcus (Georgie), Michael Tarn (Pete), Miriam Karlin (Cat Lady), Carl Duering (Dr. Brodsky), Paul Farrell (Tramp), Sheila Raynor (Alex’ Mutter), Philip Stone (Alex’ Vater), Clive Francis (Untermieter), Michael Gover (Gefängnisleiter), Aubrey Morris (Deltoid), Godfrey Quigley (Gefängniskaplan), Madge Ryan (Dr. Branom), Anthony Sharp (Minister), Pauline Taylor (Psychiaterin), Margaret Tyzack (Rubinstein), David Prowse (Alexanders Bodyguard Julian), Richard Connaught (Gangleader Billy Boy) u. v. a.
Companies: Warner Bros.; Hawk Films. Laufzeit: 136 Min.; Farbe. Premiere: 19. Dezember 1971 (USA); 13. Januar 1972 (GB); 23. März 1972 (Deutschland)
© Michael Haul
Veröffentlicht auf Astron Alpha am 23. März 2017
Szenenfotos © Warner Bros.