Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Heyne Science Fiction Jahresband 1982

Heyne Science Fiction Jahresband 1982. Acht Romane und Erzählungen prominen­ter SF-Autoren, zusammengestellt und herausgegeben von Wolfgang Jeschke. Wilhelm Heyne Verlag München 1982 (Heyne Band 3870). Übersetzungen ins Deutsche von Yoma Cap, Irene Holicki, Hilde Linnert, Birgit Reß-Bohusch, Walter Brumm, Wolfgang Jeschke, Peter Pape, Thomas Schichtel und Thomas Schlück. Coverbild von Jim Burns; mit Illustrationen von Themistokles Kanellakis, Mark van Oppen, Klaus D. Schliemann und John Steward. Taschenbuch, 464 Seiten.

 

„Eine opulente Palette herrlicher Leckerbissen aus dem weiten Feld der Science Fiction, diesmal noch gefälliger ausge­stattet in Satz und Papier – und noch großzügiger illustriert. Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut, Ihnen eine Freude zu machen. Greifen Sie zu!“ Wie ein stolzer Koch kredenzt uns Wolfgang Jeschke den dritten Heyne Science Fiction Jahresband im Vorwort. Der Maître hat nicht übertrieben – der 1982er Jahresband ist ein gutes Oeuvre, das ei­ne ganze Reihe pointiert geschriebener Science-Fiction-Storys enthält. Am meisten Raum nimmt C. J. Cherryhs Roman Hestia ein; die herausragenden „Leckerbissen“ jedoch sind C. L. Moores klassische Novelle „Shambleau“, Ray Bradburys Mars-Chroniken-Erzählung „April 2000: Die dritte Expedition“, Larry Nivens bittersüßer „Wechselhafter Mond“ und Arthur C. Clarkes frappierendes Kleinod „Die neun Milliarden Namen Gottes“.

 

1.  Ray Bradbury: April 2000: Die dritte Expedition

 

April 2000: The Third Expedition (1950; leicht redigierte Version von Mars Is Heaven!, erstveröffentlicht im Pulp-Maga­zin Planet Stories, August 1948); 23 Seiten. Als die dritte bemannte Expedition zum Mars zur Landung auf dem roten Planeten ansetzt, trauen die Raumfahrer ihren Augen nicht: Das Raumschiff setzt auf einer saftig grünen Wiese auf, und vor ihnen liegt ein anheimelndes Kleinstädtchen, das bis ins haarkleinste Detail so aussieht, als sei sie der ameri­kanischen Provinz der 1920er Jahre entsprungen. Zunächst spekuliert die Mannschaft, ob das Städtchen vielleicht von der ersten oder der zweiten Marsexpedition geschaffen worden sein könnte, die beide verschollen blieben. Doch bei­de Flüge liegen nicht mehr als ein Jahr zurück, sodass Captain John Black die Theorie rasch verwirft. Black beschließt, mit dem Navigator und dem Archäologen der Expedition die Stadt zu inspizieren.

 

Die Stadt präsentiert sich den Männern wie eine liebgewonnene Kindheitserinnerung: Es ist Frühling, die Sonne scheint, die Luft ist mild und alles ist friedlich. Die Raumfahrer sind außer sich vor Freude, als jeder von ihnen liebge­wonnene Verwandte antrifft, die auf der Erde schon vor Jahren verstorben sind. Die Verwandten erklären, auf dem Mars eine zweite Chance erhalten zu haben, sie würden selbst nicht wissen, wieso. Die Ankömmlinge werden einge­laden, im Städtchen bei ihren Lieben zu essen und zu übernachten, ein Angebot, das mit Freuden angenommen wird. Erst als John Black nach dem Abendessen mit seinen Eltern in seinem alten Kinderzimmer im Bett liegt, findet er die Muße, über die ganze Geschiche nachzudenken – und wird von dem unheimlichen Verdacht beschlichen, dass die Verwandten, die Häuser und die ganze Umgebung von feindseligen Marsianern nur telepathisch vorgegaukelt sein könnte . . .

 

Ray Bradbury (1920–2012) beweist sich ein weiteres Mal als Meister der pointierten weird tale. Die straffe und stilis­tisch geschliffene Erzählung, Teil von Bradburys berühmten Mars Chroniken, verfehlt auch nach über 60 Jahren und mehrfachem Lesen nicht ihre grausige Wirkung. Der Kontrast zum bösen Ende gelingt Bradbury vor allem durch die Miniatur vergoldeter, idyllischer Kindheitserinnerungen, deren Süße man auch dann nachempfindet, wenn man nicht wie Bradbury in den Zwanziger- und Dreißigerjahren aufgewachsen ist. Schlichtweg brillant.

 

2.  C. L. Moore: Shambleau

 

Shambleau (1930); 44 Seiten. Der im gesamten Sonnensystem berüchtigte Abenteurer Northwest Smith ist für ein paar Tage wegen krummer Geschäfte in der Marskolonie Lakkdarol unterwegs, einem schmutzigen Nest irdischer Siedler, in dem auch eine Handvoll Marsianer und Venusier leben. Als Smith auf einen mörderischen Mob aufmerksam wird, der ein scharlachrot gewandetes, zierliches Mädchen mit Turban verfolgt, rettet er das Mädchen und nimmt es in seinem angemieteten Zimmer auf. Das Mädchen, das sich selbst Shambleau nennt, ist keine Erdenfrau und kann nur wenige Satzfetzen sprechen; Smith kann nicht ergründen, woher es stammt. Shambleau übt mit ihren Katzenaugen, ihren spitzen Zähnen und ihrer bronzefarbenen, samtweichen Haut auf Smith eine unheimliche erotische Anziehungskraft aus; gleichzeitig empfindet Smith einen unbestimmten Abscheu bei ihrem Anblick. Shambleaus Betörung wird jedoch immer unwiderstehlicher – bis das Mädchen schließlich seinen Turban lüpft, unter dem sich abscheuliche, schleimige Würmer ringeln, die länger und länger werden und Smith zu einem tödlich-orgasmischen Mahl umfangen . . .

 

Shambleau von Catherine Lucile Moore (1911–1987) ist einer der ganz großen Klassiker der Science-Fiction-Literatur und wird noch heute völlig zu Recht hoch geschätzt. Die Autorin erzählt in einem faszinierend-poetischen Stil, stim­mungsvoll und voller farbiger Sprachbilder; ihre Schilderung des widerwärtigen Ekels, der sich mit gleichzeitigem sexuellen Verlangen mischt, ist meisterhaft. Shambleau strotzt vor schwüler Erotik, die 1933 auch in einem Pulp-Maga­zin wie Weird Tales gewagt gewesen sein dürfte. Die Erzählung greift die griechischen Mythen von Medusa und den Sirenen auf, in denen das männliche sexuelle Verlangen in den Untergang führt und die vor Sex strotzende Frau zum becircenden Dämon wird. Diese überträgt Moore geschickt in ein Science-Fiction-Milieu – und rührt dabei unter­schwellig sogar sodomistische Fantasien an. Shambleau trachtet danach, ihrem erotisch überwältigten Opfer wie ein Vampir die Lebenskraft auszusaugen – ein Motiv, das viel später Colin Wilson in seinem Roman Space Vampires (1976) und von dort ausgehend Dan O’Bannon und Don Jakoby in ihrem Drehbuch zu Tobe Hoopers Schocker Lifeforce (1985) verwendeten. Der von Moore geschilderte Mars ist indessen unverkennbar vom fantastischen Wildwest-Mars der John-Carter-Romane von Edgar Rice Burroughs geprägt. Eine großartige, noch immer lesenswerte Erzählung, der die würdevolle Patina gut zu Gesicht steht.

 

3.  C. J. Cherryh: Hestia

 

Hestia (1979); 204 Seiten. Der junge Bauingenieur Sam Merritt besucht mit einem Sternenschiff den erdähnlichen Pla­neten Hestia, auf dem sich seit Jahrzehnten eine kleine, fast vergessene irdische Kolonie von 5000 Siedlern befindet. Die Siedler haben sich in einem Flusstal niedergelassen, das jedes Jahr zur Regenzeit in schlimmen Fluten versinkt; Sam Merritt wurde herbeigerufen, damit er zur Bändigung der Hochwasser am gebirgigen Oberlauf des Flusses einen Stau­damm baut. Merritt ist anfangs von der Kolonie alles andere als begeistert: New Hope, das kleine Hauptstädtchen Hes­tias, präsentiert sich als schlammiges, heruntergekommenes Nest, und die in ärmlichen Verhältnissen lebenden Kolo­nisten, die fernab der interstellaren Verkehrsrouten höchstens einmal im Jahr von einem Sternenschiff besucht werden und meistenteils Bauern und Fischer sind, erscheinen ihm halsstarrig und hoffnungslos provinziell. Als Merritt den Job ablehnen und zur Erde zurückkehren will, wird er von den Hestianern mit Gewalt auf dem Planeten festgehalten – sie sehen in dem Ingenieur die einzige Chance zu überleben. Merritt schlägt vor, die gesamte Kolonie ins Hochland umzu­siedeln, doch die Hestianer erklären ihm, dass ein solcher Versuch glatter Selbstmord sei, da im Hochland feindselige, blutrünstige Eingeborene leben, die alle Siedler gnadenlos ausrotten würden.

 

Der Skipper Ben Amos bringt Merritt mit seinem baufälligen Kahn „Celestine“ flussaufwärts nach Burns Station, einer Siedlerfestung, die die Grenze zum Hochland der Eingeborenen markiert. In der Nähe zu Burns Station soll in einer Schlucht der Staudamm entstehen. Gegen seinen Willen, aber mit dem ehrlichen Vorsatz, den Hestianern zu helfen, macht sich Merritt an die Arbeit. Über die Monate wächst seine Sympathie zu den zupackenden Arbeitern, und mit der blutjungen Meg, der Tochter des Clanchefs von Burns Station, entwickelt sich sogar eine zarte Liebesbeziehung. Immer wieder werden die Bauarbeiten am Damm vom Volk der Ureinwohner sabotiert oder aus dem Hinterhalt ange­griffen. Eines Tages gelingt es Merritt, eine Ureinwohnerin, die durch eine Hangabsprengung zufällig verletzt wurde, gefangen zu nehmen. Sie ist nackt, hat eine humanoide, feingliedrige Gestalt, messerscharfe Fangzähne, große Kat­zenaugen und eine flaumbedeckte, braune Haut. Merritt lässt sie in Burns Station einsperren und versucht, mit ihr zu kommunizieren, da bisher niemand auf Hestia Näheres über diese Spezies weiß. Tatsächlich gelingt es ihm, nach und nach das Vertrauen des Fremdwesens zu gewinnen. Die Hestianer indessen, insbesondere Meg, betrachten Merritts Bemühen um die Wilde mit tiefem Argwohn . . .

 

Die amerikanische Science-Fiction-Autorin Caroline Janice Cherryh (geb. 1942) ist eine Meisterin spannender, action­geladener Prosa und Verfasserin einer Reihe herausragender Space Operas, von denen Pells Stern (1981) und Cyteen (1988) vielleicht die bekanntesten sind. In ihren Romanen erleben die Leser glaubwürdig fabulierte Abenteuer, die be­vorzugt an der interstellaren frontier stattfinden. Cherryhs klarer Stil findet dabei stets die richtige Balance zwischen hohem Tempo und farbiger, ausschmückender Schilderung. Ohne Klischees kommt freilich auch Cherryh nicht aus, und in Hestia häufen sich diese leider zu stark. Der Roman ist ein aufgeräumter, überraschungsarmer Western, der mit Aus­nahme der Saloonschlägerei und dem Duell auf staubiger Straße kein Klischee des Genres auslässt. Die Siedler sind knorrige, unbeugsame und freiheitsliebende Bauern, die nach einfachen, aber gerechten Regeln leben und durch ihre harte körperliche Arbeit geerdet sind. Die wettergegerbten Männer geben den rauen Ton an, während ihre patenten, Kittelschürzen tragenden Frauen sie bekochen, das Haus beschicken und sich um die Kinder kümmern. Der aus der urbanen Zivilisation kommende Fremde erlebt einen Kulturschock und muss unter großen Opfern den Argwohn der Siedler überwinden. Als Lohn werden ihm schließlich die Augen geöffnet, und er erkennt, dass sein selbstbestimmtes, persönliches Glück in der Freiheit im Grenzland liegt – wobei ihm die Entscheidung für sein neues Leben damit erleich­tert wird, dass er die treue Liebe eines hübschen, naturverbundenen Mädchens gewinnt. Verwoben ist das Ganze mit dem Pocachontas-Motiv, das in der Beziehung zwischen Merrit und der Eingeborenen eingesetzt wird.

 

Das alles ist, wie gesagt, stilsicher und überraschungsarm, aber nichtsdestotrotz fesselnd erzählt; insbesondere gegen Ende des Romans wächst die Spannung mit der Frage, ob und wie es Merritt gelingt, mit den Ureinwohnern einen Ausgleich herbeizuführen. Schade ist nur, dass der Leser eben nur einen Western und nichts darüber hinaus geboten bekommt. Die Science-Fiction-Zutaten sind verschwindend gering. So haben weder der Planet Hestia selbst noch dessen Ureinwohner irgendetwas Außerirdisches an sich. Letztlich wirkt sich das Science-Fiction-Setting kontrapro­duktiv aus: Hätte Cherryh ihren Roman tatsächlich im Wilden Westen angesiedelt, hätte das die Glaubwürdigkeit der Erzählung beträchtlich erhöht. So aber wirkt Hestia wie ein dreister Etikettenschwindel; und das hat C. J. Cherryh ei­gentlich gar nicht nötig.

 

4.  Lino Aldani: Das andere Ufer

 

Lʼaltra riva (1979); 10 Seiten. Der Krebspatient Bruce Edgeworth ist in einer kommerziellen High-Tech-Klinik an einem Flussufer auf dem lieblichen Planeten Igea eingetroffen, um sich eine neue Leber einpflanzen zu lassen. Erst vor Ort erfährt Edgeworth, wie die gentechnologische Firma, der der Planet und die Klinik gehört, an ihre Spenderorgane gelangt: Sie hat in der Wildnis auf der anderen Seite des Flusses mit den „Kindus“ ein humanoides Eingeborenenvolk gezüchtet, aus dem je nach Bedarf Individuen entfernt und für die zahlende Kundschaft „ausgeweidet“ werden. Edge­worth protestiert zunächst gegen die fragwürdige Ethik dieses Verfahrens und kündigt an, wieder abreisen zu wollen, doch aus Angst vor dem eigenen Tod gibt er schließlich nach und lässt sich schließlich doch operieren – wohlwissend, dass dafür ein Kindus sterben muss.

 

Lino Aldani (1926–2009), einer der prominentesten Autoren und Herausgeber der italienischen Science-Fiction, erzählt eine kleine horrible Fabel über die ethischen Dilemmata, selbstsüchtigen Antriebe und skrupellosen Profitinteressen, die das prekäre Thema der Organverpflanzung und Organzüchtung noch heute umstellen. Die Erzählung ist minimalis­tisch und angesichts ihrer Kürze sogar beachtlich effektiv; letzten Endes vermeidet sie jedoch eine schmerzhaftere Schilderung und verhindert damit einen länger anhaltenden Eindruck. Schließlich hat sie – selbstredend – noch nichts von der modernen Stammzellenforschung gehört, die anno 1979 noch in den Kinderschuhen steckte, und wirkt daher heute in Bezug auf ihr Thema angestaubt.

 

5.  John Brunner: Die Berendt-Umwandlung

 

The Berendt Conversion (1975); 24 Seiten. In naher Zukunft haben weltweite Hungerkatastrophen Kriege und Anarchie entfacht; selbst die Industrienationen bleiben nicht verschont und durchleiden grausame Hungersnöte. Nur allmählich konsolidiert sich wieder eine staatliche Macht. Seit ein genialer Erfinder namens Yakov Berendt ein Gerät entwickelt hat, das jede organische Materie in schmackhafte Nahrungsmittel umwandeln kann, haben die Eliten aus Politik und Wirtschaft wieder reichlich zu essen. Da das Berendt-Gerät extrem teuer ist, bleibt es den hungernden Massen vorent­halten und wird zu einem neuen Instrument der Macht.

 

Als sich ein wohlgenährter staatlicher Lebensmittelprüfer per Hubschrauber in die Provinz fliegen lässt, um einen Ver­teilungsposten für die karge Suppe zu inspizieren, mit der die Hungernden abgespeist werden, kommt ein örtlicher Polizist ins Gespräch mit dem wartenden Hubschrauberpiloten. Sie reden über Berendt, der Selbstmord begangen ha­ben soll, und spekulieren über die Gründe, die den Erfinder zu dieser Tat getrieben haben mag. Der Pilot stellt Be­rendts Arbeit generell in Frage. Denn: Hat sich seine Erfindung wirklich als Segen für die Menschheit herausgestellt?

 

John Brunner (1934–1995) zählt zu den renommiertesten britischen Science-Fiction-Autoren, der Meilensteine wie Morgenwelt (1969), Schafe blicken auf (1972) und Der Schockwellenreiter (1975) verfasste. Außerdem war Brunner seit Ende der Fünfzigerjahre politisch sehr engagiert, vor allem in der Abrüstungs- und Friedensbewegung. Sein politischer Sendungswille erweist sich in Die Berendt-Umwandlung indessen als heikel, denn die plakative Anklage liegt Brunner offenkundig mehr am Herzen als literarisches Erzählen. So empört sich Brunner gegen das Hungerproblem und dessen politische Verursachung und lässt den Hubschrauberpiloten einige drastische Fallbeispiele schildern, die aus echten Berichten von Hungersnöten aus aller Welt stammen. Das Problem ist, dass Brunners Polemik beim Leser kaum ver­fängt, da die Zukunft zu unverbindlich skizziert wird und die Figuren, die nicht einmal Namen haben, völlig blutleer bleiben. Hungersnöte sind eben keine Science-Fiction, sondern eine ständige Realität unserer Zeit. Es steht in Frage, ob der Leser das Problem eindringlicher erfährt, wenn er es fiktiv auf die eigene überfütterte Industriegesellschaft übertragen sieht. Als Erzählung jedenfalls ist Die Berendt-Umwandlung eine stumpfe Angelegenheit und bietet kaum mehr Unterhaltungswert als der schlappe Versuch einer Brandrede auf einer Podiumsdiskussion.

 6.  Larry Niven: Wechselhafter Mond

 

Inconstant Moon (1971); 39 Seiten. Stan, ein junger Schriftsteller in Los Angeles, blickt eines Abends beim Fernsehen beiläufig zum Balkonfenster seiner Wohnung und bemerkt, dass der Mond ungewöhnlich hell strahlt und die Stadt in ein zau­berhaftes Licht taucht. Zunächst bestaunt er neugierig das faszinierende Schauspiel – bis ihm aufgeht, dass der Mond das Licht der Sonne reflektiert und demgemäß die Sonnenstrahlung extrem angestiegen sein muss. Er schluss­folgert, dass ein Strahlungsausbruch der Sonne die Tagseite der Erde in sengende Glut getaucht und alles Leben auf ihr ausge­löscht haben muss. Es bleiben nur noch wenige Nachtstunden, bis die Hitze, gewaltige Stürme und eine mächti­ge Flutwelle die kalifornische Küste erreichen werden. Stan beschließt, die knappe Zeit bis zum Ende der Welt mit sei­ner Freundin Leslie zu verbringen. Er und Leslie schlafen miteinander, gehen aus, machen einen Schau­fenster­bummel und kaufen für ein letztes Picknick ein – bis die ersten schweren Stürme hereinbrechen . . .

 

Wechselhafter Mond wurde 1971 mit dem Hugo Gernsback Award ausgezeichnet, und das völlig zu Recht: Die Erzäh­lung gehört meines Erachtens zu den besten Kurzgeschichten, die das Genre zu bieten hat. Larry Niven variiert hier das klassische Thema des Weltuntergangs auf höchst romantische Art und Weise. Bestrickend ist die Poesie, die Larry Niven in das Bild des Mondes, der ungewöhnlich hell über Los Angeles strahlt, hineinlegt – ein Leuchten, das die nächtliche Stadt surreal verändert, sie elektrisiert und in eine unbestimmte Hochstimmung versetzt, und das doch, wie nur wenige ahnen, die Vernichtung der Welt ankündigt. Nivens Haupt­figuren, der junge Schriftsteller Stan und seine Freundin Leslie, werden sympathisch und glaubwürdig geschildert. Beide finden erst durch die Erkenntnis, dass die letzten Stunden unschätzbar wertvoll sind, in unverfälschter Zärtlichkeit und innigem Vertrauen zueinander. Der Mond erfüllt die ihm seit jeher zukommende Rolle und wird zum romantischen Liebesstifter, nur unter unendlich tragi­schem Vorzeichen. Hierin liegt das eigentliche Spannungsmoment der Kurzgeschichte: Nicht wie die Katastrophe he­reinbre­chen wird, nicht die zu erwartende Zerstörungsorgie interessiert den Leser, sondern die Frage, wie sich dieses junge Liebespaar und seine Umgebung angesichts des bevorstehenden Weltuntergangs verhalten wer­den. Vielleicht tun Stan und Leslie wirklich das Beste, was man in den letzten Stunden seines Lebens tun kann: Sie vermeiden bedrücken-de Fragen nach dem Sinn, soweit es geht, und sind stattdessen darauf aus, gemeinsam das Leben in seiner ganzen Sinnlichkeit zu genießen. Die konkreten Unternehmungen, die sie machen, fallen dabei nicht einmal besonders spekta­kulär aus.

 

Hier und da streut Niven trockenen Humor in die Erzählung, wodurch das Lesevergnügen zusätzlich gesteigert wird. Erst gegen Ende, als die Stürme hereinbrechen, ändert sich ein wenig der Ton. Da die Stürme nicht so heftig ausfallen wie erwartet, beginnt Stan zu zweifeln, ob das Leben auf der Erde tatsächlich völlig ausgelöscht werden wird. Niven räumt seinem Liebespaar die Hoffnung ein, die Katastrophe womöglich doch überstehen zu können, und Stan und Leslie beginnen, sich auf das Überleben in einer verwüsteten Welt einzurichten. Sie verschanzen sich in Leslies Woh­nung, horten Lebensmittel und Wasser und überlegen, was sonst noch alles zu tun sein wird, wenn die Stürme und Fluten vorbei sein werden. Das Leben nach dem Zusammenbruch der Zivilisation wird brutal sein, und der Leser fragt sich skeptisch, wie belastbar unter diesem Vorzeichen wohl die liebende Zuneigung beider Protagonisten sein wird. Larry Niven spielte hier bereits mit einem Thema, das er später zusammen mit Jerry Pournelle zum Welt­unter­gangs-Bestseller Luzifers Hammer (1977) ausbauen würde. Dort wird das Inferno nicht durch ein Sonnenflackern, son­dern durch einen verheerenden Asteroideneinschlag entfesselt. Romantik hatte dort keinen Platz mehr, und der Ro­man konzentrierte sich ganz auf den harten Sozialdarwinismus, der das Dasein der Überlebenden bestimmt.

 

Der Titel Inconstant Moon ist, passend zum romantischen Thema der Geschichte, ein Zitat aus der Balkonszene in Shakespeares Romeo und Julia (ca. 1595). Die Geschichte schaffte es sogar auf den Bildschirm: 1996 wurde sie von Brad Wright für eine Episode der Neuauflage der TV-Serie The Outer Limits (1995–2002) adaptiert.

 

7.  Walter M. Miller, jr.: Der Darfsteller

 

The Darfsteller (1954); 80 Seiten. Ryan Thornier war einst mit Leib und Seele ein gefeierter Theaterschauspieler, doch seit das klassische Theater vom sogenannten „Autodrama“ abgelöst wurde, bei dem programmierte Roboter die Schauspieler auf der Bühne ersetzen, gibt es für ihn schon lange keine Rollenangebote mehr. Seit Jahren hält Thornier sich mehr schlecht als recht mit einem Hausmeisterposten am Theater über Wasser. Der Job ist entwürdi­gend, aber für den störrischen Idealisten ist es die einzige Möglichkeit, noch irgendwie den „Brettern, die die Welt bedeuten“, nah zu sein.

 

Als im Theater das Autodrama Der Anarchist aufgeführt werden soll, ist Thornier besonders verbittert, denn die Hauptrolle des Andrejew war die letzte Rolle gewesen, die er vor zehn Jahren hätte spielen sollen – bevor die Pro­duktion wegen Geldmangels vorzeitig abgeblasen worden war. Da hat Thornier eine kühne Idee: Er macht heimlich die Bandspule für den Andrejew-Roboter, auf dem die zu spielende Rolle abgespeichert ist, unbrauchbar, und sorgt so dafür, dass die Produzentin des Bühnenstücks das Wagnis eingeht, auf ihn selbst als Ersatz zurückzugreifen. Thornier erhält eine letzte Gelegenheit, noch einmal vor großem Publikum aufzutreten. Doch das Zusammenspiel mit den an­deren Robotern ist schwieriger, als Thornier dachte – denn im Gegensatz zu ihm selbst scheinen die Roboter ihre Rollen stets vollkommen perfekt zu spielen . . .

 

Walter M. Miller, jr. (1923–1996), der mit seinem hochgelobten apokalyptischen Roman Lobgesang auf Leibowitz (1959) Weltruhm erlangte, verfasste fünf Jahre zuvor mit dem „Darfsteller“ eine sympathische, melancholisch gestimmte Er­zählung, die prompt mit dem Hugo Gernsback Award ausgezeichnet wurde. Die kurzweilige Geschichte verfolgt mit der Frage nach dem Theater der Zukunft einen originellen Ansatz und bietet mit Ryan Thornier, dem unter die Räder des „Fortschritts“ Geratenen, der sich trotzig und verbittert demselben verweigert, eine für jeden Nostalgiker unmit­telbar nachvollziehbare Figur. Thornier ist der „eiserne Gustav“ der Theaterbühne: Die tech­nische Ablösung seiner ge­liebten Schauspielkunst empfindet er als überflüssig, minderwertig und unecht; gleichzeitig kann er nicht verstehen, weshalb das Publikum die neue Form des „Autodramas“ scheinbar kritiklos favorisiert und keinerlei Sinn für seine Idea­le zu haben scheint. Dass das Autodrama seine Existenz vernichtet hat und auch aus die­sem Grund von ihm verachtet wird, ist er dagegen nicht bereit zuzugeben. Am Ende der Geschichte muss Thornier den aussichtslosen Kampf verlie­ren; es gelingt ihm weder, die Überlegenheit des menschlichen Schauspiels zu beweisen, noch den zweifelhaften Sie­geszug des Neuen ungeschehen zu machen.

 

Gewiss ist die von Miller vorgestellte technische Ausgestaltung des Autodramas antiquiert: Die Roboter agieren auf Stromschienen, die in die Bühne eingelassen sind, und bekommen magnetische Bandspulen eingelegt, auf denen ihre Rollen abge­speichert sind. Doch durch die in Spielfilmen immer häufiger eingesetzte Technik des digitalen Motion Capturing und die absehbare Entwicklung hin zu vollständig programmierten Schauspielern hat „Der Darf­steller“ eine ungeahnte neue Aktualität gewonnen.

8.  Arthur C. Clarke: Die neun Milliarden Namen Gottes

 

The Nine Billion Names of God (1953); 11 Seiten. Ein tibetanisches Kloster bestellt in Amerika eine hochmoderne Com­puteranlage. Als der Chef der Computerfirma den Auftraggeber nach dem Zweck fragt, den die Anlage erfüllen soll, erhält er eine frappierende Antwort: Der Rechner soll mittels eines entsprechenden Programms eine Liste sämtlicher Namen Gottes ausdrucken, die dem Glauben der Mönche gemäß in allen menschlichen Sprachen möglich sind. Es gibt bei der titanischen Aufgabe zwar einige philosophisch begründete Beschränkungen – so sind nur neun Buchstaben eines von den Mönchen eigens entwickelten Alphabets möglich, und kein Buchstabe darf mehr als dreimal hinter­einander vorkommen –, dennoch sind die Mönche bereits seit drei Jahrhunderten handschriftlich mit dieser Aufgabe beschäftigt, von der sie hoffen, sie mit dem Computer zu einem raschen Abschluss zu bringen. Dass die Mönche davon überzeugt sind, dass mit dem Verschriften aller Namen Gottes der Sinn des Universums erfüllt ist und folglich das En­de der Welt eintreten wird, nimmt der Computerhersteller selbstverständlich nicht ernst. Die beiden Techniker, die ein paar Monate lang damit beschäftigt sind, den Computer im Himalaya-Kloster einzurichten und am Laufen zu halten, haben trotzdem ein leicht beunruigtes Gefühl, als ihnen der Lama des Klosters erklärt, dass die Liste dank des Compu­ters schon bald vollendet sein wird . . .

 

Mit dieser betörend eleganten Miniatur beweist Arthur C. Clarke (1917–2008) ein weiteres Mal, dass er nicht nur wegen seines von dem Film 2001: Odyssee im Weltraum (1968) begründeten Ruhms zu den großen Meistern des Science-Fiction-Genres gehört. Der allerletzte Satz der Erzählung ist ein Donnerschlag, der noch lange beim Leser nachhallt. Die extrem straff gehaltene Erzählung bietet die Essenz erlesenster Science-Fiction: ein auf zukünftigen technisch-wissen­schaftlichen Grundlagen fußendes Gedankenexperiment, das konsequent durchgespielt wird und den Leser elektri­siert, indem es ihn mit ungewöhnlichen Fragestellungen konfrontiert. Hier ist diese Fragestellung – selten genug in der Science-Fiction – religiöser Natur. Was wäre, wenn die Religion – eine Religion, mindestens – sich doch auf dem rech­ten Weg befände und wirkliche Erkenntnis über den Bau und Sinn der Welt beanspruchen könnte? Und wenn allein die Beschränkung der menschlichen Hirnleistung die Offenbarung dieses Sinns bisher verhindert hätte? Immerhin: Bei genauerem Hinsehen muten die von Clarke eingebrachten Beschränkungen der Permutationen aller möglicher Namen Gottes dubios an, und zwar nicht allein linguistisch, sondern in der Tat theologisch: Wer bereits zwingend und unum­stößlich nachweisbar herausgefunden hat und also weiß, dass es nur neun gültige „Buchstaben“ der Namen Gottes gibt und einige ihrer Kombinationsmöglichkeiten ausschließen kann, hat den Bau und Sinn der Welt, so steht zu ver­muten, bereits durchdrungen, denn die Erkenntnis impliziert die weiterreichende, dass es überhaupt einen Gott gibt und dass dieser Gott unauflöslich mit seinen von Menschen begreifbaren und aussprechbaren Namen verwoben ist. Nichtsdestotrotz ist das Gedankenspiel von Clarkes „Neun Milliarden Namen Gottes“ bestechend und der umwerfende Schluss superb, sodass diese Kurzgeschichte zu den unterhaltsamsten des Bandes zählt. „Mystizismus“ nörgelt hier nur der verbohrte Naturwissenschaftler, der allein Hard-SF gelten lassen will und nicht bereit ist, über seinen Tellerrand hinaus­zudenken.

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 17. Mai 2017