Die verlorene Welt

Kinoplakat zu dem Spielfilm "Die verlorene Welt" (The Lost World, USA 1925) von Harry O. Hoyt und Willis O'Brien

The Lost World (USA 1925)

 

Regie: Harry O. Hoyt; Willis O’Brien (Trickszenen)

Drehbuch: Marion Fairfax, nach dem Roman The Lost World (1912) von Arthur Conan Doyle. Kamera: Arthur Edeson. Schnitt: George McGuire Musik: Cecil Copping (1925 New York Premiere). Bauten: Milton Me­nasco. Spezialeffekte: Willis H. O’Brien (Stop Motion), Marcel Delgado (Modellbau), Ralph Hammeras (Landschaftsminiaturen, Glass Shots)

Darsteller: Wallace Beery (Prof. Challenger), Bessie Love (Miss Paula White), Lloyd Hughes (Edward E. Malone), Lewis Stone (Sir John Rox­ton), Arthur Hoyt (Prof. Summerlee), Bull Montana (Affenmensch) u. a.

Produzenten: Earl Hudson; Jamie White (ausführender Produzent); Watterson R. Rothacker (“by arrangement with”)

Company: First National Pictures

Laufzeit: ca. 104 Min. (Original Cut); Schwarzweiß/viragiert; Stummfilm

Premiere: 2. Februar 1925 (USA); Januar 1926 (Deutschland)


 

Der exzentrische Londoner Professor Challenger erklärt seinen verblüfften Kollegen auf einer Tagung im Britischen Museum, dass die Dinosaurier doch noch nicht ausgestorben sind: Challengers Freund, der Forscher Maple White, hat, so Challenger, in den Tiefen des unerforschten Amazonasregenwalds auf einem verborgenen Hochplateau tatsächlich leben­dige Urweltechsen entdeckt! White selbst ging auf dem Hochplateau verloren; sein Expeditionsteam, dem auch seine Tochter Paula angehörte, kehrte nur mit seinem Notizbuch zurück, in dem der Forscher seine Beobachtun­gen von Dinosauriern dokumentiert hatte. In der Hoffnung, Hilfe für ihren verschollenen Vater zu finden, hatte sich Paula mit dem Notizbuch an Professor Challenger gewandt.

 

Die Wissenschaftler und die Zeitungen glauben Challenger kein Wort und haben nur Hohn und Spott für ihn übrig. Der Professor aber will eine Forschungsmannschaft zusammenstellen, um Whites Beobachtungen zu beweisen. Er fordert sein lachendes Publikum wutentbrannt heraus und fragt, wer mutig genug sei, ihn auf einer Expedition nach Südame­rika zu begleiten. Der zweifelnde Professor Summer­lee und der Großwildjäger und Abenteuer Sir John Roxton nehmen die Herausforderung an. Auch der junge Reporter Edward Malone meldet sich freiwillig, weil er mit der ge­fährlichen Expedition seiner verwöhnten und hinhaltenden Freun­din Gladys beweisen will, dass er ihrer würdig ist. Ma­lone ge­lingt es, seiner Zeitung die Expedition als spekta­kulären Knüller zu verkaufen und so ihre Finanzierung sicher­zustellen.

 

Challenger reist mit Summerlee, Roxton, Malone, Paula White und einer Handvoll angeheuerter Träger und Helfer in den südamerikanischen Dschungel. Das Team entdeckt das verborgene Hochplateau, auf dem sich tatsächlich eine urweltliche Landschaft samt Dinosauriern erhalten hat. Die Expedition staunt über die gewaltigen Echsen, doch es lauern auch vielerlei Gefahren . . .

 

Der Jurassic Park der Zwanzigerjahre

 

Harry O. Hoyts Verfilmung von Sir Arthur Conan Doyles Roman The Lost World (1912) ist ein faszinierendes Science-Fiction-Meisterwerk der Stummfilmzeit, das auch den heutigen Zuschauer bestens unterhält. Mit bis dahin beispiel­losem tricktechnischen Aufwand realisiert, markiert Die verlorene Welt einen spektakulären Höhepunkt des fantasti­schen Kinos der Zwanzigerjahre. Der eine Million Dollar teure Film wurde ein enormer Kassenschlager, und auch die Kritiker waren seinerzeit von den tricktechnischen Leistungen schlichtweg begeistert. Kein Wunder: Die verlorene Welt ist der erste abendfüllende Spielfilm der Kinogeschichte, der Dinosaurier zum Leben erweckte – und das frappie­rend wirkungsvoll. Die Faszination, die die Trickaufnahmen auf das damalige Publikum ausgeübt haben müssen, lässt sich selbst für den heutigen Zuschauer noch erahnen. Gewiss, nach heutigen Maßstäben mögen die Bewegungen der Dinosaurier oft ruckelig und drollig wirken; 1925 aber waren sie schlichtweg sensationell.

Szenenbild aus dem Spielfilm "Die verlorene Welt" (The Lost World, USA 1925) von Harry O. Hoyt und Willis O'Brien; ein Tyrannosaurus Rex und ein Triceratops
Ein Triceratops kämpft in der "verlorenen Welt" gegen einen Tyrannosaurus Rex

Die zahlreichen Trickszenen von Die verlorene Welt sind das Werk von Willis O’Brien (1886–1962), dem bedeutendsten Pionier der Stop-Motion-Animation im amerikanischen Kino. Acht Jahre später sollte Willis O’Brien mit seinen Tricks für Merian C. Coopers und Ernest B. Shoedsacks King Kong und die weiße Frau (1933) sein unübertroffenes Meisterwerk erschaffen, für das der Erfolg von Die verlorene Welt überhaupt erst den Weg geebnet hatte. Mitte der Zwanzigerjah­re war O’Brien bereits ein erfahrener Könner des Stop-Motion-Verfahrens, bei dem bewegliche Modelle von Tieren, Menschen, Autos oder sonstigen Objekten in einer Modelllandschaft Bild für Bild um wenige Millimeter bewegt und dann von der Kamera abgelichtet werden, um so mit dem durchlaufenden Film einen Bewe­gungsfluss der Modelle zu erhalten. Schon Jahre zuvor hatte O’Brien mehrere Kurzfilme von fünf bis 15 Minuten Länge hergestellt, in denen er Dinosauriermodelle im Stop-Motion-Verfahren animiert hatte: The Dinosaur and the Missing Link (1915), R.F.D., 10.000 B.C. (1917), Prehistoric Poultry (1917) und viele andere, heute leider nur noch namentlich be­kannte, verschollene Kurz­filme. Sein Dinosaurierfilm The Ghost of Slumber Mountain (1918) hatte bereits eine ursprüng­liche Länge von 45 Minu­ten, wurde zur Premiere dann aber um mehr als die Hälfte gekürzt.

 

Slumber Mountain erwies sich als außerordentlich profitabel: Bei Produktionskosten von rund 3.000 Dollar hatte der Streifen landesweit um die 100.000 Dollar wieder eingespielt. Der Film faszinierte Watterson R. Rothacker (1885–1960), Inhaber einer Firma für Filmentwicklung, sodass er sich dazu hinreißen ließ, O’Brien für die Herstellung weiterer ani­mierter Kurzfilme unter Vertrag zu nehmen. Als es Rothacker jedoch im Jahre 1922 gelang, die Filmrechte an Sir Arthur Conan Doyles Bestseller The Lost World (1912) zu erwerben, verwarf er die Kurzfilme und setzte alles daran, einen ehr­geizigen, abendfüllenden Lost World-Spielfilm zu verwirklichen. Rothacker wurde mit dem finanzstarken Filmstudio First Natio­nal Pictures einig, das die Produktion und Vermarktung des Films übernahm und überdies über die techni­schen und per­sonellen Ressourcen verfügte, die für das Projekt vonnöten waren. First National befand sich damals auf Augen­höhe mit seinen großen Konkurrenten Warner, Fox oder MGM, besaß in den USA die meisten Kinos und ließ 1924 in Burbank unweit von Los Angeles ein nagelneues, 24 Hektar großes Studiogelände für prestigeträchtige Eigen­produk­tionen er­bauen. Im November 1929 wurde die Company allerdings von Warner Bros. übernommen und 1936 auf­gelöst; nur im kombinierten Markennamen „A Warner Bros. – First National Picture“ überlebte der ehemalige Firmen­name noch bis 1958.

 

Die starbesetzte Big-Budget-Produktion Die verlorene Welt, die am Ende 14 Monate Drehzeit benötigte, gab Willis O’Brien Gelegenheit, seine Animation zu perfektionieren. Der Fluss der Bewegungsabläufe seiner Dinosaurier und ihre Interaktion untereinander handhabte er hier geschickter als noch in seinen Kurzfilmen, und auch der Sinn für bessere Kameraperspektiven und für die dramatische Inszenierung der Tiere nahm zu. Das Timing der Stop-Motion war über­zeu­gend abgestimmt, vor allem aber waren die Bewegungen der Dinosaurier sehr „natürlich“ animiert. Ihre Schwänze be­wegen sich peitschenartig hin und her, die Saurier erschrecken bei Geräuschen, weichen bei einem Angriff zurück, sto­ßen im Gegenangriff vor und ringen turbulent miteinander. Es wurde nicht mit Trickszenen gespart. 50 verschiede­ne Modelle kamen zum Einsatz, die einen bunten Reigen verschiedener Dinosaurierarten darstellten: Allosaurier, Trice­ra­topse, Tyrannosaurier, Brontosaurier, Pterodaktylen und Entenschnabelsaurier. Willis O’Brien zeigte in Die verlorene Welt erstmals auch Close-Ups der Urzeittiere, und in einer Nahaufnahme eines Allosaurus gelang es ihm sogar, mit einer Art Klebstoff Speichelfäden zwischen den aufgesperrten Kiefern des Tieres zu simulieren.

Szenenbild aus dem Spielfilm "Die verlorene Welt" (The Lost World, USA 1925) von Harry O. Hoyt und Willis O'Brien; Bessie Love, Wallace Beery, Arthur Hoyt, Lloyd Hughes und Lewis Stone
Bessie Love, Wallace Beery, Arthur Hoyt, Lloyd Hughes und Lewis Stone staunen im Dschungel über die urzeitlichen Riesenechsen

Die Modelle inszenierte O’Brien in mehreren, mit Glasmalereien ergänzten Miniaturlandschaften von etwa 1,20 Metern Breite und 1,80 Metern Tiefe, die ebenso wie die matte paintings – beispielsweise für die Seitenansicht des Hochpla­teaus mit der daneben steil aufstrebenden Felssäule – ansatzweise bereits die zauberhafte, romantische Atmosphäre der klassischen Gustave-Doré-Illustrationen des 19. Jahrhunderts atmen, die später so effektvoll auch die Miniaturland­schaften für King Kong inspirierten. Szenenbildner für Die verlorene Welt war Milton Menasco (1890–1974), der für die normal gedrehten Szenen eine superbe Arbeit ablieferte, doch der Bau der Miniaturlandschaften sowie die Herstel­lung ihrer Glasmalereien (glas shots) und matte paintings lag in den Händen von Ralph Hammeras (1894–1970) und sei­nem Team. Hammeras verdiente sich in Die verlorene Welt seine ersten Meriten als Filmtechniker und Spezialeffekte-Tüftler; später wurde er selbst zu einem versierten Szenenbildner, der an Fil­men wie Just Imagine (1930), Der große Diktator (1940), 20.000 Meilen unter dem Meer (1954), The Black Scorpion (1957) und Cleopatra (1963) mitwirkte und mehrfach für den Oscar nominiert wurde.

 

In den kleinen Modellsets schaffte Willis O’Brien, der die meisten Stop-Motion-Szenen in Alleinarbeit ausführte, pro Ar­beitstag ein Pensum von etwa 30 Sekunden Film. Das galt freilich nicht für die riesige Miniaturlandschaft von 22 Me­tern Breite und 45 Metern Tiefe, die Hammeras Team für die Inszenierung einer Dinosaurier-Massen­panik nach einem Vulkanausbruch gebaut hatte. In dieser Landschaft musste ein gutes Dutzend Dinosaurier gleichzeitig animiert werden (es sind kaum, wie oft zu lesen ist, alle 50 hergestellten Modelle, wie deutlich erkennbar ist), wodurch für diese Ein­stellungen natür­lich deut­lich mehr Zeit benötigt wurde.

 

Kameramann für Die verlorene Welt war Arthur Edeson (1891–1970), einer der angesehensten Vertreter seiner Zunft, der später zweimal mit dem Oscar ausgezeichnet wurde und bei Klassikern wie Der Dieb von Bagdad (1924), Im Wes­ten nichts Neues (1930), Frankenstein (1931), Der Unsichtbare (1933) und Casablanca (1942) hinter der Kamera gestanden hatte. Ihm gelang es, erstmals mittels eines direkt in der Kamera erzeugten, statischen matte-Verfahrens O’Briens Stop-Motion-Aufnahmen mit Aufnahmen der Schauspieler überzeugend zusammenfügen, wenn­gleich zuzugeben ist, dass die Interaktion der Schauspieler, die zumeist am unteren oder unteren rechten Bildrand erscheinen, mit den Sau­riern hier noch rudimentär bleibt. Allerdings erscheinen die zusammengesetzten Szenen im Bildeindruck perspekti­visch stimmig und „wie aus einem Guss“.

Szenenbild aus dem Spielfilm "Die verlorene Welt" (The Lost World, USA 1925) von Harry O. Hoyt und Willis O'Brien; ein Allosaurus
Ein Allosaurus bedroht das Expeditionsteam in einer gelungenen Kompositaufnahme

Für die Aufnahmen des Brontosaurus, der am Ende des Films in London Amok läuft, bedurfte es eines aufwendigeren Verfahrens mit einer bewegten Maske (travelling matte), das der Filmtechniker Fred Jackman besorgte. Bei dem soge­nannten „Williams-Kombinationsverfahren“ wurde zunächst der Dinosaurier vor weißem Hintergrund aufgenommen und dann das entstandene Negativ als Positiv mit sehr hohem Kontrast entwickelt, wobei eine bewegte schwarze Silhouette des Sauriermodells entstand. Dieses Positiv diente anschließend in der Kamera als bewegte Maske bei den Aufnahmen der Londoner Straßenszenen mit den panisch fliehenden Menschenmengen, in die schließlich in einem weiteren Belichtungsdurchgang mit dem ursprünglichen Negativ die Saurieraufnahmen passend eingefügt wurden.

 

Die Dinosauriermodelle, die nur etwa 45 cm maßen, wurden von Marcel Delgado (1901–1976) hergestellt, einem aus einer bitterarmen mexikanischen Familie stammenden, sich als Verkäufer und Kunstlehrer verdingenden Studenten, den Willis O’Brien an dessen Kunstschule kennenlernte. O’Brien war beeindruckt von Delgados Arbeiten und konnte erst nach mehreren Versuchen den anfangs widerstrebenden jungen Mann dazu bewegen, für ein Vielfaches seines bisherigen Verkäuferlohns am Set für Die verlorene Welt als Modellbauer anzufangen. O’Brien und Delgado sollten später auch für King Kong (1933), King Kongs Sohn (1933), Der Untergang von Pompeji (1935) und Panik um King Kong (1949) erfolgreich zu­sammenarbeiten. Bei der Herstellung der Dinosauriermodelle, die O’Brien für seine früheren Filme noch selbst model­liert hatte, ging Marcel Delgado neue Wege. Anstelle von O’Briens früheren Skeletten aus Holz setz­te Delgado bewegliche, mit Kugelgelenken ausgestattete Skelette aus Duraluminium ein, die er mit Schaumgummi aus­füllte und mit einer dünnen Schicht aus weichem Latexgummi überzog, die er schließlich detailliert ausformte, um ihr das faltige Aussehen von Reptilienhaut zu geben. Nicht nur die Gliedmaßen und Kiefer, auch die Augen, Augen­lider, Nüstern und Lippen seiner Modelle waren zum Teil beweglich, und um die Bäuche der Kreaturen langsam pulsie-ren zu lassen und so ihre Atmung zu simulieren, versah er einige seiner Modelle mit einem Luftsack, der über ein Ventil kon­trolliert be- und entlüftet werden konnte (Letzteres hatte Willis O’Brien allerdings auch schon in seinen Kurzfilmen gemacht).

Szenenbild aus dem Spielfilm "Die verlorene Welt" (The Lost World, USA 1925) von Harry O. Hoyt und Willis O'Brien; das Hochplateau im Stil von Gustave Doré
Die Ansicht des Hochplateaus nimmt bereits die wildromantischen Gustave-Doré-Landschaften in "King Kong und die weiße Frau" (1933) vorweg

Die Sensation des Films, damals wie heute, waren somit eindeutig die animierten Riesenechsen. Und als sei der trick­techni­sche Aufwand für die Szenen im Dschungel noch nicht genug, wartet der Film mit einem grandiosen Showdown auf, der die vorangegangenen Sequenzen im Dschungel fast noch übertrifft (dieser Schluss ist in Arthur Conan Doyles Ro­man nicht enthalten): Die Forscher kehren mit einem gefangen genommenen Brontosaurus per Schiff nach London zurück, und beim Entladen im Hafen zerbricht der Käfig der Riesenechse. Der Brontosaurus stapft durch London, und scharenweise fliehen die Menschen in den Straßen vor der Bedrohung. Der Brontosaurus wirft Laternen um, zerstört ein Gebäude und stapft schließlich auf die Tower Bridge, die unter seinem enormen Gewicht einstürzt. Der Bronto­saurus fällt in die Themse und wird von ihren Fluten in die Nordsee geschwemmt. Für diese Szenen wurden zwei Lon­doner Straßenzüge und die Tower Bridge im Modellbau nachgebaut.

 

Die verlorene Welt ist der erste spektakuläre Giant-Monster-On-The-Loose-Streifen der Filmgeschichte, und es ist offenkundig, dass seine Erzählstruktur als Vorbild für den Klassiker King Kong und die weiße Frau gedient hat. Dieser wiederum beeinflusste zahlreiche spätere Monsterfilme wie zum Beispiel Ray Harryhausens Panik in New York (1953) oder Steven Spielbergs Jurassic Park (1993).

 

Der Film lebt allerdings nicht allein von den zahlreichen Trickse­quenzen, auch wenn sowohl zeitgenössische als auch rezente Kritiken zumeist betonen, dass die eigentliche Hand­lung des Films, deren Inszenierung in den Händen von Arthur O. Hoyt (1885–1961) lag, gegenüber den Tricksequenzen nur banal und nebensächlich sei. Meines Erachtens verdient das kluge Drehbuch von Marion Fairfax (1875–1970) durchaus Anerkennung. Da National Pictures ein wenig Sorge hatte, ob Willis O’Briens Tricksequenzen auch funktionieren würden, wurde Fairfax angehalten, das Drehbuch so zu schreiben, dass es notfalls auch ohne die Trickszenen den Film tragen könne. Die Sorge erwies sich im Nachhinein als unbegrün­det, doch hatte Fairfax nichtsdestotrotz gute Arbeit geleistet. Ihr Drehbuch bietet dem Zuschauer mit dem – in Conan Doyles Roman nicht enthaltenen – Liebesdreieck zwischen dem jungen Heißsporn Malone, der schö­nen Paula und dem jovialen Sportsmann Roxton eine romantische Nebenhandlung und symphatische Identifikationsfi­guren an. Vor allem wird nicht mit Humor gespart. So ist es zum Beispiel köstlich, wie der schrullige, ältere Pro­fessor Challenger, souverän verkörpert vom damals vielgefragten Star und späteren Oscarpreisträger Wallace Beery (1885–1949), kochend vor Zorn mit Fäusten auf Malone losgeht, da er eine Abneigung gegen alle Presseleute verspürt, und sich mit ihm ringend auf dem Boden wälzt. Der Film erzählt seine Geschichte mit viel Schwung und Esprit, ist durch­gängig flott geschnitten und wunderschön viragiert, und Langeweile kommt auch abseits der Trickszenen nie auf. Die gut aufgelegten Schauspieler agieren durchweg ohne Fehl und Tadel. Besonders gut gefallen neben Wallace Beery der symphatische Lloyd Hughes (1897–1958) als der forsche Held Ed Malone und die aparte, wenn auch etwas herbe Bessie Love (1898–1986) als Paula White.

Szenenbild aus dem Spielfilm "Die verlorene Welt" (The Lost World, USA 1925) von Harry O. Hoyt und Willis O'Brien; ein Brontosaurus in London (travelling matte)
Ein Brontosaurus, mit einem travelling matte nach London versetzt

Ende Januar oder Anfang Februar 1926 kam Die verlorene Welt auch in die deutschen Kinos – in einer leicht gekürzten Fassung von etwas weniger als 90 Minuten. Die damaligen Kritiken hierzulande waren, wie zu erwarten, längst nicht so überschwänglich wie in Amerika. In einer langen Rezension, die am 8. Februar 1926 im Film-Echo, einer Beilage des Berliner Lokal-Anzeigers, erschien und die Ingo Strecker in seinem exzellenten Buch Haben Sie je­mals von KONG ge­hört? (2008) zitiert, werden nicht nur die angeblich mäßige Charakterisierung der Figuren und die als schwach angese­hene dramatische Handlung gerügt, sondern auch die Spezialeffekte, die der damalige, namentlich nicht genannte Re­zensent bizarrerweise als technisch rückständig (!) bemängelte. In der deutschen Fassung des Films wurde aus Profes­sor Chal­lenger der deutsche Professor Georg Drohmann, woran sich der offenkundig unqualifizierte und schlecht infor­mierte Rezensent besonders rieb:

 

Man gibt [dem deutschen Professor] von Anfang an etwas Ungepflegtes, vielleicht, weil man sich in Amerika die deutschen Ge­lehrten so vorstellt. Man vergisst dabei ganz, dass unsere Helden des Geistes zum Teil ebenso gepflegt und soigniert aussehen wie die Liebhaber in amerikanischen Liebesfilmen. Man muss das immer wieder betonen, weil sich aus derartigen Kleinigkeiten Ansichten herauskristallisieren, die dem Ansehen des Deutschtums nicht gerade förderlich sind. (zitiert nach Ingo Strecker, Haben Sie jemals von KONG gehört?, S. 31)

 

Der in seinem Nationalgefühl gekränkte Rezensent übersieht völlig, dass das angeblich beschädigte „Ansehen des Deutschtums“ nicht den amerikanischen Filmemachern, sondern den deutschen Textern des hiesigen Verleihers UFA anzulasten wäre.

 

Heute dagegen wird Die verlorene Welt auch von deutschen Aficionados zu Recht geschätzt. Der Film ist ein höchst empfehlenswerter Stummfilmklassiker; ein früher Science-Fiction/Abenteuer-Film, der auch nach über neun Jahrzehn­ten noch immer die gelungenste Adaption von Arthur Conan Doyles Roman darstellt (Irwin Allens Remake von 1960 ist im Vergleich dazu beinahe indiskutabel schlecht), dabei bestens unterhält und den Zuschauer staunen lässt, was trick­technisch schon damals alles möglich gewesen war – acht Jahre vor dem bahnbrechenden King Kong und die weiße Frau. Ein Highlight!

 

Die Schnittfassungen

 

Wie bei den meisten abendfüllenden Stummfilmen ist auch bei Die verlorene Welt zu bedauern, dass der Film nicht mehr in seiner ursprünglichen Gestalt überliefert ist. Als der Film im Februar 1925 in den US-amerikanischen Lichtspiel­häusern anlief, hatte der mit etwa 18 Bildern pro Sekunde gedrehte Streifen eine Länge von mehr als 9200 Fuß und eine Laufzeit von etwa 104 bis 108 Minuten (abhängig von der Projektionsgeschwindigkeit, die zu Zeiten des Stumm­films von Kino zu Kino variieren konnte). Mit Aufkommen des Tonfilms waren Stummfilme beim Publikum abgemeldet und wurden vielfach einfach vernichtet. 1929 traf es Die verlorene Welt: First National entschied, den Film landesweit zu­rückzuziehen und die originalen Kameranegative sowie alle bekannten Kopien zu vernichten. Eine nicht völlig ge­sicherte Theorie besagt, dass dies ge­schah, um den Weg für Willis O’Briens nächstes, sehr ähnliches Projekt Creation frei zu machen (das O’Brien und Harry O. Hoyt allerdings bei RKO, nicht bei First National unterzubringen versuchten). Von Creation wurden nur einige Testaufnahmen realisiert, die später allerdings Merian C. Cooper davon überzeugten, Willis O’Briens Stop-Motion-Tricks und auch seine Idee von einem gigantischen Affen, der mit Dinosauriern kämpft, in einem anderen Film zum Einsatz zu bringen: King Kong und die weiße Frau (1933).

 

Zu derselben Zeit autorisierte First National die Kodascope Libraries Inc., Die verlorene Welt in einer auf etwa 55 Minu­ten verkürzten Version auf 16mm-Film als Lehrfilm an Schulen, Kirchen und Institutionen zu vertreiben. Dieser Cut, der fast alle Spezialeffektszenen enthält, aber die Realfilmhandlung stark beschneidet, bot über Jahrzehnte die einzige öffentlich zu sehende Version des Films. Das für die Herstellung der 16mm-Kopien von Kodascope erstellte 35mm-Ne­gativ wurde erst in den Fünfzigerjahren im Fotografie- und Filmmuseum am George Eastman House (seit 2015 George Eastman Museum) in Rochester (New York) wiederentdeckt. Daneben existierten in verschiedenen Universitätsarchi­ven und Privatsammlungen noch eine Handvoll kleinerer 35mm-Filmfragmente von wenigen hundert Fuß Länge.

Szenenbild aus dem Spielfilm "Die verlorene Welt" (The Lost World, USA 1925) von Harry O. Hoyt und Willis O'Brien; mehrere Raubsaurier
Nach einem Vulkanausbruch laben sich mehrere Raubechsen an den verendeten Opfern der Naturkatastrophe

Der sensationellste Fund für die Wiederherstellung des Films ereignete sich 1992, als im Nationalen Filmarchiv der Tschechischen Republik in Prag eine nahezu vollständige 35mm-Kopie von Die ver­lorene Welt entdeckt wurde, die einst vom originalen Export-Negativ gezogen worden war (jenes Negativ stammte von einem Kameranegativ ab, das nach einer seinerzeit üblichen, kostensparenden Verfahrensweise bei den Dreharbeiten mit einer parallel aufgestellten Kamera aufgenommen worden war; es bietet daher geringfügig unterschiedliche Perspektiven auf das Bild). Die tsche­chische Kopie trug ei­ne gute halbe Stunde Material zum Film hinzu, das bis dahin als verschollen galt. Mit ihrer Hilfe schuf das George East­man House 1998 eine nahezu vollständige Restauration von 8000 Fuß Filmlänge und 100 Minu­ten Laufzeit, die dann allerdings nicht auf DVD veröffentlicht wurde. Als 1999 die Filmrestauratoren David Shepard (1940–2017) und Serge Bromberg (geb. 1961) vom TV-Sender Arte nach einer restaurierten Fassung von Die verlorene Welt gefragt wurden, die im Fernsehen ausgestrahlt werden könnte, und ihnen kein Zugriff auf die Eastman-House-Restauration gewährt wurde, entschlossen sie sich, mit ihren eigenen Firmen Film Preservation Associates (Hat Creek, CA) und Lobster Films (Paris) eine eigene, gewissenhaft restaurierte Schnittfassung zu erstellen, die im Jahre 2000 mit einer Laufzeit von 93 Minuten vollendet wurde.

 

Auf DVD sind heute vor allem die etwa eine Stunde lange Fassung, die auf den alten, gekürzten Kodascope-Lehrfilm zurückgeht, und die 2001 veröffentlichte 93-Minuten-Fassung von Shepard/Bromberg verbreitet – erstere auf zahlrei­chen, nicht gemasterten Billigaus­gaben, letztere auf hochwertigen US- und UK-Editionen, die ein gemastertes Bild, zwei verschiedene Musikunterma­lungen von Robert Israel und dem Alloy Orchestra, einen Audiokommentar von Roy Pilot und als Bonus ca. 13 Minuten nicht verwendete Originalszenen enthalten. 2010 ist auch eine hochwertige deut­sche Edition er­schienen, die mit der englischsprachigen identisch ist und um zusätzliche deutsche Untertitel ergänzt wurde. Im Sep­tember 2007 erschien endlich auch die George-Eastman-House-Restauration auf DVD, und zwar in der amerikanischen 2-Disc-Edition von Irvin Allens Remake Versunkene Welt (1960), herausgegeben von 20th Century Fox; der Stummfilm­klassiker ist dort als Bonusdisc enthalten. Der Film hat dort jedoch nur eine Länge von 76 statt 100 Mi­nuten, da beim Transfer auf die DVD nicht die originale Abspielgeschwindigkeit von etwa 18 Bildern/Sekunde einge­halten wurde. Der Film eilt stattdessen mit den heute üblichen 24 Bildern/Sekunde über den Bildschirm und ist dem­entsprechend auf 76 Minuten Spieldauer verkürzt. Begleitet wird er von einem auf einer Kinoorgel gespielten Score von Philip Carli. 

Cover der Bluray-Ausgabe von "The Lost World" (USA 1925) von Flicker Alley (2017)
Cover der Bluray-Ausgabe von Flicker Alley (2017)

2016 erstellte Serge Bromberg mit Lobster Films eine neue, nochmals ver­besserte Restauration, die ein paar neue, in­zwischen aufge­tauchte Frag­mente von insgesamt etwa acht Minuten Länge der älteren Restauration hinzufügte. Mit dem nach 2001 neu aufgetauchten Material – insbesonde­re vier Filmspulen originaler Vorführkopien – konnte neben den Ergän­zun­gen des Films selbst die originale Viragierung des Films besser einge­schätzt und entsprechend reprodu­ziert werden; auch überlieferte das neue Material einige bisher verschollene Aufnahmen der Zwischentexte. Im Sep­tember 2017 ist diese neue, in 2K-Auflösung digital gemasterte Restauration, die nunmehr als die kompletteste Version des Films mit dem vergleichbar besten Bild angesehen werden kann, vom Label Flicker Alley in einer (regionalfreien, somit auch mit europäischen Abspielgerä­ten kompatiblen) Bluray-Ausgabe veröffentlicht worden, die neben ei­nem Booklet, einem Audiokommentar von Nicholas Ciccone, den nicht verwendeten originalen Trickaufnahmen und einem neuen, orches­tralen und sehr dramatischen Soundtrack von Robert Israel auch die beiden Willis-O’Brien-Filme R.F.D., 10.000 B.C. (1917), The Ghost of Slumber Moun­tain (1918) und die überlieferten Testaufnahmen von Creation (1929) ent­hält. Die Laufzeit des Hauptfilms beträgt hier jetzt 104 Minuten; der Film ist aber gleichwohl immer noch nicht voll­ständig. Das irritiert zunächst, da der Film in sei­ner ursprünglichen Fassung eine Vorführdauer von etwa 104 Minuten gehabt hatte. Aber abgesehen von verschiede­nen Unsicherheiten in der Rekonstruktion des Filmschnitts fügten Shepard und Brom­berg am Anfang des Films noch zusätzliche Auf­nahmen von Sir Arthur Conan Doyle ein, die 1927 für einen Movietone-Sound-Kurzfilm ent­standen waren und demge­mäß nie zur ursprünglichen Premierenfassung gehört haben. In allen drei modernen Res­tau­rationen beschränken sich die meisten Fehlstellen auf geringere Schnittverluste an Szenenanfängen oder -enden oder auf be­schädigte Enden von Filmrollen. Die wichtigste Szene, die in allen Res­taurationen noch immer fehlt und für die Konti­nuität des Films von Belang ist, ist der Angriff eines Kannibalenstammes auf das Expeditions­team, nachdem es mit mehreren Kanus einen Flusslauf entlang gerudert ist. Nach dem Angriff weigern sich die Helfer und Träger, tiefer in den Dschungel vor­zudringen, und bis auf die zwei treuen Diener, die im weiteren Verlauf des Films zu sehen sind, verlas­sen sie das Team und kehren um. So erklärt sich, warum die Expedition plötzlich soviel we­niger Helfer bei sich hat.

 

Umfassende Informationen zu den verschiedenen Schnittfassungen finden sich im Internet im DVD Journal; zur 2-Disc-Edition von 2007 und dem enthaltenen George-Eastman-House-Cut sind die Rezensionen von DVDtalk und Animated Views instruktiv. Carl Bennett auf der Webseite Silent Era schließlich bietet einen höchst informativen, detaillierten Überblick über die bisher erschienenen DVD-Ausgaben des Films und die bislang einzige Bluray-Ausgabe von Flicker Alley. Eine instruktive Besprechung der technischen Seite der Bluray bietet überdies die Webseite DVDBeaver.

 

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The Lost World (USA 1925). Regie: Harry O. Hoyt; Willis O’Brien (Trickszenen). Drehbuch: Marion Fairfax, nach dem Roman The Lost World (1912) von Arthur Conan Doyle. Kamera: Arthur Edeson. Schnitt: George McGuire. Musik: Cecil Copping (1925 New York Premiere); Frank S. Truda (Musikdirektor); R. J. Miller (1991 Lumivision Video Release); Robert Israel mit dem Alloy Orchestra (2000 Sheperd/Bromberg Restauration); Philip Carli (2007 DVD-Release der George Eastman House Restauration von 1998); Robert Israel mit Orchester (2017 Bluray-Release der 2016 Shepard/Bromberg Restauration). Spezialeffekte: Willis H. O’Brien (Stop Motion), Marcel Delgado (Modellbau), Ralph Hammeras (Land­schaftsminiaturen, Glasmalereien, matte paintings), Milton Menasco, Joseph Leeland Roop, Cleo E. Baker. Makeup: Cecil Holland (Affenmensch); Perc Westmore. Affenkostüm: Charles Gemora. Chef-Techniker: Fred W. Jackman. Kame­ra-Assistenz: Roy Carpenter.

Darsteller: Wallace Beery (Prof. Challenger), Bessie Love (Miss Paula White), Lloyd Hughes (Edward E. Malone), Lewis Stone (Sir John Roxton), Alma Bennett (Gladys Hungerford), Arthur Hoyt (Prof. Summerlee), Margaret McWade (Mrs. Challenger), Bull Montana (Affenmensch), Frank Finch Miles (Austin, Challengers Butler), Jules Cowles (Zambo, Roxtons Assistent), Charles Wellesley (Major Hibbard), Leo White (Percy Potts), Arthur Conan Doyle (als er selbst) u. a.

Produzenten: Earl Hudson; Jamie White (ausführender Produzent); Watterson R. Rothacker (“by arrangement with”). Company: First National Pictures. Laufzeit: ca. 104 bis 108 Min. (Original Cut); ca. 55 Min. (Kodascope Cut); 64 Min. (1991 George Eastman House Cut/Lumivision Video- und Laserdisc Release); 100 Min. (1998 George Eastman House Restaura­tion); 93 Min. (2000 Shepard/Bromberg Restauration); 76 Min. (2007 DVD Release der 1998 George Eastman House Res­tauration); 104 Min. (2016 Shepard/Bromberg Restauration/2017 Flicker Alley Bluray Release). Schwarzweiß/viragiert; Stummfilm. Premiere: 2. Februar 1925 (USA); Januar 1926 (Deutschland).

 

 

© Michael Haul

Veröffentlicht auf Astron Alpha am 29. Dezember 2017